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Nach wie vor werden in der Holocaust-Forschung zentrale Fragen kontrovers diskutiert: Wie entwickelte sich die nationalsozialistische "Judenpolitik" in den ersten Jahren des Krieges? Zu welchem Zeitpunkt überschritt das NS-Regime die historische Trennlinie von Bevölkerungsverschiebungen ("ethnische Säuberungen")zur totalen und systematischen Vernichtung? Auf welche Weise versuchten die NS-Behörden, die Politik der Vertreibung und Ausrottung mit der kriegsbedingten Notwendigkeit zu vereinbaren, jüdische Arbeitskraft auszubeuten? Was waren die konkreten Folgen für die Zwangsarbeiter? Welche…mehr

Produktbeschreibung
Nach wie vor werden in der Holocaust-Forschung zentrale Fragen kontrovers diskutiert: Wie entwickelte sich die nationalsozialistische "Judenpolitik" in den ersten Jahren des Krieges? Zu welchem Zeitpunkt überschritt das NS-Regime die historische Trennlinie von Bevölkerungsverschiebungen ("ethnische Säuberungen")zur totalen und systematischen Vernichtung? Auf welche Weise versuchten die NS-Behörden, die Politik der Vertreibung und Ausrottung mit der kriegsbedingten Notwendigkeit zu vereinbaren, jüdische Arbeitskraft auszubeuten? Was waren die konkreten Folgen für die Zwangsarbeiter? Welche Handlungsspielräume hatten die vielen kleinen lokalen "Machthaber"? Welche neuen Einsichten lassen sich zu Verhalten und Motivation der Täter vor Ort gewinnen?
Das Buch präsentiert - klar und verständlich formuliert - die Summe von Brownings neuen Erkenntnissen zum Mord an den europäischen Juden.
Autorenporträt
Christopher R. Browning, geb. 1944, ist Professor für Geschichte an der Pacific Lutheran Unversity, Tacoma, Wahington.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.05.2001

Passionierte Mörder
Was brachte einen gewöhnlichen Deutschen dazu, Juden zu töten?
CHRISTOPHER R. BROWNING: Judenmord. NS-Politik, Zwangsarbeit und das Verhalten der Täter, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2001. 283 Seiten, 49,90 Mark.
„Ganz normale Männer” – „Ordinary Men” – nannte Christopher Browning seine 1992 erschienene Untersuchung über die Mitglieder des Hamburger Reserve-Polizeibataillons 101 und dessen Mitwirkung am Holocaust. Das Buch hat Browning international bekannt gemacht, denn das Thema des amerikanischen Holocaust-Forschers, der die Einsätze der Reservepolizisten anhand von Vernehmungsprotokollen und Gerichtsakten aus den sechziger Jahren rekonstruierte, war Geschichte von unten, Geschichte, die jeden angehen musste.
Wie konnte es geschehen, so lautete die Ausgangsfrage, dass für die Vollstrecker der Endlösung auf der untersten Ebene Massenmord und Alltagsroutine eins wurden? Ein Befehlsnotstand lag nicht vor; Männer, die den Mut dazu hatten, konnten sich nachweislich dem Tötungsauftrag widersetzen, ohne dafür schwerwiegende Folgen in Kauf nehmen zu müssen.
Brownings neueste Recherchen, das schriftliche Protokoll einer Vorlesungsreihe, die er 1999 in Cambridge gehalten hat, bestätigen seine vorangegangenen Untersuchungen: In der Einführung zu diesen Vorlesungen erwähnt der Historiker, wie stark sich das Tempo der Holocaust-Forschung in den letzten Jahren beschleunigt habe. Man könne sich fast schon drauf verlassen, „in der Zeit zwischen der Fertigstellung einer Arbeit und ihrem Erscheinen in Buchform bedeutende neue Werke anderer Historiker veröffentlicht zu sehen.” Er sei deshalb während seiner Vorlesungs-Reihe in Cambridge oft gefragt worden, ob seine jüngsten Erkenntnisse über die Vollstrecker am unteren Ende der Befehlskette Korrekturen an seinem Werk über das Polizeibataillon 101 notwendig gemacht hätten.
Eine gewichtige Minderheit
Dort war er zu dem Fazit gelangt, dass eine bedeutende Minderheit dieser Männer im Zuge einer durch ihre Aktivitäten bewirkten Persönlichkeitsveränderung zu passionierten Mördern wurde. Andererseits habe es eine kleine Minderheit gegeben, die versuchte, sich der direkten Beteiligung am Töten zu entziehen. Diese sei aber in aller Regel bereit gewesen, andere Aufgaben zu übernehmen, die auf Beihilfe zu den Mordaktionen hinausliefen: Es sei eine Minderheit von mehr als zehn Prozent gewesen, die nicht zu direkten Teilnehmern der Mordaktionen wurde, die aber das Morden nicht behinderte und auch nicht dagegen protestierte. Browning hält also seine früher gewonnene Erkenntnis für eindeutig bestätigt; eine Teil-Korrektur nimmt er nur an seinen früheren Aussagen über die passionierten Mörder vor: Sie bildeten „eine gewichtige Minderheit”, nicht „die Mehrheit”.
In seinem Vorlesungszyklus geht der Verfasser auf den Einsatz jüdischer Arbeitskräfte ein, der mit der Vernichtungspolitik teilweise zu kollidieren scheint und Lebensfristen auf befristete Zeit verlängern konnte. Und er präsentiert neue Untersuchungen zu verschiedenen Aktivitäten einer Reihe von Polizeibataillonen während der Ermordung der Juden. Dabei zeigt er, wie sich Angehörige der Ordnungspolizei gemeinsam mit einem großen Kreis von Mitläufern zu Werkzeugen der Vernichtungspolitik machen ließen.
Perfektion und Gewöhnung
In weiteren Themenkreisen seiner Vorlesungsreihe behandelt Browning auch detailliert die Weichenstellungen an der Spitze des NS-Regimes, die zur Endlösung führten. Ausführlich befasst er sich mit den verschiedenen Zeitspannen, während derer die Naziführung ihren Entschluss realisierte, das Judentum zu liquidieren.
Browning und sein Übersetzer Karl Heinz Siber pflegen eine klare und geduldig argumentierende Sprache, und so verdeutlicht sich einmal mehr der Perfektionismus der Machthaber oben und die Gewöhnungsbereitschaft derer, die unten ausführen, was scheinbar nun mal nicht zu ändern war, was gemacht werden musste – die persönliche Verantwortung wurde dabei ausgeblendet. Es geht Browning um die Motivation der Vollstrecker und die Rolle, die sie dabei gespielt haben: Deutsche Mörder nennt er jene, die den Befehlen von oben gehorchten, Initiativen von unten unterstützten und den Ermessensspielraum örtlicher Instanzen ausschöpften.
Als Objekt akademischer Forschung gibt es den Holocaust erst seit etwa 25 Jahren, darauf weist Browning zu Beginn hin. Heute, so sagt er, werde dieser Forschungsbereich zunehmend auch als ein Vorgang erkannt, der für das Verständnis der menschlichen Natur von zentraler Bedeutung sei – wie zentral, das beweist der Historiker hier einmal mehr.
BIRGIT WEIDINGER
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.06.2001

Zwangsarbeit und Völkermord
Die nationalsozialistischen Verbrechen in Europa

Christopher R. Browning: Judenmord. NS-Politik, Zwangsarbeit und das Verhalten der Täter. Aus dem Englischen von Karl-Heinz Siber. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2001. 284 Seiten, 49,90 Mark.

Mark Spoerer: Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz. Ausländische Zivilarbeiter, Kriegsgefangene und Häftlinge im Deutschen Reich und im besetzten Europa 1939-1945. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart/München 2001. 250 Seiten, 44,- Mark.

Die systematische Ermordung von sechs Millionen Juden und die Anwerbung und Deportation von rund 13,5 Millionen ausländischer Männer, Frauen und Kinder - mit Sicherheit 80 Prozent, eher noch 90 Prozent von ihnen als Zwangsarbeiter - zum menschenverachtenden Arbeitseinsatz im "Dritten Reich" sind in der Geschichte ohne Beispiel. Beide Verbrechen stehen in einem unauflöslichen Zusammenhang, wenn man etwa an den Einsatz der sogenannten "Arbeitsjuden" und ihre planmäßig betriebene "Vernichtung durch Arbeit" denkt.

Diese Verbrechen manifestieren den Überlegenheitsanspruch einer "Herrenrasse", die glaubte, das von ihr beherrschte Europa nach ihren rassebiologischen und völkischen Prinzipien neu ordnen zu können. Für ihren Eroberungskrieg schöpfte sie nicht nur rücksichtslos die materiellen Ressourcen des Kontinents aus, sondern entwurzelte auch Millionen von Menschen und "verschob" sie wie Vieh gegen ihren Willen zur Ausbeutung ins Reich. Während der Holocaust durch die Medien und durch umfangreiche Forschungsarbeiten inzwischen längst in den Mittelpunkt des öffentlichen Bewußtseins gerückt ist, geriet die Zwangsarbeit über mehr als ein halbes Jahrhundert fast in Vergessenheit oder wurde verdrängt.

"Ganz normale Männer".

Nahezu allen Zwangsarbeitern, insbesondere den sowjetischen Ostarbeitern und den Polen, wurden 55 Jahre lang große Teile ihres Lohns von damals, Entschädigung und Entschuldigung für ihren menschenunwürdigen Arbeitseinsatz vorenthalten. Dies änderte sich erst seit 1998. Nicht zuletzt unter dem Druck von großen Anwaltskanzleien und der Öffentlichkeit in den Vereinigten Staaten wurde endlich der Weg zur Entschädigung durch einen Stiftungsfonds geebnet, in den der deutsche Staat und die deutsche Wirtschaft jeweils 5 Milliarden eingeschossen haben.

In der aufgeheizten Entschädigungsdebatte der letzten Monate erscheinen beide Bücher gerade zum rechten Zeitpunkt. Ihnen ist eine breite öffentliche Aufmerksamkeit zu wünschen. Denn sie strafen eindringlich die vielen Unbelehrbaren Lügen, die meinen, es sei doch inzwischen "genug gezahlt" worden und endlich an der Zeit, einen Schlußstrich unter die Vergangenheit zu ziehen.

Der amerikanische Historiker Browning vermittelt einen kompetenten und differenzierten Einblick in den gegenwärtigen Erkenntnis- und Forschungsstand zum Holocaust. Drei zentrale Themenkomplexe rückt er in den Mittelpunkt seiner Analyse: erstens die äußerst komplexe Entscheidungsfindung und die Weichenstellungen hin zum Völkermord und zur "Endlösung" in der Berliner Schaltzentrale; zweitens den vorübergehenden Einsatz jüdischer Arbeitskräfte in Polen und in der Sowjetunion, der den Opfern zwar eine gewisse Lebensfrist und Hoffnung auf Überleben als Handwerker und Facharbeiter in den Arbeitsghettos und Arbeitslagern verhieß, aber im Grunde der ideologischen Fixierung des Regimes auf die Ausrottung des europäischen Judentums stets untergeordnet blieb und deshalb für die meisten keine Rettung vor dem Vernichtungslager bedeutete; drittens die Einstellungen, Motivationen, Initiativen und Ermessensspielräume "ganz normaler Männer" (in der Regel Reservepolizisten), die den Mord an Ort und Stelle vollstreckten.

Mit Hilfe vieler authentischer Zeugnisse, darunter auch Erinnerungen und Aussagen von Überlebenden aus den Arbeits- und Vernichtungslagern, macht Browning anschaulich, wie anregend und ertragreich in den letzten Jahren der dreifache Perspektivwechsel von den Tätern zu den Opfern, von den hochgestellten Machtträgern zu den vielen Mordgehilfen auf mittlerer und unterer Ebene und vom Berliner Zentrum in die Peripherie des Geschehens gewesen ist. Browning weist nach, daß entscheidende Impulse zur Radikalisierung und Beschleunigung von Verfolgung und Massentötung oft "von unten" aus den Besatzungsgebieten kamen. Damit war die Verantwortung in der Zivil- und Militärverwaltung, in Orts- und Feldkommandanturen, in örtlichen Dienststellen der SS, der Sicherheits- und Ordnungspolizei sehr breit gestreut. Es bedurfte nicht immer eines ausdrücklichen Mordbefehls "von oben" - und die häufige Berufung auf den "Befehlsnotstand" nach 1945 wirkt heute sehr fadenscheinig.

Browning zeigt, welch mörderische Konsequenzen die rassenideologische Fixierung des NS-Regimes auf "ethnische Säuberungen" und "völkische Flurbereinigungen" in dem Augenblick zwangsläufig haben mußte, als mit Beginn des Krieges 1939 die ersten Schritte auf dieses Ziel hin im besetzten Polen gleichsam als "Experimentierfeld" für die Sowjetunion später eingeleitet wurden.

Denn mit der Massendeportation Hunderttausender von Juden in das Generalgouvernement und in die zunehmend überfüllten Ghettos in Osteuropa manövrierten sich die Machthaber in selbstgeschaffene Zwangslagen. So war es auch sicher kein Zufall, daß im Herbst 1941, als sich vor Moskau das militärische Scheitern des "Unternehmens Barbarossa" und damit das Ende der zeitweilig geplanten Massenverschickungen in die Eiswüste Sibiriens abzeichnete (dort sollten die Juden "auf natürlichem Wege" untergehen), die Vorbereitungen für die "Endlösung" in den Vernichtungslagern des Generalgouvernements anliefen. Denn nur so glaubte man Raum schaffen zu können für die täglich aus dem besetzten Europa anrollenden Deportationszüge.

Tod durch Erschöpfung.

Der Stuttgarter Historiker Spoerer legt die erste Gesamtdarstellung zur Zwangsarbeit im "Dritten Reich" vor. Auch hier verbinden sich in überzeugender Weise Darstellung und Quellenaussage. Der Verfasser setzt über schon Bekanntes hinaus vier neue Schwerpunkte: Er berücksichtigt die Rekrutierungen und die Zwangsarbeit in den besetzten Gebieten Europas, bemüht sich um eine genauere statistische Erfassung des Zwangsarbeitereinsatzes, stellt die Frage nach der konkreten Verantwortung für diesen Einsatz sowohl bei den staatlichen Instanzen als auch bei den Einsatzträgern der Privatwirtschaft und skizziert die Entschädigungsdebatte bis zur Verabschiedung der deutschen und österreichischen Entschädigungsgesetze im Juli 2000.

Spoerer zeichnet ein außerordentlich facettenreiches Bild der freiwillig angeworbenen, weit überwiegend aber zwangsweise deportierten Zivilarbeiter, der Kriegsgefangenen und der KZ-Häftlinge sowie "Arbeitsjuden" mit ihren meist unmenschlichen Lebens- und Arbeitsbedingungen. Ihre kümmerliche Existenz war zum einen geprägt durch die vom Regime ideologisch vorgegebene Rassenhierarchie, in der sowjetische Ostarbeiter und Kriegsgefangene, Polen und Juden ganz am Ende der Wertskala, die westeuropäischen und "rasseverwandten" Zwangsarbeiter und Kriegsgefangenen dagegen oben rangierten. Zum anderen war sie bestimmt von dem arbeitsmarktpolitischen Bestreben, die "Ware Mensch" bis zum Äußersten, nicht selten bis zum Tod durch Erschöpfung oder Erschießen, für die Bedürfnisse der Kriegswirtschaft auszupressen. Nur so glaubte man einen gewissen Ausgleich für das infolge der Einberufungen und der zunehmenden Kriegsverluste immer knappere und teurere Angebot deutscher Arbeitskräfte schaffen zu können.

Nach der deprimierenden Lektüre von Spoerers Buch drängt sich eine nachdenklich stimmende Erkenntnis auf: "Die heutigen Aktionäre und Mitarbeiter von Industrieunternehmen beziehen Dividenden und Gehälter aus einem Kapitalstock, dessen Grundlage in den letzten Kriegsjahren nur noch mit Hilfe von Zwangsarbeitern errichtet und ausgebaut werden konnte."

BERND JÜRGEN WENDT

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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension

Christian Semler stimmt mit dem Autor des Buches überein, der die Diskussion zwischen sogenannten Intentionalisten und Funktionalisten, ob und wie zielbewusst die Nazis den Judenmord geplant hätten, für überholt hält. Es war, schreibt Semler, "mörderisches Vorpreschen mit nachträglicher Billigung von oben". Einen eigenen Weg geht der Autor nach Semler, indem er die Zeitspanne Juli bis Oktober 1941 als ausschlaggebend bezeichne: da gab es zunächst den Siegestaumel beim Einmarsch der deutschen Truppen in die Sowjetunion, der aus dem Mord an den sowjetischen Juden schnell den Mord an europäischen Juden allgemein machte. Dem Autor sei bewusst, lobt Semler, wie schwierig es sei, trotz neuer Archivfunde über Geschehnisse zu schreiben, zu denen keine schriftlichen Beweise oder Zeugenaussagen vorliegen. Und doch gebe es keinen Weg an diesen Fragen und Mutmaßungen von "scheinhafter Logik" vorbei, auch um sich der moralischen Frage zu stellen, so Semler, wer war wie und in welchem Ausmaß beteiligt.

© Perlentaucher Medien GmbH