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Produktdetails
  • Verlag: Mohr Siebeck
  • ISBN-13: 9783161483943
  • ISBN-10: 3161483944
  • Artikelnr.: 12913024
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.07.2005

Geschichte aus einem Guß
Gar zu optimistisch: Neues aus dem Nachlaß Adolf von Harnacks

An der Wende vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert erschienen in Deutschland in kurzer Folge hintereinander drei populärwissenschaftliche Werke, die sogleich hohe Auflagen erzielten und das Denken des gebildeten Bürgertums in je unterschiedlicher Weise beeinflußten: Zunächst entwarf der Jenenser Biologe Ernst Haeckel in seiner Schrift "Die Welträthsel" (1899) eine Darstellung der Weltentwicklung, die alles, auch die Entstehung des Menschen, seiner Kultur und seiner Religion, auf ein einheitliches Prinzip zurückführte und dabei auch vor rassistischen Konsequenzen nicht zurückschreckte. Die Pointe des Buches Haeckels bestand darin, die Entwicklung der Welt in ihrer Gesamtheit aus dem Darwinismus heraus zu erklären und diesen evolutionär strukturierten "Monismus" auch gegen das Christentum in Stellung zu bringen.

Noch im selben Jahr kam die große kulturgeschichtliche Bestandsaufnahme des mit dem Wagner-Kreis verbandelten Privatgelehrten Houston Stewart Chamberlain mit dem Titel "Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts" auf den Markt. Chamberlains Synthese traf sich mit Haeckel in dem Versuch, Naturerkenntnis und Philosophie miteinander zu verbinden, um so zu einer interprétation totale von Welt und Mensch zu gelangen, und entwickelte ebenfalls eine antisemitisch orientierte Theorie der menschlichen Rassen. Allerdings lehnte er den Darwinismus zugunsten eines kulturgeschichtlich erweiterten Vitalismus strikt ab. Dementsprechend war seine Rassenlehre nicht allein biologistisch strukturiert, sondern um kulturtheoretische Anteile ergänzt. Diese Geschichtsschau schloß die Unverzichtbarkeit der Religion ausdrücklich ein.

Das dritte Werk schließlich stammte von einem evangelischen Theologen. Adolf Harnack hielt im Wintersemester 1899/1900 an der Berliner Universität Vorlesungen "Über das Wesen des Christenthums" für Zuhörer aller Fakultäten, die später in einer vom Verfasser autorisierten Nachschrift gedruckt wurden und allein zu Lebzeiten Harnacks in Deutschland in über 70 000 Exemplaren Verbreitung fanden. Der Kirchenhistoriker hatte den Zeitpunkt seiner Vorlesungen mit Bedacht gewählt: Zweihundert Jahre nach Gottfried Arnolds "Unparteyischer Kirchen- und Ketzer-Historie" und hundert Jahre nach Schleiermachers Reden "Über die Religion" wollte er zunächst einem akademischen Publikum, dann aber darüber hinaus einer gebildeten Öffentlichkeit die zentrale Bedeutung der Kirchengeschichtswissenschaft für die Ermittlung des (historisch verstandenen) Kerns des christlichen Glaubens deutlich machen.

Auch Harnack neigte - wie Haeckel - dazu, Geschichte aus einfachen Grundsätzen zu erklären, entwarf seine historische Deutung aber in einer konsequent christlichen Perspektive und damit in Frontstellung zu Haeckels wissenschaftlich verbrämter Säkularreligion. Harnacks Verhältnis zu Chamberlains "Grundlagen" ist komplexer. So hat er sich über die "Grundlagen" nicht nur im "Wesen des Christentums" lobend geäußert - kein Wunder, kam doch die dort zu findende Synthese von Kultur und Christentum, die für Entstehung und Aufstieg des Abendlandes verantwortlich gewesen sei, einem Grundanliegen des Kulturprotestantismus entgegen. Dennoch unterschied sich Harnacks Ansatz von dem des germanophilen Briten nicht nur durch seine stärker gezügelte Rhetorik. Insbesondere schien ihm an der These der Bedeutung der menschlichen Rassen für die Kulturentwicklung grundsätzliche Skepsis angebracht. Harnack hat eine antisemitisch ausgerichtete Rassenlehre vehement abgelehnt. Statt dessen interessierte ihn der Rückgang auf den Ursprung, er suchte aus dem Schutt der Jahrhunderte die ursprüngliche Botschaft Jesu, das Evangelium, herauszupräparieren und deren Veränderung wie Bewahrung durch die Jahrhunderte in ihrer Bedeutung für die Menschheitsgeschichte zu analysieren.

Alle drei Werke fanden ihr Publikum: Haeckel wurde von denen begeistert gelesen, die im "modernen" Biologismus das naturwissenschaftliche Pendant für die Errungenschaften der mechanisierten industriellen Welt sahen; Chamberlain stand für die nationalkonservative Bildungsreligion, wie sie im Wagner-Kult ihre Apotheose fand; Harnacks "Wesen" schließlich konnte als Programmschrift des Kulturprotestantismus gelesen werden, der die Regeneration Deutschlands aus dem Geiste eines liberalen Reduktionschristentums erhoffte, das als spezifisch lutherisch ausgegeben wurde.

In der neuesten Harnack-Forschung ist das "Wesen des Christentums" nicht unbeachtet geblieben. Die angedeutete Situierung des Werkes im intellektuellen Diskurs der Zeit über Kirche und Theologie hinaus hat man aber bisher wohl nicht genügend erhellt. Das Nachwort des Wuppertaler Systematischen Theologen Claus-Dieter Osthövener zu seiner neuen Ausgabe der Vorlesungen breitet manche Trouvaille zur Entstehungs- und Wirkungsgeschichte des Werkes aus. Zum besseren Verständnis des Buches als Zeugnis für "den Kampf der Weltanschauung" (Haeckel) im Wilhelminismus trägt es wenig bei.

Die Edition beruht auf der letzten von Harnack selbst betreuten Fassung von 1929. Insofern dupliziert sie die von Trutz Rendtorff 1999 vorgelegte Ausgabe. Ergänzt wird sie jedoch durch umfangreiche Erläuterungen sowie durch unveröffentlichte Texte aus dem Nachlaß, darunter Harnacks vorbereitende Notizen zur Vorlesungsreihe, weitere Thesen zur Theologie und eine Teilnachschrift unbekannter Hand.

Osthövener ist ein beredter Apologet der "Aktualität Harnacks". Mir scheint hingegen, daß Harnacks Optimismus, mittels der Historie zu des Pudels Kern durchstoßen zu können, angesichts der Fragmentarisierung moderner, miteinander konkurrierender Lebenswelten, die sich unterschiedlicher historischer wie kultureller Legitimationsstrategien bedienen, ein für allemal perdu ist. Denn die diesem Optimismus zugrundeliegende Geschichtshermeneutik, die von der unbedingten Konsensfähigkeit historischer Erkenntnis ausging, erwies sich schnell als defizient. Der brillante Historiker und elegante Literat vermochte als Theologe seinen Lesern, die von der Theologie eine den zeitgenössischen Herausforderungen Haeckels oder Chamberlains standhaltende Rélecture der Heiligen Schrift erwarteten, kaum etwas zum Beißen zu geben.

Osthövener glaubt Harnack die "Fähigkeit zur kategorialen Differenzierung" attestieren zu können. Doch sind die verschiedenen Versuche Harnacks, Geschichte in theologische Begriffe zu fassen, untereinander wenig kohärent. Die Fluidität seiner geschichtstheologischen Reflexionen erlaubte ihm ständige Selbstrevisionen, stand aber gleichzeitig einer systematischen Darstellung seiner theologischen Gedanken im Wege. Die Gewissenhaftigkeit des Geschichtsforschers konterkarierte zwangsläufig jedes Bemühen um dogmatische Akkuratesse. Bei einem Gelehrten, der seit seiner Jugend in immer neuen Anläufen versuchte, das Geheimnis der Geschichte Gottes mit den Menschen zu durchdringen, liegt darin eine gewisse Tragik.

WOLFRAM KINZIG

Adolf von Harnack: "Das Wesen des Christentums". Sechzehn Vorlesungen vor Studierenden aller Fakultäten im Wintersemester 1899/1900 an der Universität Berlin. Herausgegeben von Claus-Dieter Osthövener. Verlag Mohr Siebeck, Tübingen 2005. 323 S., geb., 24,- [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Wolfram Kinzig ist nicht unzufrieden mit dieser Neuausgabe von Harnacks Vorlesungen aus dem Wintersemester 1899/1900, zumal sie umfassend erläutert sind und zusätzliches Material aus dem Nachlass des Theologen enthalten. Unzufrieden ist er allerdings mit der Forschung zu Harnack, die dessen optimistische "Geschichtshermeneutik" - sein Versuch, aus der Geschichte des Christentums und des Evangeliums eine Teleologie der Menschheit zu entwerfen - noch immer eher mit ehrfürchtigem Blick betrachtet, als sie selber zu historisieren. Das, so Kinzig, gilt auch für das Nachwort von Claus-Dieter Osthövener. Also macht der Rezensent selber den Anfang und stellt die Abhandlung von Harnack in einen ideengeschichtlichen Zusammenhang mit zwei anderen um die Jahrhundertwende erschienenen einflussreichen Welterklärungsschriften: Haeckels "Die Welträthsel" und Chamberlains "Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts".

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