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Der deutsche Griechenkult fand keineswegs mit der Epoche der Klassik ein Ende, sondern lebte als äußerst wandlungsfähiges Konzept bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts fort. Die Autorin verfolgt über einhundert Jahre hinweg die Wirkungsgeschichte des Griechenideals von Johann Joachim Winckelmann bis in die Zeit des Nationalsozialismus, als die Begeisterung für seine Ideen parallel zum Griechenlandfeldzug in einer "Winckelmann-Renaissance" gipfelte. Auf der Grundlage von einer Fülle bislang unbeachteter Archivalien, publizierter Quellen und bildlicher Darstellungen wird ein höchst komplexes…mehr

Produktbeschreibung
Der deutsche Griechenkult fand keineswegs mit der Epoche der Klassik ein Ende, sondern lebte als äußerst wandlungsfähiges Konzept bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts fort. Die Autorin verfolgt über einhundert Jahre hinweg die Wirkungsgeschichte des Griechenideals von Johann Joachim Winckelmann bis in die Zeit des Nationalsozialismus, als die Begeisterung für seine Ideen parallel zum Griechenlandfeldzug in einer "Winckelmann-Renaissance" gipfelte. Auf der Grundlage von einer Fülle bislang unbeachteter Archivalien, publizierter Quellen und bildlicher Darstellungen wird ein höchst komplexes Ideengeflecht untersucht, dessen Anfänge zwar auf den Altertumsforscher des 18. Jahrhunderts zurückreichen, das aber in der Folgezeit insbesondere durch den Wechsel von vier politischen Systemen in immer neue funktionsgeschichtliche Zusammenhänge trat. Allen Anfechtungen zum Trotz drängte das Konzept des 'Klassischen' in Gestalt einer sich auf das 'Leben' berufenden Wertphilosophie den Positivismus des 19. Jahrhunderts zurück, brachte um 1900 einen 'monumentalen' Klassizismus in der Kunst hervor und initiierte den Aufschwung von Lebensreform, Jugendbewegung und Jünglingskult. In der Zusammenführung der Betrachtung von wissenschaftlicher, künstlerischer und literarischer Produktion und politischem Diskurs werden bisher ungesehene Verbindungen dargestellt. Sie zeigen, auf welch problematische Weise Griechensehnsucht und Kulturkritik das Denken, Fühlen und Handeln der Intellektuellen zwischen 1840 und 1945 bestimmten.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.05.2005

Mit dem Kulturpessimismus ging die körperliche Entspannung flöten
Ein Durchbruch: Esther Sophia Sünderhauf erforscht Winckelmanns problematisches klassisches Erbe in der deutschen Kultur

Gibt es sie noch, die Graecomanen: Zeitgenossen, die sich nicht allein in ihrem intellektuellen oder künstlerischen Trachten, sondern bis in ihre Körperlichkeit an einem fiktiven Griechentum orientieren? Die einstige Verbreitung dieser Spezies ist historisch bezeugt. Aber war sie - nach einer kurzen Aufbruchsphase im achtzehnten Jahrhundert - jemals mehr als eine Gruppe romantisch gesinnter Klassikverehrer, deren Denken und Treiben vor unserem heutigen Blick nur noch als marginale Facette der europäischen Kultur des neunzehnten und der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts auftaucht? Peripher im Verhältnis zu Phänomenen wie der Industrialisierung, den modernen Naturwissenschaften, Revolution, Nationalismus und Krieg und deren Niederschlag in Literatur und Kunst?

Eine kunstgeschichtliche Dissertation aus der Humboldt-Universität Berlin geht unter dem Leitmotiv "Körper" der deutschen Griechenverehrung in der Zeit von 1840 bis 1945 nach. Sie wählt als Ausgangspunkt Rezeption und Aktualisierung des Winckelmannschen Klassikideals. In Frage steht ein Konzept, für dessen Entstehung zwar der Gründungsheros der deutschen Archäologie Johann Joachim Winckelmann konstitutiv war, das aber in der Folgezeit unterschiedliche Modifikationen und Funktionalisierungen erfuhr und auf stets neue Weise den kulturellen und politischen Diskurs und das Fühlen von Millionen Menschen in Deutschland vom Beginn des Kaiserreichs bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs, ja bis in die sechziger Jahre maßgeblich prägte.

Esther Sünderhaufs Studie ist nicht die erste Auseinandersetzung mit deutscher Graecophilie und deren wissenschaftlichen, kulturellen und politischen Folgen. 1996 hatte Suzanne Marchand in einem aufsehenerregenden Buch die institutionellen Aspekte des Phänomens herausgearbeitet und damit die deutsche archäologische Forschung, Museumspraxis und Schulpädagogik jener Zeit einer fundamentalen Kritik unterzogen. Sünderhauf geht es mehr um das Ideengeflecht, jenes intellektuelle Konzept und Gemisch aus Gefühlen und Sehnsüchten im Hinblick auf den Körper und ihm zugeschriebene Eigenschaften und Werte. Mit der Analyse von Körperkonzepten aber ist man stets beim Eingemachten; es ist diese Perspektive, die dem Buch Aktualität verleiht.

Bezeichnend ist die Wahl der untersuchten Zeitspanne. Thema ist nicht die Sturm-und-Drang-Phase deutscher Griechenbegeisterung, die als klassisch hellenische Skulptur samt ihrer - vor allem männlichen - Nacktheit zum Signet sexueller und politischer Freiheitsutopien avancierte. Sünderhaufs Analyse gilt schattigeren Gefilden deutschen Geistes- und Gefühlslebens. Ihre Darstellung setzt mit den vierziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts ein, als die Auseinandersetzung mit Winckelmann in eine Memoria umgeschlagen war und dessen "libertines" und kosmopolitisches Pathos in Vergessenheit geriet beziehungsweise von anderen und sogar entgegengesetzten Vorstellungen überlagert wurde.

In jener "heroischen Erneuerungs- und Tat-Phase des deutschen Bürgertums", als Idealismus, Griechenkult und deutscher Nationalismus ihre enge und folgenreiche Verflechtung einzugehen beginnen, wird Winckelmanns Klassikideal zum ideologischen Kampfinstrument umgeformt. Es dient als Banner eines Konservativismus, der sich von modernen Erscheinungen wie dem Materialismus, der dominanten Rolle der Naturwissenschaften, dem Naturalismus in der bildenden Kunst und von demokratischen und sozialrevolutionären Bestrebungen bedroht sieht. Graecophilie wird zur staatstragenden Haltung. Winckelmanns Griechenideal mutiert dabei zum Signet einer deutsch-vaterländischen Nationalkultur.

Im Zuge jener Ummodellierung des Konzepts "Klassik" wird griechischer Plastik beziehungsweise der Sicht auf sie nicht nur jede kosmopolitische Note, sondern auch jede Sinnlichkeit systematisch ausgetrieben. Winckelmanns einst Natürlichkeit proklamierendes und eminent libidinöses Ideal verkehrt sich binnen einer Generation zum Garanten von Zucht und Selbstkontrolle, ja einer regelrechten Abstrahierung von Körperempfindung. Griechisch klassische Form soll nun den Blick auf die Natur ersetzen, mindestens ihn läutern; sie soll kraft ihrer Idealität die häßlichen Aspekte der Wirklichkeit eliminieren. Die unter diesem Gesichtspunkt von Sünderhauf erstmals herangezogenen archäologischen, kunstkritischen und pädagogischen Texte machen deutlich, wie sehr es in all jenen Debatten nicht nur um zeitgenössische Kunststile und die Einschätzung altgriechischer Kunst ging, sondern vor allem um das Leben selbst: um gelebte Körperkonzepte und deren ästhetische und ethische Bewertung.

Zwar sahen sich die Sachwalter edler Klassik in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts dem Verdikt akademischer Blässe und musealer Verstaubtheit ausgesetzt; man denke nur an so unterschiedliche Kritiker aus dem Lager des Vitalismus wie Friedrich Nietzsche und Richard Wagner. Doch während der Klassizismus in der bildenden Kunst ausgedient hatte, wurde der griechischen Antike im Zeichen eines wachsenden Kulturpessimismus nach 1890 eine neue Erziehungs- beziehungsweise Disziplinierungsfunktion zugesprochen. Griechische Skulptur und noch mehr die Orientierung an ihr stehen nun für die Werte Beherrschung, Zügelung, Bindung, Ungebrochenheit, Ganzheit, Einfachheit und Harmonie - im Kontrast zu unkontrollierter Entspanntheit, zu unübersichtlicher Vielfalt und zur Hyperkomplexität und schmerzhaft raschen Veränderung der erlebten Gegenwart.

Hatten am Ende des neunzehnten Jahrhunderts zwar die spezifischen Körperformen und Bewegungsmotive der griechischen Kunst, wie sie einst Winckelmann pries, ihre Vorbildfunktion für die Gegenwart eingebüßt, so wurde jetzt den Griechen ein Wille zu Form an sich attestiert, und das mit drohendem Unterton: ein unbedingter Wille, ein Wille nicht zu irgendeiner Form, sondern zu "eiserner Form". Der fiktive Grieche wird zum inneren Rekruten. Erziehungsziel ist nun durch Griechentum vermittelte äußere und innere Härte. Archäologen haben hier kräftig mitgewirkt, so Ludwig Curtius und Gerhard Rodenwaldt, Bernhard Schweitzer, Ernst Buschor und Ernst Langlotz. Gerade die von Sünderhauf eingenommene Binnenperspektive macht deutlich: Die Kreierung jenes von der Freiheit befreiten "klassischen Menschenbildes" kann nicht länger als bloße Anpassung an herrschende Machtverhältnisse verstanden werden, sie wurde von den Beteiligten mit Überzeugung fachlich untermauert und gesellschaftlich propagiert.

Das aggressive Modell einer Ausrichtung an antiker Körperlichkeit wurde im Nationalsozialismus auf die Spitze getrieben - dort gepaart mit ganz anderen Konzepten. Auch jene Phase erhellt das Buch durch überzeugende Analysen und durch Erschließung bislang unbeachteter Text- und Bildzeugnisse.

Doch nicht erst mit dem endgültigen Versagen des an einem fiktiven Griechentum orientierten Humanismus, sondern lange davor und auch in Milieus weit ab von Faschismus war jenem Syndrom "Griechenkörper" ein Gewaltpotential inhärent. Dessen schillernde Facetten aufgespürt und seinen Verwandlungen nachgegangen zu sein ist das Verdienst dieser Arbeit. Die Einbeziehung der lebenspraktischen Anwendungen des geschilderten Klassikkonzepts etwa in Freikörperkultur, Aktfotografie und Sport wird dem opulent bebilderten Buch eine weit über die Kunstgeschichte und die Archäologie hinausgehende Resonanz sichern.

LAMBERT SCHNEIDER.

Esther Sophia Sünderhauf: "Griechensehnsucht und Kulturkritik". Die deutsche Rezeption von Winckelmanns Antikenideal 1840-1945. Akademie Verlag, Berlin 2005. XII, 240 S., 7 Farb- u. 96 S/W-Abb., geb., 49,80 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.05.2005

Man wird etwas
Esther Sünderhauf über Deutschlands Winckelmann
Johann Joachim Winckelmann (1717 - 1768) hat in der deutschen Kultur des 19. und 20. Jahrhunderts als nationale Identifikationsfigur eine eigentümliche Rolle gespielt, darin durchaus mit Schiller (und vielleicht noch mit Luther) vergleichbar. Die erste Grundlage zu dieser heroischen Kanonisierung wurde 1805 in Weimar gelegt, als Goethe den Band „Winckelmann und sein Jahrhundert” herausgab. Was hat man seither in dieser Figur nicht alles gesehen: den Priester der griechischen Antike, den Apostel des Heidentums und den Gesetzgeber der Kunst; den Befreier des Vaterlandes, den Schutzgeist einer deutschen Wiedergeburt, den ehrlichen Protestanten und den heimatverbundenen Germanenforscher.
Esther S. Sünderhauf verfolgt die vielfältigen Stränge der Winckelmann-Rezeption vom mittleren 19. Jahrhundert bis zum Nationalsozialismus. Das Panorama, das sie entwirft, ist vielfältig, in seiner Tendenz freilich eher deprimierend: Die Rezeption erweist sich als fortgesetzter Missbrauch in defensiver Absicht. Die klassischen Sprachen Griechisch und Latein hatten im frühen 19. Jahrhundert zuerst in Bayern und in Preußen, dann auch in den übrigen deutschen Staaten zunächst eine zentrale Stellung in den Gymnasien und Universitäten erhalten.
Diese Hegemonie wurde in der Folgezeit immer wieder angefochten: In den Schulplänen machte sich bereits im späten 19. Jahrhundert ein Vordringen der modernen Sprachen und der Naturwissenschaften bemerkbar; in den Universitäten sah sich die Erforschung der klassischen Kultur einer immer stärkeren Konkurrenz durch die Philologien und Archäologien des Alten Orients, durch die Ägyptologie und die europäische Vor- und Frühgeschichte ausgesetzt.
Der normative Schutzschild
Unter diesem Konkurrenzdruck hat die so genannte Klassische Altertumswissenschaft immer wieder versucht, ihre Vorrangstellung zu verteidigen, und sich dabei auf eine normative Antike winckelmannscher Prägung berufen. Zwar hat sie den Winckelmann-Kult nicht ins Leben gerufen, seine Gestalt aber sehr wohl als prominenten und publikumswirksamen Schutzschild verwendet, um sich gegen Modernisierungstendenzen und eine historistische Relativierung der Kulturen zur Wehr zu setzen.
Vor diesem Hintergrund fortgesetzter Selbstlegitimierungsversuche wird es kaum überraschen, wenn nach 1933 ein besonderer Akzent auf Winckelmanns Deutschtum gelegt worden ist; dazu passten politische Stellungnahmen zum Nationalsozialismus, die bei prominenten Fachvertretern zwischen konformistischer Zustimmung und ehrlicher Begeisterung schwankten: Der Führer selbst hatte sich explizit zur Bedeutung des Griechentums für die allgemeine deutsche Volkserziehung bekannt.
Sünderhauf beschränkt sich in dieser Dissertation auf die Selbstdarstellung der Fächer nach außen, ohne auf den eigentlichen innerdisziplinären Diskurs einzugehen: die Geschichte der Wissenschaften im engeren Sinn ist nicht ihr Thema. Aber sie unterstreicht zu Recht den Verdacht, dass die reaktionäre Profilierung nach außen auch für die Diskussionskultur innerhalb der Fächer und deren intellektuelles Klima nicht ohne Folgen geblieben sei. Typisches Symptom dafür ist die gängige Tendenz zur normativen Wertsetzung, die unweigerlich mit einer gewissen intellektuellen Enge einhergeht.
Eine Öffnung im Sinn einer Verabschiedung normativer Ansprüche hat erst lange nach dem Zweiten Weltkrieg stattgefunden, als die Altertumswissenschaften ihre akademische Vormachtstellung längst verloren hatten. Mit dem Machtverlust waren zugleich intellektuelle Chancen verbunden: Damals hat man endlich begonnen, Griechen und Römer nicht mehr als Vermittler paradigmatischer Werte, sondern als Angehörige einer weitgehend exotischen Kultur zu entdecken; diese hat zwar keine verbindliche Orientierung zu bieten, bleibt aber gerade in ihrer Andersartigkeit, in ihren fremden, dunklen und beunruhigenden Aspekten ungemein aufschlussreich.
Unklar bleibt, warum Sünderhauf mit ihrer so breit angelegten Untersuchung erst um 1840 einsetzt. Die frühere Auseinandersetzung mit Winckelmann bleibt im wesentlichen unberücksichtigt. Der zentrale blinde Fleck aber ist natürlich Winckelmann selbst. Kann man die Rezeption eines Phänomens behandeln, ohne es zunächst selbst in den Blick zu nehmen? Zumal diese Rezeption sich als ein Verdrängungsvorgang erweist? Schon für Goethe ging es primär nicht um Winckelmanns Schriften, sondern um die Person als Charakter und menschliches Vorbild. Dazu passt auch Goethes spätere Äußerung in einem Gespräch mit Eckermann 1827: „Man lernt nichts, wenn man ihn liest, aber man wird etwas”. Diese Einstellung hat unabsehbare Folgen gehabt: Das Bildungsbürgertum begann Winckelmann zu preisen, aber es hörte auf, ihn zu lesen (oder beschränkte sich auf die Briefe). Indem man die Person vom wissenschaftlichen Werk abkoppelte, wurde diese zum Spiegel beliebiger Projektionen.
Aber wie erklärt sich diese Verlagerung des Interesses vom Werk auf die Person? Winckelmanns „Geschichte der Kunst des Alterthums” (1764) war ein brisantes Werk, nicht zuletzt in politischer Hinsicht. Winckelmann hatte die Geschichte der Kunst als kontingenten Prozess in seiner Bedingtheit durch äußere Umstände geschildert. Die erste Entfaltung der Kunst bringt er mit dem Sturz der Tyrannis in Zusammenhang; die weiteren künstlerischen Höhepunkte korreliert er mit den vierzig Jahren freiheitlicher Athener Verfassung unter Perikles sowie mit ihrer Wiederherstellung nach dem Scheitern der dreißig Tyrannen; erst die makedonische Herrschaft habe in Athen dann zum Niedergang geführt: „Die Kunst, welche von der Freiheit gleichsam das Leben erhalten, musste also notwendig durch den Verlust derselben an dem Orte, wo dieselbe vornehmlich geblühet, sinken und fallen”.
Die These, dass erst die politische Freiheit die notwendigen Bedingungen für die Entfaltung der Kunst schaffe, wurde nach 1789 in Frankreich intensiv rezipiert. 1795 wurde im Konvent dazu aufgerufen, in jedem öffentlichen Museum und in jeder Bibliothek eine gute Ausgabe von Winckelmanns Werken bereitzustellen. In Deutschland verhielt es sich genau umgekehrt - hier wurden seine Werke für obsolet erklärt. In Goethes Winckelmann-Buch wird ein kulturmorphologisches Modell vertreten, wonach die Kunst als ein lebendiges Wesen sich nach einem vorgegebenen Gesetz entwickelt; von politischer Freiheit ist nirgends mehr die Rede. An deren Stelle ist eine innere Notwendigkeit getreten, die Kunst hat ihren Bezug zur Geschichte verloren und ist autonom geworden.
Kanonisiert und verdrängt
Winckelmann wurde in Deutschland also gleichzeitig kanonisiert und verdrängt. Daran hat sich bis heute wenig geändert - er ist einer der großen Unbekannten geblieben. Sein Hauptwerk, die „Geschichte der Kunst des Alterthums”, war zweifellos eines der einflussreichsten Werke des 18. Jahrhunderts, aber im gewaltigen, auf eine gewisse Vollständigkeit angelegten Programm des Deutschen Klassiker Verlages sucht man den Titel umsonst. Das wäre vielleicht zu verschmerzen - hat das Buch im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts nicht unzählige Auflagen erlebt? Aber keine davon ist brauchbar: In allen fehlen das detaillierte, in der Erstausgabe 13 Seiten umfassende Inhaltsverzeichnis und das ebenso ausführliche Schlagwortregister; weggelassen wurden auch die Paragraphentitel und die Anmerkungen.
Der Text wurde also dem eines Romans angeglichen, den man von Anfang bis Ende zu lesen hat. Der Verfasser aber hatte seine Geschichte als offenes Werk konzipiert, das den Leser immer wieder zum Springen und zum Vergleichen einlädt. Als laufender Text ist das Buch schlechterdings nicht lesbar - und kaum mehr gelesen worden. Auch Sünderhauf führt im Literaturverzeichnis eine dieser unlesbaren Ausgaben an; auch sie unterstellt dem Werk die Absicht, „die Schönheit der griechischen Kunst auf wissenschaftlichem Wege und im Rahmen einer gesetzmäßig verlaufenden Entwicklung darzulegen”. So gehört diese wichtige und notwendige Untersuchung letzten Endes selbst in die Tradition der Winckelmann-Verdrängung, die sie mit Recht kritisiert.
LUCA GIULIANI
ESTHER S. SÜNDERHAUF: Griechensehnsucht und Kulturkritik. Die deutsche Rezeption von Winckelmanns Antikenideal 1840-1945. Akademie Verlag, Berlin 2004. 413 Seiten, 64,80 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Stefan Breuer ist begeistert von Esther Sophia Sünderhaufs Studie über die deutsche Rezeption von Johann Winckelmanns Antikenideal. Eine imponierende Leistung sei der Autorin gelungen, und man lese die Studie selbst dann mit großem Gewinn, wenn man nicht in allen Deutungen übereinstimme. Die Faszination für die griechische Antike habe die deutsche Bildungsschicht spätestens seit Winckelmanns Empfehlung der Nachahmung der Griechen nicht mehr losgelassen. Sünderhaufs Beschreibung der Ideengeschichte der deutschen klassischen Archäologie werde stets durch Namen außerhalb des akademischen Establishments angereichert, lobt der Rezensent. Materialreich und opulent bebildert sei die Darstellung, und die zeitweise ermüdende Lektüre werde belohnt durch überraschende neue Ausblicke - etwa die Deutung der Antikenrezeption als "Beruhigungsstrategie" im "Zeitalter der Nervosität". Allein mit der Kategorisierung der Autorin ist Breuer nicht ganz einverstanden. Die Gleichsetzung von Begriffen wie "Kulturkritik" und Kulturpessimismus" mit "Konservatismus" tauge heutzutage nicht mehr. Sie ebneten Widersprüche künstlich ein, wo eigentlich deren Analyse gefragt wäre.

© Perlentaucher Medien GmbH
"Die Einbeziehung der lebensprakischen Anwendungen des geschilderten Klassikkonzepts etwa in Freikörperkultur, Aktfotografie und Sport wird dem opulent bebilderten Buch eine weit über die Kunstgeschichte und die Archäologie hinausgehende Resonanz sichern." Lambert Schneider in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20. Mai 2005 "Auf der Grundlage von einer Fülle bislang unbeachteter Archivalien, publizierter Quellen und bildlicher Darstellungen wird ein höchst komplexes Ideengeflecht untersucht. [...] In der Zusammenführung der Betrachtung von wissenschaftlicher, künstlicher und literarischer Produktion und politischen Diskurs werden bisher ungesehene Verbindungen dargestellt. Sie zeigen, auf welch problematische Weise Griechensehnsucht und Kulturkritik das Denken, Fühlen und Handeln der Intellektuellen zwischen 1840 und 1945 bestimmten." museo-on.com, Juli 2007 "Sünderhauf's study is wide-ranging and well-argued; her range of sources is impressive and her interpretation of them clear and persuasive. On the whole she is critical of the Winckelmann tradition, underlining throughout its conservatism, its intolerance toward other forms, and its tendency to gravitate toward racist, misogynist, and non-democratic worship of beautiful, athletic bodies." Suzanne Marchand in: Gnomon, Band 80 (2008), Heft 2 "Dies ist ein großartiges und faszinierendes Buch, das für alle Historiker und solche, die es werden wollen, zur Pflichtlektüre erklärt werden müßte. [...] Ein exemplarisches Werk, das wie kaum ein anderes den engen Zusammenhang von Geschichte und Gedächtnisgeschichte illuminiert." Otto Gerhard Oexle in: Historische Zeitschrift, Band 286 (2008) "[Renate Reschke schätzt] Sünderhaufs Darstellung, die [...] keineswegs apodiktisch einer eindimensionalen Linienführung von Winckelmann zum Dritten Reich das Wort redet, sondern in einer nie aufgegebenen Griechensehnsucht deren immer auch politische Dimension aufdeckt und ihre Anfälligkeit für ideologisierende Erneuerungs- und Erweckungsbewegungen als ein Moment ihrer fortgesetzten Modernität begreift." Renate Reschke in: Weimarer Beiträge, 54. Jg. (2008), Heft 2…mehr