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Unterwegs in den Krisengebieten der Welt - wie gehen Menschen mit Krieg und Gewalt um, was verändert sich angesichts des fremden Leids im Berichterstatter, welche Rolle kommt dem Zeugen zu? Carolin Emcke schreibt in ihren Briefen von Orten, die aus dem Blickfeld der Medien geraten sind, obwohl Krieg und Leid dort andauern: vom endlosen Bürgerkrieg in Kolumbien, von der Sklavenarbeit in den Freihandelszonen Nicaraguas, vom Überlebenskampf der Straßenkinder in der Kanalisation von Bukarest, von den serbischen Massakern an Kosovo-Albanern und den Vergeltungsanschlägen an Serben, dem Anschlag auf…mehr

Produktbeschreibung
Unterwegs in den Krisengebieten der Welt - wie gehen Menschen mit Krieg und Gewalt um, was verändert sich angesichts des fremden Leids im Berichterstatter, welche Rolle kommt dem Zeugen zu? Carolin Emcke schreibt in ihren Briefen von Orten, die aus dem Blickfeld der Medien geraten sind, obwohl Krieg und Leid dort andauern: vom endlosen Bürgerkrieg in Kolumbien, von der Sklavenarbeit in den Freihandelszonen Nicaraguas, vom Überlebenskampf der Straßenkinder in der Kanalisation von Bukarest, von den serbischen Massakern an Kosovo-Albanern und den Vergeltungsanschlägen an Serben, dem Anschlag auf das World Trade Center am 11. September und den Kriegen in Afghanistan und im Irak.
Autorenporträt
Carolin Emcke, geboren 1967, studierte Philosophie, Politik und Geschichte in London, Frankfurt am Main und Harvard. Von 1998 bis 2006 war sie Redakteurin beim "Spiegel" und als Auslandsredakteurin in vielen Krisengebieten unterwegs, seit 2007 ist sie internationale Reporterin für das "ZEITmagazin". Für ihr Bücher wurde sie bereits mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. 2015 wurde Carolin Emcke mit dem Lessing-Preis des Freistaates Sachsen geehrt.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.10.2004

Weil es nicht reicht, Dinge nur zu sehen
Eine Welt, die nur sie betrat: Die Reporterin Carolin Emcke / Von Frank Schirrmacher

Carolin Emcke ist Journalistin und in Gegenden unterwegs, die wir in- und auswendig zu kennen glauben und deren Namen uns seit Jahren und Jahrzehnten in immer neuen Geschichten und Tragödien begleiten. Die Wüste Afghanistans kennen wir so gut, daß wir gewaltige think pieces schreiben, in denen die Wüste, die internationale Politik und schließlich auch noch das Denken Michel Foucaults eine einzigartige hermeneutische Mischung eingehen. In Wahrheit haben wir es in vielen Fällen längst aufgegeben zu verstehen, ja auch nur zu sehen, und zwar insbesondere bei den Orten, die Carolin Emcke aufsucht: dem Kosovo und Rumänien, Pakistan, dem Irak und Afghanistan, Kolumbien, Libanon. Einzig Peter Scholl-Latour schafft es heute noch, dem Überdruß oder der Überforderung durch die Hiobsbotschaften von unseren zivilisatorischen Rändern Bücher entgegenzusetzen, die offenbar Käufer finden; den Rest übernehmen CNN und Al Dschazira.

Emcke berichtet von den Weltgegenden, von denen wir auf eine diffuse Art genug zu wissen glauben. Oder: genug, um zu wissen, daß wir nicht mehr wissen wollen, weil wir es ohnehin nicht verstehen werden. Man hat selten ein Buch gelesen, das gründlicher mit dieser Haltung aufräumte. Unsere Allwissenheit kassiert diese Autorin binnen weniger Seiten, und dann treibt sie uns in einen Katarakt von Ereignissen und Reflexionen, so daß sich die Welt vielleicht nicht neu zusammensetzt, aber - als Schönstes, was ein Buch erreichen kann - nach der Lektüre etwas da ist, was es vorher nicht gab: Weltverständnis und selbstreflexiver Zweifel über ein Milieu, das sich intellektuell damit vergnügt, die Fotos von Abu Ghraib mit Foucault aufzurüsten, ohne je der Welt der Tatsachen begegnet zu sein.

Dabei kann ein Artikel Weltpolitik widerlegen. Am 25. März 2002 veröffentlichte der "New Yorker" eine riesige Recherche, in der im Kern kein Geringerer präsentiert wird als Bushs Kronzeuge für die Verbindung von Al Qaida und Saddam Hussein. Ein Mann namens Shabab, den der "New Yorker" im Irak interviewte und der schlüssig und glaubwürdig belegen konnte, daß Saddam mit Bin Ladin zusammenarbeitete. Der Artikel war eine Sensation, die amerikanische Regierung benutzte ihn als Legitimation für ihren Angriff auf den Irak, die Weltpresse übernahm flächendeckend die These vom gefundenen missing link zwischen dem 11. September und Saddam Hussein. Jeffrey Goldberg, der Verfasser des Artikels, wurde über Nacht zum Star.

Caroline Emcke, die "Spiegel"-Redakteurin, allerdings beschloß, den Kronzeugen, der als vierhundertzwanzigfacher Mörder in einem irakischen Gefängnis einsaß, selbst zu befragen. Die Art, wie sie diese Unterredung schildert, ist ebenso spannend wie komisch und kann hier ohne Verlust auch nicht annähernd nacherzählt werden. Aber dies ist das Resümee: "Ein Mörder gewiß, ein gewalttätiger Psychopath - aber keine glaubwürdige Quelle für irgendeinen Artikel . . . Wir können es nicht fassen. Das war der Kronzeuge? Wie hatte Goldberg diesem Wahnsinnigen aufsitzen können? Wie hatte er diese wirren Geschichten eines psychopathischen Selbstdarstellers der Weltöffentlichkeit als glaubwürdig präsentieren können? Wir sind Goldberg nie begegnet. Eine E-Mail-Anfrage, ob er erklären könne, wie er Shabab solche Bedeutung beimessen konnte, hat er nicht beantwortet."

Daß ein Psychopath in einer Mediengesellschaft nicht nur Katastrophen auslösen, sondern die Gedanken und die Deutungskraft der ganzen Welt verändern oder zumindest manipulieren kann - diese Erkenntnis, ja dieser Nachweis ist nicht die geringste Leistung von Carolin Emckes Buch. Aber neben diesem gleichsam positivistischen Ertrag ist es ein Buch von hoher, immer wieder ausbrechender und immer wieder gezügelter Emotionalität. Denn die Autorin hat keine Reportagen abgedruckt. Sie hat jenen "Verwertungszustand" ihrer Eindrücke aufbewahrt, der sich zwischen öffentlichem und privatem Reden festschreibt. Es sind Briefe, und zwar Briefe an Freunde, an Menschen also, die sich nicht für das "Gesehene" interessieren, sondern dafür, was das Gesehene aus dem Schreibenden gemacht hat. Das erlaubt ihr, "Ich" zu sagen, ohne eitel zu wirken.

Tatsächlich ist durch diesen klugen Kunstgriff ein Buch entstanden, das authentischer nicht sein könnte. Es zeigt eine moderne Journalistin und hat doch gleichzeitig etwas von den alten Entdecker- und Abenteuerbüchern. Jawohl, die Welt, die Frau Emcke betritt, hat vorher noch niemand betreten - und seien Tausende von CNN-Reportern durch den Staub des Iraks gezogen. Dadurch entstehen starke Gefühle beim Leser: Erkenntnisse, die zuweilen ganz nah an der Schwelle des Davonlaufens sind, weil die eigene Rolle in alledem so unerträglich wird. Das "Ich", das hier schreibt, ist das einer aufgeklärten, sehr gebildeten, mit allen Gender- und Triebtheorien versehenen bundesdeutschen Intellektuellen des Jahrgangs 1967. Der Satz Hannah Arendts "Stumm ist nur die Gewalt", der dem Buch das Motto gab, rechtfertigt auch die Indiskretion, die in jedem Bericht über das Leiden anderer steckt.

In Bukarest beispielsweise wird der Reporterin Carolin Emcke einmal ein zehnjähriger Junge zum Kauf angeboten. Seine Mutter verlangt zehn Dollar für das Kind. "Ich schüttelte nur den Kopf und wußte nicht, wie schauen, damit dieses Kind mit seinen aufgeschürften Knien und dem langen Ärmel in der Hand nicht glaubte, es gefalle mir nicht. Wie sollte ich ihm signalisieren, daß mich der Kaufakt, nicht seine Person anekelte."

Es genügt dieser Satz, um zu begreifen, warum Fernsehen und Rundfunk niemals ausreichen werden, um die Welt zu verstehen. Wir alle waren ja in unseren Wohnzimmern bereits Zeugen dieser Szene. Man hat diese verschreckten und gefolterten Kinder in Fernsehreportagen gezeigt. Journalisten haben ein Kaufinteresse fingiert und den Menschenhandel mit versteckter Kamera aufgezeichnet. Kurzum: Wir haben das gesehen.

Aber es reicht nicht, die Dinge nur zu sehen. Jener Satz der Reporterin - "und wußte nicht, wie schauen" - wäre undenkbar in einer Fernsehreportage. Die Kamera weiß immer, wie sie schaut. Die Entstehung dieses Davonlaufenwollens, dieser Scham und dieser Schuld, die Carolin Emcke in wenigen Worten abbildet, kennt kaum eine Fernsehreportage. Erst dann verstehen wir in einer medialen Gesellschaft etwas von der Welt, wenn wir nicht mehr wissen, wie wir schauen sollen.

Dieser Junge ist voller Narben, und seine Mutter präsentiert ihn, "als gelte es einen besonders saftigen Schinken anzupreisen". Und während die Reporterin die Mutter abwehrt, ist sie gleichzeitig in einen inneren Monolog versenkt, wie man ihn von Märkten und Basaren kennt - nur daß sie nicht fürchtet, den Verkäufer zu brüskieren, sondern vielmehr die Ware selbst. Es liegt ihr daran, der Ware klarzumachen, daß es nicht an ihrer Qualität liegt, daß sie nicht zugreift. Sie sagt gleichsam zu dem Kind: Ich kaufe dich nicht deshalb nicht, weil du mir nicht gefällst oder du so viele Folternarben hast, sondern weil ich grundsätzlich keine Menschen kaufe. "Eine Woche später schon schien mir meine Empörung über die Szene vollkommen verlogen. Was sich mir als einzig angemessene Reaktion dargestellt hatte, wirkte nachträglich nur fahrlässig und feige. Während es zunächst ethisch unmöglich erschien, ein Kind zu kaufen, ganz zu schweigen davon, es in mein Nomadenleben zu entführen, zerschellte diese Erstwelt-Moral an den Erfahrungen, die ich nach nur sieben Tagen in der Kanalisation, in den Bordellen, in den Polizeistationen von Bukarest machen mußte. Für zehn Dollar hätte ich das Kind besser schützen können vor dem, was ihm nun vermutlich blühen würde. Wer weiß, wer das Geld an meiner Statt bezahlen wird."

Solche Wendungen - das spürt jeder Leser - sind keine "Einfälle" oder literarische Selbststilisierungen. Es ist eine faszinierende Wiederherstellung jener zum Stereotyp gewordenen Reportererfahrung, wonach die Wahrheit ihre eigene Kraft und Legitimation entfaltet. Wer Zeuge seiner Zeit und seiner Rolle darin sein will, wird auf dieses Buch nicht verzichten können. Carolin Emcke, die offenbar ohne Skrupel sich gerne selbst unablässig in Lebensgefahr bringt, hat mit ihren Briefen Leben gerettet, indem sie sie im Buch verwahrt: Leben, die einen auf fast jeder dieser knapp 320 Seiten ergreifen und nicht mehr loslassen, obwohl das Buch doch von nichts anderem handelt als von deren Gegenteil: von den Kriegen.

Carolin Emcke: "Von den Kriegen". Briefe an Freunde. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2004. 320 S., geb., 18,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension

Beeindruckend findet Rezensent Martin Bauer die "entwaffnende Offenheit" von diesen nun als Buch veröffentlichen Briefen an Freunde von Carolin Emcke. Darin lasse Emcke, die im Auslandsressort des "Spiegel" tätig ist und als Reporterin die Krisengebiete der Welt bereist, ihre subjektiven Eindrücke und Erfahrungen von den Kriegsschauplätzen im Kosovo, Libanon Irak, in Kolumbien, Pakistan, Afghanistan, in Rumänien und Nicaragua Revue passieren. Zudem frage sie sich, wie von Krieg und Gewalt angemessen zu berichten sei. Bauer hebt hervor, dass sich hier keine der "abgebrühten Zynismen medienwissenschaftlicher Theoriebildung" finden. Im Gegenteil: So ungeschützt und riskant, so skeptisch gegen sich selbst und um möglichst rückhaltlose Aufrichtigkeit bemüht wie Emcke, spreche gewöhnlich niemand über sein Metier. Sie wolle sich und ihren Adressaten Klarheit darüber verschaffen, was gesehen und empfunden, gedacht und geschrieben werden müsse, wenn ein getreues Zeugnis der Gewalt entstehen soll. Diese Frage stehe hinter ihren "befremdenden und berührenden, manchmal impressionistischen, dann wieder streng analytischen, nie larmoyanten und im Kern höchst engagierten Briefen". Entstanden ist, so der Rezensent, ein "welthaltiges wie durchdachtes Buch", eine "Pflichtlektüre nicht nur für alle Zeitungsleser".

© Perlentaucher Medien GmbH…mehr