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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.01.2001

Der Fremde im Zug
Aufgepaßt, Brüder! Der Mitreisende ist immer der Mörder

So ein Buch will man wirklich nur aus der Feder eines Österreichers lesen: "Mord-Express" heißt es. Und es braucht einfach das kakanisch Morbide, das man bei unseren südlichen Nachbarn immer noch zuverlässig findet, jene Sehnsucht nach der schönen Leich', die in melancholischen Sätzen resultiert wie: "Menschen sind in nicht mehr lebendigem Zustand nur sehr begrenzt lagerfähig, wenn nicht überaus kostspielige und aufwendige Mittel dagegen angewendet werden, die keineswegs in jedem Haushalt zur Verfügung stehen."

Geschrieben wurde dieser Satz von Peter Hiess und Christian Lunzer - in der Tat zwei Österreicher, die schon vor acht Jahren mit dem Buch "Die Mordschwestern" einschlägige Erfahrungen als kriminalistische Berichterstatter gesammelt haben. Nun haben sie ihrer Begeisterung für die Eisenbahn freien Lauf gelassen und ein Werk zusammengestellt, das nicht nur einige der spektakulärsten Verbrechen dokumentiert, die auf Schienen stattgefunden haben, sondern auch en passant eine kleine Kulturgeschichte des Zugverkehrs liefert - in Form von kleinen Zwischenkapiteln, die sich so reizvollen Themen wie dem Waggonbau, den Tunnelkonstruktionen, amerikanischen Eisenbahntramps und manchem mehr widmen, meist kaum zehn Seiten lang und immer unter besonderer Berücksichtigung des Verbrechenspotentials der jeweiligen Objekte.

Was verstehen Spießer wie wir von den Freuden des freien Mörderberufes? Etwa von Menschen wie Sylvester Matuschka, der sich schon immer einmal gewünscht hatte, einen Zug entgleisen zu lassen, und schließlich in den dreißiger Jahren diesem rätselhaften Verlangen gleich mehrfach nachgab? Oder von Johann Schmidt, der 1859 ein ganz neues Genre begründete ("vielleicht allzu sehr dem neuen technischen Wunder Eisenbahn vertrauend", wie die Autoren mit leicht skeptischem Unterton berichten): den Koffermord, der darin besteht, die Leiche des Opfers per Zug in alle Welt expedieren zu lassen? Und wer hätte je die Schwierigkeiten just dieses neuen Gewerbes bedacht, als der Schrankkoffer schließlich außer Mode geriet? Zumal die bedauernswerten Herren Mörder - eine Dame findet sich nur einmal im ganzen Buch als mögliche Täterin, und ausgerechnet dieser Fall wurde nie aufgeklärt - mit ihrer Koffertaktik auf eine Institution treffen, die ihren Ehrgeiz darein setzt, daß ein plötzlich herrenloses Gepäckstück zuverlässig wieder zum Absender zurückfindet, denn "das spurlose Verschwinden von Frachtgut lief dem Selbstverständnis des ganzen Systems zuwider".

Ja, so kann man über Morde auch schreiben, zumal wenn seitdem eine lange Zeit verstrichen ist. Doch das Buch beginnt mit einem italienischen Serienmörder, der 1998 sein Unwesen trieb, und endet mit einem amerikanischen Kollegen, der erst im vergangenen Jahr dingfest gemacht werden konnte. Da schleicht sich aus den Schilderungen plötzlich jene Angst in die Eingeweide des lesenden Bahnfahrers, die Hiess und Lunzer für den Beginn der Eisenbahnepoche beschrieben haben, als die Fahrgäste in Abteilen Platz nehmen mußten, die nur einen einzigen Ausgang nach draußen hatten und somit während der Fahrt nicht verlassen werden konnten. Dort war man dem übelwollenden Mitreisenden selbstverständlich hilflos ausgeliefert.

Hitchcock hat einige Filme über Verbrechen in der Eisenbahn gedreht, Melville gar mit seinem Zugüberfall aus "Der Chef" die vielleicht schönste Verbrechenssequenz in der Geschichte des Kinos überhaupt. Doch von solchem Reich der Phantasie schweigen Hiess und Lunzer. Bei ihnen kommt nur die Realität zur Sprache; bisweilen etwas redundant, nach zweihundert Seiten auch ein wenig ermüdend, aber immer wieder mit diesem beiläufigen österreichischen Charme, den nur Böswillige als Zynismus lesen werden.

ANDREAS PLATTHAUS

Peter Hiess, Christian Lunzer: "Mord-Express". Die größten Verbrechen in der Geschichte der Eisenbahn. Deuticke Verlag, Wien 2000. 301 S., Abb., geb., 38,- DM.

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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Ulrich Noller hat offenbar großen Gefallen an diesem Buch gefunden, in dem zahlreiche Verbrechen in Eisenbahnen "im Reportagestil" aufbereitet werden. Die Autoren haben dazu, wie der Leser erfährt, zahlreiche "Gerichtsakten, Archive und Chroniken" durchforstet und dabei, wie der Rezensent feststellt, recht beeindruckende Geschichten und Ergebnisse zutage befördert. Als Beispiel nennt er unter anderem die schwere Zug-Explosion bei Torbagy (1931), bei der sich der Attentäter letztlich als Lustmörder entpuppt hat. Lustmorde im Zusammenhang mit Eisenbahnen habe es häufig gegeben, referiert Noller, doch noch zahlreicher seien Verbrechen aus wirtschaftlicher Not gewesen. Besonders "anrührend" hat der Rezensent dabei die Geschichte eines Eisenbahnerpressers von 1975 gefunden, der von seiner Kriegsinvalidenrente seine vier Kinder nicht mehr ernähren konnte und versprach, die erpressten 100 000 Mark inklusive Zinsen "innerhalb eines Jahres" zurückzuzahlen.

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