Marktplatzangebote
7 Angebote ab € 4,00 €
Produktdetails
  • Verlag: Europa Verlag
  • Seitenzahl: 255
  • Abmessung: 210mm
  • Gewicht: 406g
  • ISBN-13: 9783203800646
  • ISBN-10: 3203800640
  • Artikelnr.: 08960970
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.02.2001

Ich kenn den Weg ins Grab . . .
Die Kulturgeschichte des Freitods ist mehr als eine Frage der Soziologie, sie findet auch auf der Leinwand und auf der Opernbühne statt
Ist deine Mama da?” – „Sie schläft an der Decke. ” Der Kommissar folgt dem kleinen thailändischen Mädchen in die Wohnung. Ja, ihre Mama schläft tatsächlich an der Decke. Sanft schlängelt sich ein Rauchfaden zwischen den Beinen hindurch unter ihren Rock. Sie muss das Räucherstäbchen entzündet und dann den Stuhl bestiegen haben. Selten sah man eine Erhängte so still-poetisch baumeln wie in dem Tatort Frau Bu lacht.
Sich dem Strick anzuvertrauen, gilt als eine der sichersten Eigentötungsarten. Wer die Rasierklinge wählt, dem gebricht es vielleicht zuletzt an Schmerztoleranz, Tabletten können die erwünschte Wirkung versagen, Pistolen verfehlen nicht selten die lebenswichtigen Organe, Bäume an Landstraßen sind unberechenbar. Eine entscheidende Frage bleibt immer, ob der frei gewählte Tod auch in der Wahl seiner Mittel frei ist. Suizidanten früherer Jahrhunderte waren oft auf Nahrungsverweigerung, Abgrundstürze oder Ertränken angewiesen, wenn sie nicht die indirekte Methode vorzogen, sich entweder als Märtyrer oder im Krieg abschlachten zu lassen.
Im Laufe der Geschichte wurde der Mensch aber auch darin erfindungsreicher, wie er seinem Leben ein Ende bereiten konnte oder (auf Befehl) musste. Mit Messern, Säbeln, Dolchen, Klingen, Glasscherben und Bambussplittern lernte er, sich die Pulsadern aufzuschneiden oder die Kehle zu durchtrennen. Er entwickelte rituelle Sonderformen wie Duell, Harakiri und Kamikaze, ließ sich lebendig begraben oder einmauern. Mehr oder weniger zwanglos bestieg er Scheiterhaufen oder machte sich zur lebenden Fackel. Er rannte feindlichen Soldaten in die Bajonette, warf sich in elektrische KZ-Zäune und vor U-Bahnzüge. Mit der größeren Kenntnis der chemischen Zusammensetzung seiner Umwelt gelang es ihm, immer mehr giftige Geheimnisse zu entdecken, so dass ihm vom Schierling über Fischgalle bis zu Insektiziden, Zyankali und Barbituraten vielfältiger Tod zur Verfügung stand. Mit den modernen Waffen Pistole, Granate und Auto kamen Werkzeuge dazu, die eine hohe Erfolgsquote versprachen.
Ob sich heute mehr Menschen das Leben nehmen als früher, ist ungewiss. Die Historiografie stößt gerade bei diesem Thema auf eine Fülle von Tabus, Verschleierungen und Tilgungen. In seiner „Kulturgeschichte des Suizids” unter dem Titel Von der Freiheit, das Leben zu lassen versucht Gerd Mischler trotzdem, die never ending story des menschlichen Triebs zum Tode zu referieren: Konnte man im Altertum gemäß der stoischen Lehre noch mit Würde in den (freilich oft erzwungenen) Freitod gehen, sind alle Länder und Epochen mit christlicher Prägung von Ächtung, Dämonisierung, Verdrängung und Verdammung des Suizids gekennzeichnet. Über Jahrhunderte hinweg habe jene Doktrin des Thomas von Aquin unangefochten gegolten, nach der Selbstmord Todsünde sei. Erst „zwischen Reformation und Französischer Revolution verliert die Selbsttötung allmählich das Stigma eines religiösen Frevels”. Mischler führt berühmte Selbstentleiber von Petron bis Améry auf, er beleuchtet das Suizidverhalten bei Indianern, Afrikanern, Südsee-Insulanern und Japanern, im Hinduismus und Buddhismus. Er gibt Statistiken wieder, die davon sprechen, dass man sich im viktorianischen England „vorzugsweise am Dienstag zwischen acht und zehn Uhr morgens” umgebracht habe, „in allen europäischen Ländern” gehäuft „zwischen April und Juli”.
Indes: Nicht die reale Präsenz des Suizids innerhalb einer Epoche lässt sich später rekonstruieren, nur sein Widerschein im öffentlichen Leben, in den Künsten und Medien. Wie eine Gesellschaft mit Selbsttötung umgeht, lesen wir ihren Gesetzen und Glaubenssätzen, aber auch ihren Zeitungen, ihren Romanen, ja ihren Opern ab. So holte beispielsweise erst das um mehr Liberalität kämpfende 19.  Jahrhundert den Selbstmord auf die Singbühne. Starb man von Monteverdi über Händel und Gluck bis hin zu Mozart noch den Heldentod, wurde vom Höllenrachen verschlungen oder sublimierte echtes Ableben durch eine rechtzeitige Ohnmacht, aus der man zum Happy-End erwachte, so durfte man später richtig Hand an sich legen. Wer die Uraufführungsdaten Revue passieren lässt, erstaunt über die Suizidhäufung.
Erstmals am 29.  Februar 1828 stürzt sich Fenella, Die Stumme von Portici, in der Oper Daniel François Esprit Aubers von einem Felsen ins Meer, 1831 besteigt Bellinis Norma in Mailand den Scheiterhaufen, Edgard stößt sich 1835 den Dolch wegen Lucia aus Lammermoor in die Brust und Senta fliegt 1843 ihrem Holländer nach, indem sie vom Felsen ins Meer hüpft. Eine neue Todesart kommt auf, als Leonore anno 1853 Gift aus einem Ring saugt (Verdi, Der Troubadour), zwei Jahre später wird es dem Regisseur überlassen, in welcher Art sich Elena in der Sizilianischen Vesper selbst den Tod gibt. Dann stürzt sich wieder eine Frau vom Fels ins Meer – Leila 1863 in Bizets Perlenfischern. Das Jahr 1865 sieht gleich zwei Selbstmörder: Königin Selica atmet den giftigen Hauch des Manzanillobaums ein (Meyerbeer, Die Afrikanerin) und Tristan wirft sich ins gezückte Schwert Melots. 1872 verschmachtet Aida bei Radames im vermauerten Verlies, 1876 erdolcht sich La Gioconda, zehn Jahre später wählen Dosifey und Marfa zusammen mit ihren Altgläubigen in Mussorgskijs Chowanschtschina den freiwilligen Flammentod. Im Jahr 1890 schließlich der traurige Rekord: In St. Petersburg ertränkt sich Lisa in der Newa, worauf sich ihr Geliebter Hermann ein Messer in die Brust stößt (Tschaikowsky, Pique Dame), in Troja gibt sich – zumindest bei Berlioz – Kassandra selbst den Tod, um nicht in Feindeshand zu fallen. 1896 besteigt Madeleine freiwillig mit ihrem Geliebten die Guillotine (Giordano, André Chénier), und das neue Jahrhundert beginnt stilecht damit, dass Tosca sich von der Brüstung der Engelsburg stürzt. Nach dem märchenhaften Tod, den sich der Prinz 1901 bei Rusalka durch Küssen holt, haucht die Gattung ihr Leben vorläufig in einem der unschönsten Operntode aus: Zu blutig ist 1904 das Kehledurchschneiden der Madame Butterfly – es wird mit einen Wandschirm verborgen.
Leider lässt sich Mischler Zeugnisse solcher Provenienz entgehen. Dass er uns die Rezeption des Phänomens Selbsttötung in bildender Kunst, Musik, Film und Volkskultur schuldig bleibt, mag angesichts seiner interessanten Fallsammlung verschmerzt werden. Schwerer wiegt da unausgegorenes und klischeeverhaftetes Denken, so wenn er (der löblicherweise für „das Recht auf den Freitod” streitet) sich nicht versagen kann, den Selbstmord der „Politverbrecher” Hitler, Goebbels, Göring, Himmler als „feige” zu charakterisieren. Auch wie es dem Autor auf zwei Druckseiten gelingt, die Komplexe „romantische Poesie, feudal-absolutistische Wirklichkeit, Werther, Kabale und Liebe, Lessings Selbstmorddrama Emilia Galotti, Sturm und Drang, Nachtseiten der menschlichen Seele, Aufklärung, Empfindsamkeit, frühkapitalistische Wirtschaftsordnung” heillos zu mischlern, ist bemerkenswert.
Schließlich begeht er einen entscheidenden Fehler und lässt sich viel zu sehr von Gewährsleuten beeindrucken. Keine Frage, Georges Minois schuf mit seiner Geschichte des Selbstmords ein Standardwerk – das man mehr als oft benutzen darf. Aber nicht, wenn es weit bessere Quellen gibt, etwa bei der Literatur der Goethezeit oder bei der Interpretation von Statistiken! Natürlich ist es ebenfalls opportun, einen der Väter der Soziologie, Emile Durkheim, mit seinem Selbstmord-Buch von 1897 zu zitieren. Doch darf es als peinlich bezeichnet werden, wenn man noch anno 2000 dessen Wissenschaftsbeugung ignoriert. Für Le suicide deutete sich Durkheim heterogene Daten und Fakten rund um den Selbstmord so lange zurecht, bis sie seine These von der Omnipräsenz gesellschaftlicher Strukturen auch bei individuellen Phänomenen stützten. Sein ausschließliches Verfahren der Deduktion, ob aus Todesfall-Tabellen oder Romanen, erlaubte ihm die Begründung einer Wissenschaft auf der Basis der Spekulation. Alle außergesellschaftlichen Faktoren wie Vererbung, Konstitution, Psyche oder physische Umwelt leugnete er mit Hilfe der soziologischen Brille, die er selbst entwickelt hatte und nie wieder absetzte. So gelang es ihm zu beweisen, was er sich zu beweisen vorgenommen hatte: dass ausschließlich in der Gesellschaft die Ursachen für Suizide zu suchen seien.
All das hätte Mischler in Gerhard Hards gründlicher Studie zu Selbstmord und Wetter – Selbstmord und Gesellschaft finden können (Studien zur Problemwahrnehmung in der Wissenschaft und zur Geschichte der Geographie, Steiner, Stuttgart 1988). Dieses Buch hätte ihn auch gelehrt, dass die bislang behaupteten signifikanten Zusammenhänge zwischen bestimmten Tages- oder Jahreszeiten und Selbstmordraten konstruiert sind. „Sei ein Mann und folge mir nicht nach”, möchte man Emile Durkheim an Mischler gewendet in den Mund legen, wie es schon Goethe seinem selbstentleibten Werther postum in den Mund legte.
Und wenn man dem alten Werther nun doch nachfolgen will? Man könnte sich einen contract killer anheuern, wie in Aki Kaurismäkis Film. Den dunklen Gast könnte man umwerben, anbeten, beschwören, herbeiziehen, sich ihm anverloben, sich ihm gatten gar. Pamina macht es vor, wenn sie im Augenblick größter Verlassenheit zu dem Dolch in ihrer Hand spricht: „Du also bist mein Bräutigam? / Durch dich vollend ich meinen Gram! . . . Geduld, mein Trauter, ich bin dein; / Bald werden wir vermählet sein. ” Zwar warnen die Drei Knaben das Mädchen „Selbstmord strafet Gott an dir”, doch Liebeskummer und Todessehnsucht haben von ihr Besitz ergriffen. Anders als Papageno, der sich nur zu leicht vom Halszuschnüren am Baum abbringen lässt, ist es Pamina todernst: „Gut, ich kenn’ den Weg ins Grab!” singt sie in einer Variante des Schikanederschen Librettos am Ende ihrer bittersüßen Arie „Ach ich fühl’s, es ist verschwunden”. Aber wir sind bei Mozart, die Freundin Taminos lässt gerade noch vom Selbsterstechen ab, emanzipiert sich, überwindet Feuer- und Wasserfluten – und aller Schrecken hat ein Ende: „Die Strahlen der Sonne vertreiben die Nacht . . .”
GUDRUN SCHURY
GERD MISCHLER: Von der Freiheit, das Leben zu lassen. Kulturgeschichte des Suizids. Europa Verlag, Hamburg Wien 2000. 255 Seiten, 34,50 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Regula Venske bespricht in einer Mehrfachrezension vier Bücher, die sich mit dem Thema Suizid befassen.
1.) Ebo Aebischer-Crettol: "Aus zwei Booten wird ein Fluss" (Haffmans)
Venske bezeichnet diesen Band als ein "hilfreiches Buch" für Betroffene und ihre Angehörigen. Besonderer Pluspunkt scheint für sie zu sein, dass der Autor ursprünglich Chemiker war und später Pfarrer und Seelsorger wurde. Und so werden, wie der Leser erfährt, sowohl biochemische Aspekte und Mangelzustände besprochen, aber auch "psychologische und allgemein menschliche" Seiten des Suizids. Zwar findet Venske die Darstellung bisweilen ein wenig ungeschickt, doch wird dies ihrer Ansicht nach durch die "Fülle des Materials, die gedanklichen Begegnungen und die durchdrungene Lebenserfahrung" wieder wettgemacht. Aebischer-Crettol geht, wie die Rezensentin anmerkt, sehr einfühlsam auf die Sorgen Betroffener ein und widmet sich auch dem Tabu, das das Thema immer noch umgibt.
2.) Gerald/Völkel/Weyershausen: "Das Lexikon der prominenten Selbstmörder" (Schwarzkopf & Schwarzkopf)
Diesem Buch kann die Rezensentin nichts abgewinnen, und deshalb hält sie sich auch nur kurz damit auf. Zum einen stört sie sich an dem Spekulativ-Reißerischem, zum anderen weist sie auf die fragwürdige Auswahl der Persönlichkeiten hin, denn sogar Salvador Allende wird hier in die Liste der prominenten Selbstmörder mit aufgenommen. Am schlimmsten jedoch findet sie, dass die Herausgeber 300 Persönlichkeiten "fröhlich enttabuisiert im Freitode" vereint haben und die "Verzweiflung der Betroffenen frivol zu einem Kuriosum degradierten".
3.) Kay Redfield Jamison: "Wenn es dunkel wird" (Siedler)
Venske weist zunächst darauf hin, dass die Autorin Professorin für Psychiatrie ist und hier ihre Erfahrungen mit psychisch Kranken, aber auch mit einer eigenen Depression "in höchst lesenswerter Weise" zusammenfasst. Der Rezensentin gefällt die Mischung zwischen wissenschaftlichen Betrachtungsweisen einerseits und persönlichen Aspekten andererseits und bescheinigt der Autorin darüber hinaus einen "eleganten, durchaus literarischen Stil".
4.) Gerd Mischler: "Von der Freiheit, das Leben zu lassen" (Europa Verlag)
Bei diesem Buch sieht Venske die Gefahr einer zu großen "Romantisierung" des Freitods. Sie hält zwar die Forderungen an die Gesellschaft, "tolerant und sachverständig mit dem Problem umzugehen", prinzipiell für gerechtfertigt. Doch müsse man hier deutlich unterscheiden: Ihrer Ansicht nach ist der Suizid nur selten eine "hoch individuelle Privatangelegenheit eines aufgeklärten und rational handelndes Subjekts". Darüber hinaus bedeute ein Suizid auch immer einen "gewaltsamen Eingriff in das Leben anderer" - ein Aspekt, der ihrer Ansicht nach offenbar in dem vorliegenden Buch nicht ausreichend berücksichtigt wurde.

© Perlentaucher Medien GmbH
…mehr