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Das Vermächtnis eines legendären Historikers und wegweisenden Intellektuellen: »Wenn die Welt sich ändert« versammelt erstmals Tony Judts wichtigste Essays in einem Buch. Die Texte reflektieren die großen Themen, die ihn zeitlebens beschäftigten - Europa und der Kalte Krieg, Israel und der Holocaust, 9/11 und die neue Weltordnung. Zudem dokumentieren sie die Entwicklung seiner Denkweise und die bemerkenswerte Beständigkeit seines leidenschaftlichen Engagements sowie seine intellektuelle Energie. Judt brachte Geschichte und Gegenwart zusammen wie kaum ein anderer Denker seiner Zeit. Die…mehr

Produktbeschreibung
Das Vermächtnis eines legendären Historikers und wegweisenden Intellektuellen: »Wenn die Welt sich ändert« versammelt erstmals Tony Judts wichtigste Essays in einem Buch. Die Texte reflektieren die großen Themen, die ihn zeitlebens beschäftigten - Europa und der Kalte Krieg, Israel und der Holocaust, 9/11 und die neue Weltordnung. Zudem dokumentieren sie die Entwicklung seiner Denkweise und die bemerkenswerte Beständigkeit seines leidenschaftlichen Engagements sowie seine intellektuelle Energie. Judt brachte Geschichte und Gegenwart zusammen wie kaum ein anderer Denker seiner Zeit. Die vorliegenden Essays lassen uns die Welt, in der wir leben, mit neuen Augen sehen.
Mit einem Vorwort von Jennifer Homans.
Autorenporträt
Judt, TonyTony Judt (1948-2010) studierte in Cambridge und Paris und lehrte in Cambridge, Oxford und Berkeley. Seit 1995 war er Erich-Maria-Remarque-Professor für Europäische Studien in New York. Er starb am 6. August 2010 in New York. Er war Mitglied der Royal Historical Society, der American Academy of Arts and Sciences und der John Simon Guggenheim Memorial Foundation. Seine »Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart« (Bd. 18031) gilt als Klassiker der Geschichtsschreibung. Im Fischer Taschenbuch ist ebenfalls lieferbar: »Das vergessene 20. Jahrhundert« (Bd. 19186).Literaturpreise:2006: Bruno-Kreisky-Preis2007: Erich-Maria-Remarque-Friedenspreis2007: Hannah-Arendt-Preis
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.10.2017

Vom modernen
Leben
Brillante Skizzen und alte Essays
des Historikers Tony Judt
„Locomotion No. 1“ hieß der erste Zug, der Passagiere von einem Ort zum anderen brachte. Im Jahr 1825 verkehrte die Dampflok in Nordostengland zwischen Stockton und dem etwa fünfzehn Kilometer entfernten Darlington. Fünf Jahre später wurde die nächste öffentliche Strecke mit Personenzügen befahren: von Liverpool nach Manchester. So begann die Zeit der Massenbeförderung und der Gruppenreisen. Die Bahn, schreibt der britische Historiker Tony Judt, sei das ewig moderne Transportmittel, der Bahnhof ihr immobiles Monument. Sie habe nicht nur die Fortbewegung erleichtert, den Raum erobert, sondern auch die Wahrnehmung der Welt verändert.
„Locomotion“ hieß ein Projekt Judts, zu dem es zwei Skizzen gibt; er kam nicht mehr dazu, das Buch zu verfassen. Die beiden Texte sind die Juwelen in dem Essayband, den Jennifer Homans, die Witwe des 2010 verstorbenen Professors für Europäische Studien an der New York University, nun posthum herausgegeben hat. Er versammelt Buchbesprechungen für die New York Review of Books, Artikel für New Republic und die New York Times, auch ein bisher unveröffentlichter Text über den Nahostkonflikt ist enthalten. Es sind Rezensionen zu Büchern über die Geschichte Europas, Vorträge, politische Interventionen oder Auseinandersetzungen mit Israel.
In seinen Stücken über die Eisenbahn erzählt Tony Judt den Aufstieg, Fall und die vorsichtige Renaissance dieses großen, staatlich finanzierten, gemeinschaftlich genutzten, fast egalitären Projekts. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde in den meisten Ländern die Anzahl der Klassen immerhin auf zwei reduziert. Doch seit den 1950er-Jahren gruben der immer günstiger werdende Individualverkehr und die Privatisierung zum Beispiel der Bahn in Großbritannien und den Vereinigten Staaten das Wasser ab, ließen sie marode werden. Dass einige asiatische, lateinamerikanische und westeuropäische Staaten in den letzten Jahrzehnten wieder stärker in den Ausbau des Zugverkehrs investierten, sieht Judt als Zeichen dafür, dass der Pkw-Verkehr durch gesetzliche Vorschriften womöglich doch allmählich reduziert wird.
In Judts Begeisterung für die Eisenbahn bildet sich der Kern seiner politischen Überzeugungen ab: Er denkt das moderne Leben von der Gesellschaft und nicht vom Individuum her. Ohne die Eisenbahn, so Judt, wüssten wir nicht mehr, wie wir als Gemeinschaft leben, wie man den öffentlichen Raum zum Nutzen aller einrichtet. (Die Vereinigten Staaten würden als SUV wahrgenommen, schreibt er 2003 in einem anderen Text.)
Aus diesem Geist heraus sind die meisten seiner Essays verfasst, auch sein letzter Vortrag an der New York University im Oktober 2009. Von einem Linkszionisten ist er zum skeptischen, im Grunde konservativen Sozialdemokraten geworden. Und damit sind nicht Positionen gemeint, wie sie der rechte Flügel der SPD vertritt. Ähnlich wie die Politologin Judith Shklar, die mit ihrem Konzept eines „Liberalismus der Furcht“ die Verhinderung von Grausamkeit ins Zentrum rückt, formuliert Judt: „Wenn die Sozialdemokratie eine Zukunft hat, dann als Sozialdemokratie der Angst.“ Die Aufgabe der Linken bestehe zuallererst darin, historische Errungenschaften zu bewahren. Man wünscht sich natürlich ein weniger schmales und originelleres Programm, doch eine kleine Aufgabe ist es nicht, den Wohlfahrtsstaat, öffentliche Güter und Leistungen zu erhalten, denn darum geht es Judt.
Nicht jeder dieser Artikel hätte zwingend noch einmal auf Buchpapier gedruckt werden müssen. Das gilt etwa für manche Essays zum Nahostkonflikt oder zur amerikanischen Außenpolitik unter Georg W. Bush. Man kann Judts Positionen schwerlich immer teilen. Er macht interessante Punkte, schießt aber in seiner Kritik an Israel auch regelmäßig über das Ziel hinaus. Andere Texte wurden schlicht von neuen Problemlagen eingeholt.
Doch da sind eben auch zeitlose Rezensionen, die von seiner großen intellektuellen Kraft zeugen, da sind Stücke wie das Vorwort zur englischsprachigen Neuübersetzung von Albert Camus’ „Die Pest“; ein Buch, das eben keine Lehren für seine Leser bereithalte. Oder sein Nachruf auf den polnischen Philosophen und Essayisten Leszek Kołakowski, den es sich zu lesen und wieder zu lesen lohnt.
ISABELL TROMMER
Tony Judt (1948-2010)
Victor Lerena/dpa
Tony Judt:
Wenn sich die Fakten
ändern. Essays 1995-2010. Aus dem Englischen von Matthias Fienbork.
S. Fischer Verlage München 2017, 384 Seiten, 25 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Isabell Trommer kann auch in diesen postum Essays sehen, wie der britische Historiker Tony Judts das moderne Leben von der Gesellschaft her dachte, nicht vom Individuum. Auf den Wohlfahrtsstaat und die öffentlichen Güter kommt es ihm an, betont Trommer, die darin das intellektuelle Programm des guten alten Sozialdemokraten sieht. So richtig originell ist das nicht, räumt die Rezensentin ein, schreibt dies aber auch dem Umstand zu, dass der Band vor allem Besprechungen, Essays und Vorträge versammelt, die Judt vor zwanzig Jahren veröffentlicht hat und von denen einige von der Problemlage eingeholt wurden. Doch bei anderen Essays, etwa über den polnischen Philosophen Leszek Kolakowski, imponiert ihr noch immer Judts "große intellektuelle Kraft".

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.10.2017

Was sich an der Eisenbahn für die Gegenwart lernen lässt

Hellsichtige Diagnosen eines streitbaren Historikers: Ein neuer Band mit Essays von Tony Judt.

Seitdem Tony Judt im Jahr 2010 verstarb, erscheinen Zug um Zug zu Lebzeiten verstreut publizierte Essays, noch vor seinem Tode Fertiggestelltes sowie unveröffentlichte Fragmente des zuletzt in New York lehrenden Historikers. "Wenn sich die Fakten ändern", herausgegeben von seiner Witwe Jennifer Homans, versammelt Texte aus den späten neunziger und zweitausender Jahren, gerahmt durch biographische Skizzen. Die Einleitung von der Herausgeberin zeichnet das ebenso kluge wie liebevolle Bild eines Historikers, der als britisch, europäisch oder amerikanisch unzureichend beschrieben ist. Judt war ein transnationaler Intellektueller, nicht im Sinne disziplinärer Moden, sondern aufgrund seiner Interessen, einem durch sein Großwerk "Postwar" enormen Leserkreis sowie dank seiner buchstäblich bewegten Biographie und tiefen Skepsis gegenüber Identitätskonstruktionen.

In drei Nachrufen auf François Furet ("alles andere als ein aufgeblasener, eitler Akademiker"), Amos Elon ("klug und respektlos, verachtete Dummheit und Borniertheit") und Leszek Kolakowski ("Ironie und messerscharfe Argumentation") wird ein Porträt des Historikers als nicht mehr ganz so jungen Mannes reflektiert: geistreich und integer, mit einer Präferenz für Fakten anstelle von Theorien, methodisch eher bei der guten alten Chronologie als in der Intertextualität zu Hause und noch stets ein beeindruckend belesener, polyglotter, im positiven Sinne streitsüchtiger Intellektueller.

Dies ist auch der Grundton in Judts Rezension von Eric Hobsbawms "Age of Extremes", die den Auftakt der hier versammelten, in vier asymmetrische Hauptteile (Europa, Israel, Vereinigte Staaten, die Sozialdemokratie überhaupt) angeordneten Texte macht. Bisweilen scharfzüngig, immer scharfsinnig entwickelt Judt meist aus Buchbesprechungen größere Zusammenhänge. Beim Seelenverwandten Hobsbawm ignoriert er dessen Festhalten an einigen überkommenen Gewissheiten keineswegs - neue Fakten! -, doch tragen Wärme und Sympathie seine Lektüre.

Dass er auch anders kann, zeigt Judt, wenn er die handwerklichen Fehler, intellektuellen Unzulänglichkeiten und - als wäre das noch nicht genug des Überdrusses - antisemitischen Subtexte im Werk des Europahistorikers und selbsternannten Retters polnischer Größe, Norman Davies, schonungslos zerrupft. Das ist hart, aber glorreich. Wer die Faktenlage schludrig oder, schlimmer noch, wissentlich verkennt, findet bei Judt keine Gnade.

Doch nicht nur Fakten ändern sich, auch Kontexte wechseln, und der Leser dieser vorzüglichen Sammlung wird vielfach andere Assoziationen haben als ihr Autor. Schreibt Judt von der wachsenden Selbstisolation der Vereinigten Staaten und ihrem erodierenden Führungsanspruch im Zeitalter George Bushs des Jüngeren, so liest man heute wie selbstverständlich Donald Trump in diese Zeilen hinein. Geht es um den Nahen Osten, werden aus dem hier noch sehr lebendigen Ariel Scharon - laut Judt ein Verhängnis für den israelischen Staat - die Einbahnstraßen- und Eskalationspolitiker Benjamin Netanjahu und Avigdor Lieberman. Schreibt Judt im Jahr 1996 über Europa als "große Illusion", ist man versucht, darin die Prophezeiung von Brexit, ungarischem Rechtsbruch und AfD zu erkennen.

Und Judts Vision einer "Sozialdemokratie der Angst" liest sich nach den Bundestagswahlen 2017 auch anders, als sie 2009 gemeint war. Doch so finster die Formulierung daherkommt, stimmt Judt gerade nicht in den Abgesang auf sozialdemokratische Werte wie Wohlfahrtsstaat und Gerechtigkeit ein, sondern ruft zu ihrer Verteidigung auf. Das konservative Bewahren solcher Errungenschaften sei heute Kernaufgabe der Sozialdemokratie; mit der "Abrissbirne" der Innovationsrhetorik operierten hingegen die Zerstörer der Rechten.

An hellsichtigen Gedanken ist fürwahr kein Mangel in diesem Band. In den neunziger Jahren beschreibt Judt luzide, wie nationalistische Bewegungen - noch sind es Jean-Marie Le Pen und Jörg Haider - Kapital aus dem diskreditierten Wohlstandsversprechen der Europäischen Union ebenso schlagen wie aus Ängsten vor globalen Migrationsbewegungen. Wenn man liest, dass der EU-Beitritt Ungarn und die Slowakei "vor ihren eigenen Dämonen schützen" solle, ist man gelinde verblüfft. Auch das Bild der amerikanischen Außenpolitik als SUV sitzt: im Zeitalter von Überbevölkerung, Ressourcenknappheit und Klimawandel sei dies ein "gefährlicher Anachronismus", weil er verkenne, dass Unilateralismus und militärische Macht nicht dasselbe seien wie Einfluss und Überzeugungskraft. Und wenn Judt urteilt, das amerikanische Ansehen habe "einen historischen Tiefpunkt", möchte man nur die Jahreszahl auswechseln, ehe man unterschreibt.

Mit den Vereinigten Staaten geht Judt ebenso hart ins Gericht wie mit Israel - nicht aus Antipathie, sondern aus der Enttäuschung des amerikanischen Staatsbürgers und ehemaligen Kibbuzniks. Über Jahrzehnte hinweg haben beide Staaten in seinen Augen so ziemlich alles falsch gemacht. Israels Elite habe nie begriffen, dass man nicht gleichzeitig jüdischer Staat und Demokratie sein könne, während in den Vereinigten Staaten Präsidenten gewählt würden, die Folter, gezielte Tötungen und andere Völkerrechtsbrüche autorisierten. Die Vision, die beide Staatsprojekte einmal darstellten, sei moralisch diskreditiert, und hier wie dort vermisst Judt ein Minimum an Vernunft, Vertrauen, Anstand. Für diese Werte, die er seinen Vorbildern Camus und Orwell entlehnt und Europa in höherem, vielleicht zu hohem Maße zuschreibt, sprechen wiederum die Fakten, und diese implizieren Gesprächsfähigkeit, Kooperation und Solidarität.

Die dazu passende Metapher findet Judt in der Eisenbahn als Sinnbild der Moderne, in welcher der Individualverkehr nur eine weitere Verirrung des zwanzigsten Jahrhunderts sein könne. In der Bahn verdichtet sich Judts durch und durch sozialdemokratisches Verständnis von Staat und Gesellschaft: nicht als antagonistische Konstellation, in der die eine vor dem anderen geschützt werden muss, sondern als Komplemente, die einander bedingen und bedürfen. Insofern erklärt sich leicht, warum Margaret Thatcher nie mit der Bahn fuhr: Dort hätte sie jene Gesellschaft gefunden, an deren Existenz sie nicht glaubte.

KIM CHRISTIAN PRIEMEL

Tony Judt: "Wenn sich die Fakten ändern". Essays 1995-2010.

Aus dem Englischen von Matthias Fienbork. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2017. 384 S., geb., 25,- [Euro].

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einer der hellsichtigsten Historiker und Zeitdiagnostiker NZZ Geschichte 20171001