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Produktdetails
  • Verlag: Europa Verlag
  • Seitenzahl: 252
  • Abmessung: 210mm
  • Gewicht: 406g
  • ISBN-13: 9783203750125
  • ISBN-10: 3203750120
  • Artikelnr.: 09782757
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.01.2002

Per Anhalter durch den Mikrokosmos

Die Welt ist alt und interessant, drum gibt es die Geschichte. Weil, wie wir Modernen wissen, der liebe Gott im Detail steckt, treiben wir gerne Makro- durch Mikrohistorie. Großen Aufschwung nimmt in dieser Blickrichtung derzeit vor allem die Kulturgeschichte. Mit einer einzigen Grundüberzeugung erschließt sie sich ein weites Feld: daß nämlich sehr viel mehr, als das naive Bewußtsein glaubt, wenn nicht gar alles vom Menschen "gemacht" ist, jedenfalls nur in einer von ihm "konstruierten" Form begegnet. Nicht nur Taten und Worte können also bedeutsam sein, sondern auch Artefakte und überhaupt alles, weil ja alles historischen Prozessen unterliegt. Und so wird uns der Buchmarkt an die Historiographie des Körpers, der Tulpe und der Schokolade schon gewöhnen. Im Run auf scheinbar immer entlegenere Gegenstände hat nun Joseph Amato die Benjaminsche "Andacht zum Unbedeutenden" auf die Spitze getrieben und auf den kleinstmöglichen Punkt gebracht: das Staubkörnchen (Joseph A. Amato: "Von Goldstaub und Wollmäusen". Die Entdeckung des Kleinen und Unsichtbaren. Aus dem Amerikanischen von Harald Höfner und Brigitte Post. Europa Verlag, Hamburg 2001. 252 S., geb., 19,90 [Euro]). Etliche Regale spezialisierter Technik- und Wissenschaftsgeschichten hat der Autor zu diesem Zweck zerkrümelt und zu einem neuen Kuchen zusammengebacken. Amato erzählt, wie sich der Staub als menschheitsgeschichtliche Grenze zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren auflöste. Denn mit Mikroskop und Vergrößerungsglas konnte man schließlich auch Kleineres als den Staub ausmachen. Der Blick drang in immer winzigere Welten, bis hinab in die Mikrobiologie, Gentechnik, Teilchenphysik und Nanotechnologie unserer Tage. Alles beförderte die Eroberung des Winzigen: Astronomie, Glasmanufaktur, Medizin, Anatomie, Optik, Reinigungsindustrie und viele andere Disziplinen und Technologien mündeten in einen oft siegreichen Kampf gegen bedrohliche Krankheiten, führten zur Selbstbefreiung des Menschen aus unverstandenem Schmutz, handelten ihm indes einen bunten Reigen aus Industriestauben ein und einen kategorischen Imperativ des Saubermachens. Wie so häufig in der neueren Kulturgeschichte sind die Krümel das Reizvollste am Kuchen. Wir hören von den dramatischen Fortschritten, wie sie der Anatomie durch die Napoleonischen Schlachtfelder möglich wurden; von einem deutschen Chirurgen, der Bluttransfusionen als Mittel zur Aussöhnung zerstrittener Ehepartner anzuwenden gedachte; von feinkörnigen Unterscheidungen zwischen dem Staub vollgespuckter Bürgersteige und dem Staub auf dem Boden schleifender Kleider - die Taxonomie des Staubs dreht jedes Körnchen um. Wir erfahren, daß ein Autor 1909 die "Mikrobensoziologie" als Schulfach einführen wollte und daß die dem Staub zutiefst verbundene Motte ein "abstruses Nachtgeschöpf" ist. Natürlich pocht auch die Kulturgeschichte auf die Einhaltung kritischer Standards: "Die Geschichte des Staubsaugers ist ein Teil der Erzählung vom Großen Saubermachen, den die neueren feministischen Geschichtsbücher über das Säubern ignorieren." Nichtsdestotrotz klaffen in einer solchen Wundertüte der Wissenschaftsgeschichte mitunter große Abstände zwischen Faktenkern und Erzählhülle, die mit narrativem Elan überwunden werden wollen; aber Atome bestehen ja im wesentlichen auch nur aus Leere und halten trotzdem zusammen. Kulturgeschichten sind Fragmente einer Autobiographie des Westens, und so finden sie ihre Erfüllung erst in einer These darüber, wie der wurde, was er ist. Amato macht die globale Vorherrschaft des Westens an seiner Fähigkeit fest, "das Reich des Mikroskopischen zu verstehen und zu ordnen". Das Abendland als Kontrollgesellschaft, dieser Gassenhauer seit Foucault also auch hier. Es ist schon eine seltsam ambitionierte Sache mit der Kulturgeschichte: Noch auf ihre kleinsten Gegenstände werden die größten Thesen gehievt. Ehe man sich's versieht, lastet auf dem Staubkorn die ganze Architektur des Abendlandes: "Um es einmal so zu sagen: Die Geschichte wird nicht länger von Kleopatras Nase bestimmt, sondern von den Mikroben in ihrer Nase." Entsprechend muß die Kulturkritik detaillistisch werden. War früher die Würde des Staubs noch ohne weiteres einsehbar, muß sie heute mahnend in Erinnerung gerufen werden: "Unsere gegenwärtige Vernachlässigung des Staubs zeigt sich darin, daß Priester inzwischen vergessen, den Altar sorgfältig und rituell von den Krümeln der Eucharistie zu säubern." Der Staub bleibt unser Schicksal.

MICHAEL ADRIAN

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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Unglücklicher Titel, das. Was zum Henker haben die "Wollmäuse" hier verloren, ärgert sich ein "upj" gekürzelter Rezensent und verweist auf das gute, (staub-)trockene Original: "Dust. A History of the Small and the Invisible". Und um eine Geschichte handelt es sich auch. Genauer: um eine "kleine Begriffs- und Kulturgeschichte" des Staubs. Lobenswert, denkt sich "upj", so gegen den Hype des Großen zu segeln und das Kleine in den Blick zu nehmen. Jene Partikel, die einst durch das Mikroskop erst zu einer neuen physischen Größe wurden und fürderhin Angst und Schrecken verbreiteten, als Hort der Mikroben. Jene Partikel allerdings auch, die, wie der Rezensent vermerkt, als "Atome" und "Gene" nicht nur für die Wissenschaft in jüngerer Zeit immer attraktiver wurden. Ein originelles Stück Wissenschaftsgeschichte ist das Buch also auch. Eine eben, "in der das Bizarre gebührend Raum erhält".

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