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"Gelebte Vita" war das Stichwort, mit dem Ernst Kris und Otto Kurz 1934 in ihrer bahnbrechenden Studie über die Künstlerlegende auf das "psychologische Gebiet" hinwiesen, das es noch auszuloten gelte. Die Autorin der vorliegenden Untersuchung setzt hier an und wendet diesen Hinweis in eine historisch-kritische Perspektive. In den Blick genommen wird die von Kris und Kurz nicht mehr untersuchte Phase der Biologisierung und Psychologisierung des Künstlers im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. Die Künstlerlegende wurde zwischen 1880 und 1930 zur Krankengeschichte vermeintlich epileptischer,…mehr

Produktbeschreibung
"Gelebte Vita" war das Stichwort, mit dem Ernst Kris und Otto Kurz 1934 in ihrer bahnbrechenden Studie über die Künstlerlegende auf das "psychologische Gebiet" hinwiesen, das es noch auszuloten gelte. Die Autorin der vorliegenden Untersuchung setzt hier an und wendet diesen Hinweis in eine historisch-kritische Perspektive. In den Blick genommen wird die von Kris und Kurz nicht mehr untersuchte Phase der Biologisierung und Psychologisierung des Künstlers im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. Die Künstlerlegende wurde zwischen 1880 und 1930 zur Krankengeschichte vermeintlich epileptischer, degenerierter und schizophrener Künstler. Anhand des breiten Spektrums von Krankheitsbildern der Neuropathologie und Degenerationstheorie wird erstmals erkennbar, wie wenig stringent und mit welch unterschiedlichen Werten und Zielen die Pathologisierung des Künstlers und seiner Lebensgeschichte eine wissenschaftliche Begründung erfahren sollte. So findet sich die Degenerationsthese, die vor und um 1900 noch das Argument einer biologistischen Kulturkritik war, während und nach dem 1. Weltkrieg in psychologisch-philosophischen Abhandlungen über den Künstler wieder. Hölderlin und van Gogh galten dabei als kranke Heroen höchster Empfindsamkeit in einer katastrophischen Moderne. Die Vorstellung vom kranken Helden schlug Künstler und Psychoanalytiker, Psychopathologen und Kunsthistoriker in ihren Bann. Dies wird in Einzeluntersuchungen deutlich, die von Freud über Binswanger und Jaspers bis zu Kirchner, Klee und Warburg reichen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.03.2011

Im Biotop der modernen Künstlerlegenden

Wissenschaft und Wahnsinn: Einst war der Maler göttlich, von 1800 an sollten Ärzte und Forscher sein Talent erklären. Die Kunsthistorikerin Bettina Gockel zeigt, wie Künstler darauf reagierten.

Von Julia Voss

Es gibt Verlage, die sich auf großformatige, schön bebilderte Bücher spezialisiert haben, ein Genre, das gemeinhin "coffee-table book" heißt und in dem mehr geblättert als gelesen wird. Und dann gibt es Verlage, die sich auf die Veröffentlichung kluger Texte zu Bildern spezialisiert haben und die häufig leider nur recht grauenhafte Abbildungen dazu zeigen, mehr Kartoffeldruck als alles andere. Aber ab und an gibt es auch Ausnahmen, Glücksfälle, in denen Autor und Verlag alles darangesetzt haben, dass beides einander nicht ausschließt, dass Text und Abbildungen von hoher Qualität sind. Eben ein solcher Wurf ist dem Berliner Akademie Verlag mit der Veröffentlichung von Bettina Gockels "Die Pathologisierung des Künstlers. Künstlerlegenden der Moderne" gelungen. Das Buch ist eine Augenweide, aber nur darin zu blättern wäre viel zu schade.

Worum geht es? Was gibt es zu sehen? Gezeigt werden Künstlerselbstbildnisse, wobei sich Bettina Gockel, die an der Universität Zürich Kunstgeschichte lehrt, auf die Fälle Vincent van Gogh, Ernst Ludwig Kirchner und Paul Klee konzentriert und überraschende Bildzusammenhänge nachweisen kann. Paul Klees aquarellierte Lithographie aus dem Jahr 1919 etwa, in der sich der Künstler wie von der Außenwelt abgeriegelt mit fest verschlossenen Augen und Lippen darstellt (unsere Abbildung rechts), führt sie motivisch auf die Titelvignette von Carl Einsteins berühmter Monographie "Negerplastik" (oben rechts) von 1915 zurück - eine afrikanische Maske. Parallelen zieht Gockel auch zwischen van Gogh und Kirchner: Van Goghs Gemälde "Der Dichter Eugène Boch" (oben mittig) von 1888 diente Kirchner als Vorlage für den Farbholzschnitt "Frau in der Nacht" (unten links), der Gockel zufolge Hertha Binswanger zeigt, die Gattin des ihn behandelnden Schweizer Psychiaters. Binswanger erprobte seine Theorien über Kunst und Pathologie an seinem Patienten Kirchner, während Kirchner Binswangers Diagnose in seiner Selbstdarstellung verarbeitete.

Nun könnte man meinen, zu Rollenbildern und Selbstdarstellungen von Künstlern sei eigentlich schon alles gesagt. Das Buch von Ernst Kris und Otto Kurz "Die Legende vom Künstler" trug bereits 1934 die wirkmächtigsten Mythen und Anekdoten zusammen. In der neueren Kunstgeschichte widmete sich Oskar Bätschmann dem Thema und prägte den Begriff des "Ausstellungskünstlers". Soziologen wie Pierre Bourdieu haben das Phänomen aus gesellschaftlicher Perspektive betrachtet und die Frage gestellt, welche Funktion die Erwartungen erfüllen, die an Kunst und Künstler herangetragen werden. Die Einsicht also, dass sich Künstler stilisieren und stilisiert werden, Rollen einnehmen oder zugewiesen bekommen, sich vermarkten oder vermarktet werden, ist geradezu eine Volksweisheit. In der zeitgenössischen Kunst haben sich regelrechte Produktionszweige herausgebildet, die Künstlerbilder kommentieren oder ironisieren. Dass Paul Klee nicht der abgeschiedene Eremit war, als den er sich gerne ausgab, hat die Forschung zur Kenntnis genommen. Und als das Städel Museum 2010 das Spätwerk von Ernst Ludwig Kirchner ausstellte, nahmen die Selbstdarstellungsexzesse des Künstlers, der sich unter Pseudonym sogar lobende Kritiken schrieb, breiten Raum ein.

Aber Gockel geht es um eine andere Pointe. Ihre Analyse zielt auf eine weitaus fundamentalere Ebene als die Einsicht, dass Künstler Rollen spielen. In ihrer Analyse treffen sich nicht Kunstgeschichte und Soziologie, sondern verknüpft werden Kunst- und Wissenschaftsgeschichte. Der Bruch, den Gockel zum Ausgangspunkt ihrer Historiographie nimmt, ereignete sich um 1800 mit dem Aufstieg der Naturwissenschaften. Der Künstler wird nicht mehr als jemand begriffen, der göttliche Eingebungen ausführt; beibehalten wird allerdings die Vorstellung, dass der Künstler eine Ausnahmefigur sei. Zuständig für seine Besonderheit sind nun die empirischen Wissenschaften. Rückblickend wird 1908 der deutsche Psychiater Heinrich Stadelmann formulieren: "Was einst der göttliche Funke war, das verlegen wir heute in biologischer Betrachtung des künstlerischen Schaffens in den Künstler selbst und suchen nach physikalischen und chemischen Agentien, die als abnorme Gefühle dem Künstler das Schaffen ermöglichen."

"Abnorme Gefühle" ist Stadelmanns vager Sammelbegriff für den einstigen "göttlichen Funken". Anders formuliert: Es war die Wissenschaft, die nun erforschen sollte, welche Eigenschaft am Künstler nicht normal sei und wie sich das körperlich oder psychisch manifestieren könnte. Beauftragt fühlten sich nun Ärzte und Mediziner aus so unterschiedlichen Feldern wie Anatomie, Psychologie oder Physiologie.

Natürlich lässt uns ein Wort wie "Abnormität" aufhorchen, denn wir kennen die Geschichte von ihrem schrecklichen Ende her, der Rede nämlich von einer "entarteten Kunst" im Nationalsozialismus. Nun liegt die Sache aber nicht ganz so einfach. Denn auch wenn es zunächst unglaubwürdig klingt, war es lange Zeit keineswegs so, dass die Diagnose "geisteskrank" immer abwertend gemeint war - das Gegenteil konnte der Fall sein. Die Krankheit wurde als Grundvoraussetzung für das Genie angesehen, weshalb der italienische Arzt und Psychiater Cesare Lombroso es also gut meinte, als er rückblickend Ähnlichkeiten zwischen Irrsinnigen und Michelangelo, Goethe, Heine, Byron, Cellini, Napoleon und Newton herausstellte: "Das Genie", so Lombroso 1887, ist "von pathologischen Zuständen des Körpers abhängig".

Entscheidend war der Umgang mit der Krankheit, das Vermögen sie zu kanalisieren. Der Kunsthistoriker Julius Meier-Graefe, der engagiert eben jene Kunst verteidigte, die später als "entartet" galt, beschrieb dementsprechend Vincent van Gogh ebenfalls als verrückt, betonte aber die "Selbstzucht dieses bedeutenden Menschen". Das wahre Genie war ein "Held der Innerlichkeit", wie Gockel schreibt.

Dem Text merkt man an, dass er als Habilitationsschrift verfasst worden ist, die Dichte der Nachweise, die ausführliche Dokumentation des Forschungsstands mag die Geduld mancher Leser überstrapazieren. Die Mühe lohnt sich jedoch. Was Gockel beschreibt, verdichtet sich zu einem Nahrungskreislauf, einem Biotop, dessen Stoffe ständig zirkulieren, aber nie verlorengehen: Die Algen werden von Kleintieren abgegrast, diese von Fischen, Raubfischen und Spitzenräubern verschlungen, bis sie als Dung wieder am Boden landen und sie Würmer, Insekten und Krebse zersetzen. Will sagen: Wir sehen staunend zu, wie Ärzte ihre Diagnosen vor dem Hintergrund von Künstlerlegenden stellen, Künstler Diagnosen in ihre Bilder einarbeiten und Kunsthistoriker wiederum auf die Wissenschaft verweisen. Der Kunsthistoriker Aby Warburg, der wie Kirchner bei Binswanger in Behandlung war, wird schließlich die bei ihm diagnostizierte Schizophrenie als Grundlage des Kunstschaffens schlechthin ansehen. "Die ganze Menschheit", schreibt er 1923, "ist ewig und zu allen Zeiten schizophren."

Gockel hat ein Kapitel der Kunstgeschichte aufgeschlagen, das in der Gegenwart emsig weitergeschrieben wird. Heute sind es die Neurowissenschaftler, die sich berufen fühlen herauszufinden, was ein Kunstwerk auszeichnet. Und mehr denn je ist die Kunstgeschichte aufgefordert, Gegenmodelle dazu zu entwerfen.

Bettina Gockel: "Die Pathologisierung des Künstlers". Künstlerlegenden der Moderne.

Akademie Verlag, Berlin 2010. 408 S., zahlr. Abb., geb., 84,80 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Pluspunkt Nummer eins dieses Buchs: Die Aufmachung ist attraktiv und die Bilder sind qualitativ hochwertig. Pluspunkt Nummer zwei: Die Texte sind klug. Und originell. Eigentlich, meint Rezensentin Julia Voss, gibt es schon reichhaltige Literatur zur Frage der Künstlerlegenden und von Künstlerrollen auch in der Moderne. An der Auswahl der Künstler - Van Gogh, Kirchner, Klee stehen im Zentrum - liege das Originelle des Buchs nicht. Sehr schön aber verstehe Gockel zu zeigen, wie um 1800 ein Paradigmenwechsel im Künstlerbild stattfindet: von der Idee des Götterfunkens im Genie zu naturwissenschaftlichen Erklärungsversuchen fürs Außerordentliche. Anders gesagt: für die "Geisteskrankheit", die den Künstler macht, und das war dann weniger pathologisierend gemeint, als die spätere Rede von "entarteter Kunst" einen sofort denken lässt. Dies alles verständlich zu machen, sieht Voss als großes Verdienst. Da akzeptiert sie die Lektüremühen, die sich der Entstehung des Buchs als akademische Habilschrift verdanken, beinahe gern.

© Perlentaucher Medien GmbH
Das Buch ist [...] außerordentlich anregend und dank der Sorgfalt von Autorin und Verlag sehr gut lesbar. Stefan Diebitz für: Portal Kunstgeschichte, 4. April 2011 (http://portalkunstgeschichte.de/buch_medien/?id=4125) Das für die Untersuchung herangezogene Textkorpus ist ausgesprochen umfangreich, dennoch erfolgt eine bemerkenswert genaue Lektüre der Quellen. Sabine Fastert in: sehepunkte, Ausgabe 11 (2011) Nr. 6 http://sehepunkte.de/2011/06/19083.html Es gibt Verlage, die sich auf großformatige, schön bebilderte Bücher spezialisiert haben [...]. Und dann gibt es Verlage, die sich auf die Veröffentlichung kluger Texte zu Bildern spezialisiert haben und die häufig leider nur recht grauenhafte Abbildungen dazu zeigen [...]. Aber ab nd an gibt es auch Ausnahmen, Glücksfälle, in denen Autor und Verlag alles darangesetzt haben, dass beides einander nicht ausschließt, [...]. Eben ein solcher Wurf ist dem Berliner Akademie Verlag mit der Veröffentlichung von Bettina Gockels "Die Pathologisierung des Künstlers" gelungen. Das Buch ist eine Augenweide, aber nur darin zu blättern wäre viel zu schade. [...] Gockel hat ein Kapitel der Kunstgeschichte aufgeschlagen, das in der Gegenwart emsig weitergeschrieben wird. Julia Voss in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12. März 2011, S. L 22