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In den fast zwanzig Jahren nach Erscheinen seines legendären Essaybands »Eine Reise in das Innere von Wien« hat Gerhard Roth unermüdlich weiter die Stadt erforscht, in der er seit vielen Jahren lebt. Seine neuen Erkundungen führen ihn hinter die Kulissen des Naturhistorischen Museums und der Nationalbibliothek, durch das k.k. Hofkammerarchiv und die Wunderkammern der Habsburger, durch die Sammlung anatomischer Wachsmodelle des Josephinums und ins Gerichtsmedizinische Museum, ins Uhrenmuseum und über den Zentralfriedhof. Die Zeit und der Tod sind die Leitmotive dieses Schreibens, im Mittelpunkt…mehr

Produktbeschreibung
In den fast zwanzig Jahren nach Erscheinen seines legendären Essaybands »Eine Reise in das Innere von Wien« hat Gerhard Roth unermüdlich weiter die Stadt erforscht, in der er seit vielen Jahren lebt. Seine neuen Erkundungen führen ihn hinter die Kulissen des Naturhistorischen Museums und der Nationalbibliothek, durch das k.k. Hofkammerarchiv und die Wunderkammern der Habsburger, durch die Sammlung anatomischer Wachsmodelle des Josephinums und ins Gerichtsmedizinische Museum, ins Uhrenmuseum und über den Zentralfriedhof. Die Zeit und der Tod sind die Leitmotive dieses Schreibens, im Mittelpunkt aber steht immer der Mensch: Roths eindrucksvolle Beschreibungen des Blinden- und des Gehörloseninstituts weiten sich zu einer bewegenden Geschichte der Krankheit, und sein Besuch des Flüchtlingslagers Traiskirchen wird zur Studie über Menschlichkeit in einer globalisierten Welt.
Autorenporträt
Roth, GerhardGerhard Roth, geboren 1942 in Graz und gestorben im Februar 2022, war einer der wichtigsten österreichischen Autoren. Er veröffentlichte zahlreiche Romane, Erzählungen, Essays und Theaterstücke, darunter den 1991 abgeschlossenen siebenbändigen Zyklus »Die Archive des Schweigens« und den nachfolgenden Zyklus »Orkus«. Zuletzt erschienen die drei Venedig-Romane »Die Irrfahrt des Michael Aldrian«, »Die Hölle ist leer - die Teufel sind alle hier« und »Es gibt keinen böseren Engel als die Liebe«. Sein nun letzter Roman »Die Imker« ist für Mai 2022 geplant.Literaturpreise (Auswahl):Preis der »SWF-Bestenliste«Alfred-Döblin-PreisMarie-Luise-Kaschnitz-PreisPreis des Österreichischen BuchhandelsBruno-Kreisky-Preis 2003Großes Goldenes Ehrenzeichen der Stadt Wien 2003Jakob-Wassermann-Preis 2012Jeanette-Schocken-Preis 2015Jean-Paul-Preis 2015Großer Österreichischer Staatspreis 2016Hoffmann-von-Fallersleben-Preis 2016
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 30.10.2009

Vor der Glasglockenuhr
Prosa der Aufmerksamkeit: Gerhard Roths Entdeckungen im Inneren von Wien
Wie unter den europäischen Städten sonst vielleicht nur Venedig, wird Wien weithin als nostalgisches Abziehbild wahrgenommen. Wien, das ist einfach Neujahrskonzert, Spanische Hofreitschule, Sängerknaben und Heuriger. Als 1991 Essays von Gerhard Roth unter dem Titel „Eine Reise in das Innere von Wien” bei S. Fischer erschienen, wurden sie zu Recht mit Bewunderung aufgenommen. Denn Roth ließ anderes an Wien sehen, und er ließ Wien anders sehen. Nicht, indem er die moderne Großstadt Wien, die es gewiss auch gibt, gegen die Geschichte ausspielte, sondern indem er genaues Erinnern einem zu touristischem Konsum zurechtgemachten Talmi von Geschichte entgegensetzte.
Seine historischen Spuren sucht Roth nämlich in einer Weise, dass wir Gegenwärtige uns in ihnen verfremdet wiedererkennen können, manchmal zum Erschrecken. Und diese zum Wiedererkennen Eingeladenen sind nicht speziell die Wiener oder selbst die Österreicher, sondern gewiss die Europäer – denn immerhin war das Habsburgerreich, aus dem die meisten von Roths Spuren stammen, ein Gebilde vieler Kulturen.
Mit „Die Stadt” setzt Gerhard Roth seine Erkundungen nun fort. Über fast zwanzig Jahre hin sind die Studien entstanden, zwischen 1992 und 2009, vorwiegend als Beiträge zu Tageszeitungen oder deren Beilagen. Sie sind demgemäß unterhaltsam. Zugleich aber zeugen sie, wie die Essays des früheren Bandes, von einer nicht nachlassenden Sorgfalt des Wahrnehmens und Formulierens.
In einer Welt von Ablenkungen sind sie Sprache gewordene Aufmerksamkeit. Zu deren Charme gehört, dass Roth, während er bemerkt, was ihm gezeigt wird, stets ebenso sehr bemerkt, wer ihm etwas zeigt. In jedem Ding stecken für ihn Geschichten der Menschen, der jetzigen Sammler oder Wächter und der einstigen Besitzer.
Eine „Nachtführung” in das Naturhistorische Museum hat Gerhard Roth unternommen und die Kunst- und Wunderkammern der Habsburger aufgesucht. Die Österreichische Nationalbibliothek und das k.k. Hofkammer-Archiv sind ihm nicht entgangen. Roth war im Wiener Uhrenmuseum, im Josephinum und im der Öffentlichkeit unzugänglichen Gerichtsmedizinischen Museum. Doch dies ist kein Reiseführer der kurioseren Art, jedenfalls nicht vorwiegend.
In der Welt der Taubstummen
Der 65 Seiten lange Essay über das Uhrenmuseum etwa arbeitet sich weniger an einer Liste von Sehenswürdigkeiten ab, als dass er eine ausschweifende und abschweifende Phantasie über die Zeit darstellt, immer wieder auf einer Taschenuhr oder Kanonenuhr oder Glasglockenuhr landend und immer wieder von einer solchen abhebend. Anders als die Ablenkung, der wir erliegen, ist die „Abschweifung” – Roths Ausdruck in diesem Essay – des Autors Tat. Sie bildet nicht etwa das Gegenteil von Aufmerksamkeit, sondern eine ihrer Gestalten. Witz im Sinne des 18. Jahrhunderts macht sie aus: die Fähigkeit, überraschende Verbindungen zu ziehen.
Roth war auch an Orten anderer Art: im Wiener Blindeninstitut, im Bundes-Gehörloseninstitut, und im Flüchtlingslager Traiskirchen. Er hat die Stadt verlassen. Er war am Neusiedler See, dem „Meer der Wiener”. Und er war bei denen, die all das für immer verlassen mussten: auf dem Zentralfriedhof in Simmering. Es hat wenig Sinn, an diesem Buch Einzelnes hervorzuheben und damit vielleicht den Eindruck zu erwecken, anderes sei weniger bemerkenswert. Den Schriftsteller Gerhard Roth kennzeichnet es, dass seine Prosa in einer Sammlung scheinbarer Gelegenheitsarbeiten so durchweg die Höhen und die Tiefen ihrer Gegenstände wahrt. Dem journalistischen Genre hat er nicht die eigene Qualität literarischer Kunst geopfert, die der Einheit von Form und Inhalt.
Fasziniert von der Welt der Taubstummen berichtet Roth: „Die ganze Schönheit ihrer Gebärden aber erkannte ich erst, wenn ich die Kinder von weitem beobachtete, dann schienen ihre Hände an einem Geheimnis zu weben, das ich, wie ich mir vornahm, eines Tages enträtseln würde. Ich versuchte es auch anhand eines gedruckten Fingeralphabetes, aber ohne Anleitung verirrte ich mich beim Zusammenfügen von Buchstaben, denn ich wusste nicht, dass es eine räumliche Grammatik der Gebärdensprache gibt, mit Tausenden ineinander verschachtelten und ineinander übergehenden Gesten, die die schwierigsten und abstraktesten Gedanken ausdrücken können.”
Die beiden Sätze, selber verschachtelt, gestikulieren sacht in Richtung der unbegriffenen Sprache der Gehörlosen. Bei Roth wird uns Österreich, das Land, in dem angeblich alles singt und klingt, an den tonlosen Gesten von Kindern sinnfällig.ANDREAS DORSCHEL
GERHARD ROTH: Die Stadt. Entdeckungen im Inneren von Wien. S. Fischer, Frankfurt am Main 2009. 550 Seiten, 20,95 Euro.
Eingeladen zum Wiedererkennen, zum Erschrecken auch: Hofkammerarchiv Johannesgasse, Wien. In dieser Amtsstube arbeitete Franz Grillparzer. Foto: akg-images / Erich Lessing
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Für Andreas Dorschel bringen diese ursprünglich als Zeitungsbeiträge erdachten Texte durch die Einhaltung von Form und Inhalt sogar die Gesten Gehörloser zum Klingen. Wenn Gerhard Roth über das Wiener Gehörloseninstitut schreibt, über das Uhrenmuseum oder die Nationalbibliothek, mit Witz und abschweifender Fantasie, so ist das für Dorschel nicht etwa das Gegenteil von Aufmerksamkeit. Aus der Hinwendung zum scheinbar nur Unterhaltsamen, bei Roth gepaart mit der Sorgfalt des Formulierens, erwächst für Dorschel das Gegenwärtige als erhellender Zerrspiegel des Lesers selbst.

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