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In seinem Roman lässt Peter Cary den 1855 geborenen australischen Outlaw Ned Kelly selber zu Wort kommen: Er ist zwölf, als sein Vater verschwindet, mit vierzehn kommt er zum ersten Mal mit dem Gesetz in Konflikt. Dann geht seine Karriere steil bergan, Pferdediebstahl, Sabotage der Gleisarbeiten, Banküberfälle, Schießereien mit der Polizei. Großzügig zu den Armen, neigt er bei seinen Überfällen zu Maskerade und Farce. Doch unter der Verkleidung hat er eine weiche Stelle - für seine Mutter, deren wechselnde Liebhaber er hasst, für seine Tochter, an die er seinen Lebensbericht in 13 Lieferungen…mehr

Produktbeschreibung
In seinem Roman lässt Peter Cary den 1855 geborenen australischen Outlaw Ned Kelly selber zu Wort kommen: Er ist zwölf, als sein Vater verschwindet, mit vierzehn kommt er zum ersten Mal mit dem Gesetz in Konflikt. Dann geht seine Karriere steil bergan, Pferdediebstahl, Sabotage der Gleisarbeiten, Banküberfälle, Schießereien mit der Polizei. Großzügig zu den Armen, neigt er bei seinen Überfällen zu Maskerade und Farce. Doch unter der Verkleidung hat er eine weiche Stelle - für seine Mutter, deren wechselnde Liebhaber er hasst, für seine Tochter, an die er seinen Lebensbericht in 13 Lieferungen richtet. Am Ende sitzt seine Gang in der Falle: er flieht und kehrt in seiner eisernen Rüstung zurück, um sich dem Gemetzel entgegenzustemmen...
Wie seine Rüstung ist Ned Kelly eine australische Legende. Peter Carey gelang das Kunststück, der fernen Gestalt eine Sprache voller Leidenschaft und unbändiger Wildheit zu geben. Er schuf den Roman zum australischen Mythos vom einsamen Bushranger, der zum Robin Hood des Outback wurde.
Autorenporträt
Peter Carey, 1943 in Australien geboren, lebt in New York. Den renommierten Booker-Prize bekam er zweimal verliehen.

Regina Rawlinson, geboren 1957 in Bochum, studierte Anglistik, Amerikanistik und Germanistik sowie Literarisches Übersetzen aus dem Englischen. Seit 1988 übersetzt sie englische Belletristik ins Deutsche, u. a. Peter Carey, John le Carré und Lauren Weisberger. Sie ist Lehrbeauftragte für Literarisches Übersetzen an der LMU München und Vorsitzende des Münchner Übersetzer-Forums e.V .. Sie erhielt mehrere Arbeitsstipendien des Deutschen Übersetzerfonds e.V. , unter anderem für Zurück auf Glück von Patricia Marx. 2011 wurde ihr zudem das Arbeitsstipendium des Freistaates Bayern für literarische Übersetzerinnen und Übersetzer gewährt. Regina Rawlinson lebt in München.
Rezensionen
Robin Hood in Australien
Jedes Land hat seine eigenen Mythen von gerechten Männern, die mehr oder weniger unfreiwillig mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Männer, die zwar rauben und morden, aber die Früchte ihrer "Arbeit" den Armen geben, von denen sie geliebt werden. So auch Australien: Der Robin Hood des fünften Kontinents heißt Edward "Ned" Kelly. Er gilt als einer der größten Volkshelden der Australier. Nach Trevor Lucas, Mick Jagger, Thomas Keneally und vielen anderen nahm sich nun der Booker Prize Träger Peter Carey dieses legendären Outlaws des 19. Jahrhunderts an.
In seinem erstklassig recherchierten neuen Roman belebt er Ned Kelly auf neue und ungewöhnliche Weise. Für die Darstellung seines Helden erfindet er "13 Päckchen mit verschmutzten, verknitterten Papieren", auf denen Kelly seine Lebensgeschichte angeblich aufgeschrieben hat. Sie sollten – so die Fiktion – dazu dienen, das wilde Leben, das er geführt hat, seiner kleinen Tochter verständlich zu machen, und zu zeigen, dass er nie eine echte Chance hatte, sein Leben anders zu führen ohne sich selbst zu verleugnen.
So erfährt der Leser in 13 spannenden Kapiteln, einigen beigefügten zeitgenössischen Zeitungsberichten und einer historischen Nachschrift von der aufregenden und eindrucksvollen Verbrecherkarriere, in der er gegen die mit Willkür und Brutalität herrschenden Kolonialherren kämpfte. Dieser Kampf und seine Großzügigkeit gegenüber den Armen machten ihn schon zu Lebzeiten zu einem gefeierten Helden.
Edward mit dem Panzerhemd
In einer farbenreichen und authentisch wirkenden kräftigen Sprache erzählt Kelly zunächst von seiner traumatischen Kindheit und der ersten unfreiwilligen Lehrzeit als Pferdedieb. Etwas später treffen wir ihn als hartgesottenen Schwerverbrecher bei Banküberfällen und Polizistenmorden. Schließlich kommt es wie es kommen musste: Er wird gefangen genommen und zum Tode verurteilt. In dem großen Scharmützel, das sein letztes werden sollte, trug er ein eigens dafür gefertigtes Panzerhemd, das ihn endgültig zur Legende werden ließ.
Peter Carey ist ein spannendes und eindrucksvolles Buch gelungen, das einen sympathischen Verbrecher und Helden wider Willen schildert. (Andreas Rötzer)
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.06.2002

Das schwarze Herz des Nichts
Edle Jungs von echter australischer Art: Peter Carey erzählt die packende Geschichte der Kelly-Gang

In all seinen Büchern hat sich der australische Schriftsteller Peter Carey mit der Frage beschäftigt: Wer sind wir? Wer sind die Leitbilder unseres Landes? Gibt es etwas, auf das diese ehemalige Sträflingskolonie stolz sein kann? Zum Gegenstand seines jüngsten, achten Romans wählt er eine Robin-Hood-Figur des neunzehnten Jahrhunderts, einen Verbrecher und Volkshelden, der ihn nicht losläßt. Edward genannt Ned Kelly, geboren 1855, irischer Abstammung, 1880 hingerichtet durch den Strang, ist eine jedem Australier bekannte Gestalt.

Die Meinungen über Ned Kelly allerdings sind geteilt. Kann man sich mit einem Dieb, Räuber, Mörder identifizieren? Der erstaunliche, 58 Seiten langen Brief, den er kurz vor seiner Festnahme 1879 einem Komplizen diktierte, dürfte für den fünften Kontinent einer der wichtigsten Texte der Epoche sein. Mit diesem Jerilderie Letter, der als Eingabe an einen Parlamentsabgeordneten adressiert war, hoffte der Bandit, sein Geschick zu wenden. Der Historiker Alex McDermott charakterisiert ihn aufgrund des Schreibens als hochintelligent und gefährlich, als verzweifelten Mann, der die Welt zwingen will, ihm zuzuhören. Carey hatte den Ton dieses Briefes mitsamt seiner fehlerhaften Grammatik, den er 1964 erstmals las, im Ohr. Er wurde zur Keimzelle seines Romans. Der Auslöser aber waren Sidney Nolans Bilder, die Kelly im Kampf mit den Ordnungsmächten zeigen. Der Verbrecher stampft einher wie eine mittelalterliche Kriegsmaschine.

Dieses Bild betrachten die Australier als eine der Ikonen ihrer Geschichte. Damit setzt Careys Roman ein. Der Gangster erzählt die Geschichte selbst, er legt Rechenschaft ab vor seiner nie gesehenen Tochter, die mit ihrer Mutter nach Amerika entkommen ist. Sie soll die wahre Geschichte wissen, damit sie nicht mit Lügen aufwächst. Lüge ist ein Schlüsselbegriff in Careys Werk. Mark Twain hallt darin nach, der 1897 schrieb, die australische Geschichte könne nicht als Geschichte gelesen werden, sondern als eine Folge von Lügen. Der Roman trägt das Gewand der Chronik: Er ist in dreizehn "Päckchen" aufgeteilt, die der fiktive Autor nach Abfassen jedes Kapitels schnürt. Der Befund von Papier, Tinte, Verpackung wird mit wissenschaftlicher Akribie wiedergegeben, zu der die treuherzige Inhaltsangabe jedes Päckchens einen reizvollen Kontrast bildet.

Ned Kellys Leben steht im Zeichen bitterer Armut. Seine früh verwitwete Mutter, die illegal Schnaps verkauft, weiß nicht, wie sie ihre ständig wachsende Kinderschar durchbringen soll. Alles, was Ned will, ist "ein bißchen Land und einen Herd an dem wir abends sitzen konnten". Die Liebe seines Lebens ist die Mutter, Ellen Kelly, immer schwanger von vorbeikommenden Kerlen, die Ned "großmäulige Halunken" und "Klosettratten" nennt. Zu den anrührendsten Szenen des Buchs gehört die Schilderung, wie der Elfjährige seiner Mutter hilft, auf dem Küchentisch ein Kind zur Welt zu bringen. Wehmütig schreibt er seiner Tochter: "Ich habe Mütter in ihrem Alter gesehen sie waren rundlich und weich mit schimmernder Haut von Sahne und Roastbeef verwöhnt aber die Hände von meiner Mutter waren groß und vertrocknet wie Wurzeln die man aus der harten Erde von Gretna ausgebuddelt hat." Die Mutter gibt Ned bei einem berüchtigen Buschklepper in die Lehre. Aber die Wegelagerei bringt nicht viel ein, wenn man sie nicht im großen Stil betreibt. Doch in die Gesetzlosigkeit treibt Ned erst die Bedrängnis der armen Farmer durch die Großgrundbesitzer, die Korruptheit der Polizei, welche die Reichen schützt, Verhaftete foltert.

Carey macht seinen Räuber zum Autor. Kelly liest die Bibel, Shakespeare, den volkstümlichen Roman "Lorna Doone" und wird selbst zum Schriftsteller. Da der Abgeordnete, der für die Rechte der Armen eintritt, Kellys Eingabe nicht druckt, zieht sich der inzwischen Gejagte noch einmal in die Wildnis zurück, um sein Buch zu schreiben. In einer Kleinstadt, wo die vierköpfige Bande vor dem letzten Gefecht die halbe Einwohnerschaft als Geiseln nimmt, übergibt der Autor sein Werk einem Lehrer, der ihn verrät. Der Mann räsoniert über Ned Kelly: "Fehlt uns ein Jefferson? Ein Disraeli? Können wir denn keinen Besseren als einen Pferdedieb und Mörder finden, den wir bewundern?" Dies sind Careys ureigene Fragen. Der Outlaw, der mit seinen Komplizen drei Polizisten erschossen hat, läßt seinen Gefangenen eine Passage aus Shakespeares "Heinrich V." vorlesen. In die Lesung flicht Carey sein Urteil über die Kelly-Gang ein: "Diese Jungs waren edel von echter australischer Art."

Er ist überzeugt, daß Ned aus Notwehr getötet hat; seine anderen Taten betrachtet er als läßliche Vergehen. In der australischen Reaktion auf das Buch fanden sich denn auch Stimmen, die ihm vorhielten, einen Verbrecher reingewaschen zu haben. Carey zitiert einen Polizeikommissar, der über Kelly sagte, er spiegle "das schwarze Herz des Nichts, welches das Zentrum des australischen Charakters" bilde. In England erhielt der Roman den Booker-Preis.

Der deutsche Leser kann das Buch wie eine geradlinig erzählte, melodramatische Wildwestgeschichte lesen. In dieser feindlichen Natur, die hautnah spürbar wird, ist immer ungeheuer viel los, was freilich auf über vierhundert Seiten auch ermüden kann. Eine unüberwindliche Barriere ist der "sound", das atemlose Kelly-Idiom mit seinen Manierismen, die Sprechweise in einer Region der Provinz Victoria in den sechziger und siebziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts. Carey, der behauptet, sie noch auf dem Kinderspielplatz gehört zu haben, wollte daraus bereits Joyce und Beckett heraushören. Dies kann die Übersetzung nicht wiedergeben. Doch William Faulkners Motto, das der Autor seinem Roman voranstellt, könnte auch über vielen deutschen Texten stehen. "Die Vergangenheit ist nicht tot. Sie ist nicht einmal vergangen."

Peter Carey: "Die wahre Geschichte von Ned Kelly und seiner Gang". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Regina Rawlinson und Angela Schmitz. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2002. 448 S., geb., 22,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 05.04.2002

Als böse noch gut war und der Teufel ein Ire
So geht das Leben, nach unten: Peter Carey erzählt die „Die wahre Geschichte von Ned Kelly” und schenkt diesen Helden der Welt
Der Teufel ist nämlich auch bloß ein Bürokrat und ohne seine Paragrafen wäre er zweimal nichts. Anders aber als der Geschwänzte bei Goethe ist dieser irirsche Bastard gerade wegen seiner Paragrafengläubigkeit leicht auszutricksen. Erst wenn er ihm einen Wunsch nicht erfüllen kann, hatte der Teufel zu Whitty gesagt, dann lässt er, wenn Matthäi am Letzten ist, seinen Vertragspartner aus den Krallen.
Und der Teufel, hat der Teufel wie ein Ire gesprochen? fragt der junge Ned den Straßenräuber Harry Power. „Mein Gott”, sagt Harry, „jetzt hör dir doch einfach die Geschichte an.” In der Geschichte sagt der Teufel erst gar nichts, sondern schaut bloß ein bisschen unterbelichtet, denn er kennt doch seine feilen Opfer. Und Whitty, der wehrt sich erst und will sich davonmachen, aber der Teufel, der lässt ihn nicht, hält sein Pferd an und schenkt dem Reiter einen Beutel Schusser (für norddeutsche Zungen: Murmeln). Immer wenn er einen Schusser durch ein bestimmtes Glasfenster schmeißt in der Kirche Sankt Margaret in Beveridge, verspricht der Teufel, erfüllt er ihm einen Wunsch. Kenn ich, die Kirche, sagt Whitty, da war ich schon. Und weil der Teufel so katholisch ist und so grundirisch wie Whitty auch, lauert er bloß darauf, dass Whitty sämtliche Glasfenster mit sämtlichen 14 Kreuzwegstationen zerschmeißt, um ihm dann seine Seele wegzunehmen, wie er es als richtiger Teufel ja doch am Ende tun muss. „Was hatte der Teufel für Hände?” fragt der lernbegierige Ned den Harry Power, seinen Lehrer, und der, genervt, aber nicht zu bremsen in seinem Erzählrausch, nennt die teuflischen Pratzen „kalt und schleimig”, aber mit der Geschichte habe das doch gar nichts zu tun. Whitty, so fährt Harry Power fort, wüsste schon einen Wunsch, ein bestimmtes Grundstück am Fluss hätte er gern. Er wirft also den ersten Schusser durch das erste Fenster und schon kommt der Teufel angeschlichen, strahlt und nickt und trägt in sein blau liniertes Notizbuch Gemeinde, Parzelle und Gemarkungsnummer ein und am nächsten Donnerstag findet Whitty auf dem Postamt die Besitzurkunde für genau dieses Grundstück.
So ist das Leben.
Jedenfalls bei den Iren.
Und als er bereits dreizehn Kirchenfenster zerworfen hat mit den teuflischen Schussern, kommt Whitty mit einem Wunsch, den ihm seine schlaue Ehefrau eingeblasen hat, und sagt zum Teufel: „Ich wünsche mir dass du aus Anwälten ehrliche Leute machst.” Und das kann auch der allmächtige Teufel nicht, und Whitty hat ihm eine lange Nase gedreht und vor allem seine gutkatholische Seele vor der ewigen Verdammnis gerettet. So geht’s Bissness, wie der Ire Franz Beckenbauer sagt, und die ärmste Seele ist dann doch der Teufel.
Diese Geschichte, keine vier Seiten lang, steht wie beiläufig in Peter Careys großer Räuberpistole über den schröcklichen Banditen und Pferdedieb Ned Kelly, der 1880 nach einer blutigen Schlacht mit der Polizei im Gefängnis in Melbourne aufgeknüpft wurde. Kelly verhielt sich bis zum Schluss wie ein richtiger Ire und betrat die Falltür, die ihm in den Tod helfen sollte, mit den schönen Worten: „So ist das Leben.” So wird man zum Volkshelden.
Viel schlimmer sind die Greifer
Carey hat den Volkshelden zum Schriftsteller verbessert. Der Roman ist ein Rechenschaftsbericht, genauer gesagt, ein langer Brief an die Tochter, die Ned Kelly nie gesehen hat und der er alles wahrheitsgetreu mitteilen will: „Meine liebe Tochter du bist noch zu klein um auch nur ein Wort von dem zu verstehen was ich schreibe aber dieser Bericht ist für dich bestimmt und soll nicht eine einzige Lüge enthalten. Möge ich in der Hölle schmoren wenn ich die Unwahrheit sage.” Der Teufel auch hier ein treuer Spießgeselle, immer diensteifrig dabei, wenn man ihn als 15. Nothelfer anruft, ein Kumpan ja doch. Schlimmer, viel schlimmer und daher die wahren Teufel sind die Polizisten, die „Greifer”, die Ned Kelly und seine Familie dran hindern, sich der Pferdezucht zu widmen.
Denn warum erzählt Power die Geschichte, wie Whitty den Teufel überlistet hat? Weil ein Ire nur durch Trickserei oder eben mit dem Teufel im Bund zum eigenen Stück Land kommt. Die Iren haben inzwischen die Geschichte ihrer Leiden in alle Welt getragen, und diese Geschichte ihrer Leiden höret nicht auf in Galway und Cork, sondern geht weiter in Manhattan (bei Frank McCourt und seinen Brüdern) und reicht jetzt, mit Peter Careys Hilfe, bis nach Australien. Das Land, bis dahin die Heimat für Tierarten, die die Evolution links liegen ließ, gehörte der britischen Krone, war aber nie ein Schatz, sondern die Sträflingskolonie, die Endlagerstätte für die aufsässige Unterschicht. Der Klassenkampf aus Irland geht im australischen Busch weiter und wirkt, bei aller Exotik, vertraut aus alten Büchern. Edward Kelly wächst nicht viel anders auf als sein Zeitgenosse Oliver Twist bei Dickens in London.
Das Leben ist Müh und Plag, und wenn es einmal doch ein wenig Glanz verbreitet für den vaterlosen Kelly, dann nur, weil er durch ein günstiges Geschick zur Stelle war, als ein Mitschüler aus der Landbesitzerschicht zu ertrinken drohte. Die erbsengrüne Schärpe, die er dafür bekommt (goldfarben bestickt mit den Worten „Für Edward Kelly in Dankbarkeit für seine mutige Tat von der Familie Shelton”), wird ihm seine Mutter später noch umbinden, als er ins Gefängnis muss. Seiner Mutter wär natürlich ein bisschen ein Geld auch lieber gewesen.
Ned ist Ire, und deshalb wird ihn diese frühe Heldentat auch nicht mehr retten. Seine Lebensbeschreibung ist ein grausames und erstaunlich komisches Lehrstück, damit „du (die Tochter, aber gefälligst auch der Leser) begreifst was für Ungerechtigkeiten wir armen Irländer zu unserer Zeit erdulden mussten”. Diese schlimme Zeit reicht im Zweifel bis in die Gegenwart: Als echte Kolonialherren haben sich die Engländer auch diesen Outlaw unter den Nagel gerissen und 1969 selber verfilmt, mit einem astreinen Angelsachsen namens Mick Jagger, mit einem füchterlichen Bart zugewachsen bis unter den Hutrand, in der Titelrolle.
Peter Carey gibt den Volkshelden seinem Volk zurück und schenkt ihn doch der ganzen Welt, die solcher Helden bedürftig ist, als wär’s das Manna vom Himmel. Angeblich fanden sich „13 Päckchen mit verschmutzten, verknickten Papieren in Ned Kellys unverwechselbarer Handschrift”, und der fiktive Archivarius Carey beschreibt sie wie für den Antiquariatskatalog: „Ein rotweiß gestreiftes, in Stoff gebundenes Büchlein mit blauweiß marmoriertem Deckel (ca. 6½' x 7½')”. Kaum zu glauben, dass dieser unbändige Erzähler für einen der ganz besonders anämischen Filme von Wim Wenders („Bis ans Ende der Welt”) das Drehbuch geschrieben haben soll.
Ihr räudigen Hunde
Wie’s die Moritat verlangt, muss Ned Kelly für seinen Ruhm dran glauben. So geht das Leben, nach unten. „Der Boden in Avenel war sehr gut aber wir hatten eine Dürre und es wuchs nichts nur das Elend wurde immer größer.” Die „Greifer” sorgen dafür, dass die aus Irland in den Busch verpflanzte Familie Kelly nur ja nie hochkommen soll. Ned Kelly tritt den Polizisten schließlich gegenüber, eine Kampfmaschine, angetan mit viertelzölligem Stahl, und schreit den Schrei der Unterdrückung heraus, die ewige irische Wehklag: „Ihr erschießt Kinder, ihr räudigen Hunde.”
So ist der Roman eine ganz und gar irische Geschichte, und sogar John Millington Synge wird nicht vergessen, wenn Carey ein kleines Ödipusdrama inszeniert, den Vater entehrt sieht, weil er in Frauenkleidern herumreitet, den Vater rächt, wenn er alle Bewerber um die verwitwete Mutter bekriegt: „Aber hatte ich nicht trotzdem ein Herz war das nicht trotzdem der Mann dem ich das Leben verdankte dieser Tote dieses Wrack? Vater Sohn meines Herzens bist du mir gestorben bist du mir gestorben mein Vater?”
Damit wir uns recht verstehen, Leser: Einer wie der Ned Kelly würde bei uns nicht gelitten. „An den Ufern der Havel lebte, um die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts, ein Rosshändler, namens Michael Kohlhaas, Sohn eines Schulmeisters, einer der rechtschaffensten zugleich und entsetzlichsten Menschen seiner Zeit.” Auch er liebte die Pferde und nahm das Recht in die eigene Hand, aber während über Kohlhaas noch immer Besinnungsaufsätze geschrieben werden, ist Ned Kelly in Australien Folkore. Sein sprachgewaltiger Moritatensänger Carey geht noch weiter, will Kelly als Mitbegründer des modernen Australien sehen.
Kohlhaas führt einen Krieg „gegen die Gemeinheit der Menschen”, aber soviel Großmannstum käme Ned Kelly nie in den Sinn. Sein Leben war verpfuscht von Anbeginn, und schon in Irland. „Wir rochen nach Armut”, und die Schule, die er kurz besuchte, ließ ihn wissen, „dass die Katholiken noch eine Stufe unter den Rindviechern standen”.
Ist das eine wahre Geschichte? fragt Ned Kelly seinen Hauptmann Power. Aber ja, und deshalb musste sie so schlimm ausgehen. So geht das Leben. Bei den Deutschen hieß so einer 360 Jahre zuvor Thomas Müntzer und hatte den Bauern, die er aufhetzte und zugleich im Glauben an ihren göttlichen Auftrag bestärkte, versichert, er könne mit bloßen Händen die Kugeln der Fürsten auffangen. Aber ein deutscher Held schreibt nicht; lieber geht er in den Tod.
Peter Carey bietet seine ganze Sprachgewalt für diesen Räuber auf, und die beiden Übersetzerinnen geben sich alle Mühe mit dem kommafreien Bericht, aber ist er denn nun wahr oder nicht? So wahr wie Frank McCourts Buch über die „Asche meiner Mutter” und wie der Django von Sergio Corbucci. Und wer’s nicht glaubt, den soll auf der Stelle der irische Teufel holen.
WILLI WINKLER
PETER CAREY: Die wahre Geschichte von Ned Kelly. Roman. Aus dem Englischen von Regina Rawlinson und Angela Schmitz. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2002. 448 Seiten, 22,90 Euro.
Der astreine Angelsachse Mick Jagger, hineinmontiert in das historische Fahndungsplakat, spielte den irischen Rebellen Ned Kelly in der Verfilmung von 1970.
Foto: Sammlung Winkler
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Im Gegensatz zur bekannten Verfilmung des Ned Kelly-Stoffes aus dem Jahr 1969, ist Peter Careys Roman "faktentreu", findet Rezensent Georg Sütterlin. Bei allem biografischen Interesse sind es jedoch Ned Kellys "Innenleben " und die gesellschaftlichen Umstände, die ihn zum Outlaw gemacht haben, die laut Sütterlin die Aufmerksamkeit des Autors gebannt haben. Als "Lebensbeichte in der Ich-Form" ist der Roman geschrieben und es gelinge Carey dadurch besonders gut, lobt der Rezensent, den Übergang vom netten Jungen zum Outlaw zu inszenieren - "fließend" und unwiderstehlich. Gewalt werde hier nicht "beschönigt", sondern erscheine "tragisch und unausweichlich". Den gesellschaftlichen Hintergrund von Kellys Entwicklung erforscht Carey "ohne demonstrativen Gestus", lobt der Rezensent und gibt einen kurzen Überblick über Australiens spezifische Situation. Was ihm allerdings nicht ganz einleuchten will, ist der Grund für Kellys satzzeichenlose Sprache. Nichtsdestotrotz schließt er wohlwollend, dass Careys Roman "eine Gesellschaft, eine Epoche und einen Lebensraum in seiner ganzen Vielfalt erlebbar" macht, und dass hier klar wird, warum Ned Kelly in Australien Kultstatus besitzt.

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