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Produktdetails
  • Verlag: Bilgerverlag
  • Originaltitel: Le Syndrome de la tête qui tombe
  • Seitenzahl: 236
  • Erscheinungstermin: 5. August 2009
  • Deutsch
  • Abmessung: 190mm
  • Gewicht: 255g
  • ISBN-13: 9783037620076
  • ISBN-10: 3037620072
  • Artikelnr.: 26848156
Autorenporträt
Marie-Jeanne Urech wurde 1976 in Lausanne geboren. Nach einem Studium der Soziologie und Anthropologie in Lausanne machte sie 2001 ihren Abschluss an der London Film School und lebt heute als Regisseurin und freie Schriftstellerin in Lausanne.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.08.2010

Mit Strichen zum Erfolg
Marie-Jeanne Urech parodiert die Arbeitswelt

Man stelle sich folgende Situation vor: Franz Kafka, Siegfried Kracauer und Georges Perec tun sich zusammen, um einen Roman über die Lage der Angestellten im Zeitalter der globalisierten Wirtschaft zu schreiben. Das Ergebnis könnte ein Text sein, der Marie-Jeanne Urechs "Mein sehr lieber Herr Schönengel" ähnelt. Die zentrale Übermacht der Bürokratie über das Individuum in Kafkas Romanen, die präzisen Analysen des Verhaltens der Angestellten in Kracauers gleichnamiger Essaysammlung und Perecs gleichsam auf soziologisch-empirischen Studien basierende narrative Reflexionen auf die Macht des Konsums ("Die Dinge") oder den freiwilligen Rückzug aus der Gesellschaft ("Ein Mann schläft") sind Aspekte, die auch im Roman der 1976 in Lausanne geborenen Soziologin und Filmemacherin Marie-Jeanne Urech eine Rolle spielen.

Die Wirtschaft ist hier ein Zirkus. In ihm schreit "ein einziger Mann mit roter Nase und riesigen Schuhen Worte wie Hausse, Baisse, Stabilität, unaufhaltsamer Absturz, spektakulärer Anstieg, kleiner Gewinn, große Verluste". Die Zuschauer dieses Zirkus, der in der Eingangshalle der sogenannten "Bude" untergebracht ist, recken sich dort bei dem Wort "Anstieg" auf die Zehenspitzen. Sie werfen sich beim Wort "Verlust" auf den Boden und unterschreiben am Ende, ausgelaugt von körperlichen Anstrengungen, alle Arten von Blättern, die man ihnen hinhält.

Protagonist des Romans ist Arthur Schönengel, Angestellter dieser Bude. Jeder, der in deren Hierarchie eingegliedert ist, in der alle bis zum Aufstieg in die nächsthöhere Etage mit dem Namen Weisslich angeredet werden, alle in wattierte Kittel gehüllt sind und in ihren winzigen Büros übernachten, geht dort einer bestimmten Tätigkeit nach. Deren Ergebnis und Bedeutung sind, ganz im Marxschen Sinn der Entfremdung, nicht nachvollziehbar. Schönengel, ein "kleiner, lächerlicher und unauffälliger Mann", der im untersten der insgesamt sechzehn Stockwerke sein Büro zugeteilt bekommen hat, zeichnet von morgens bis abends die denkbar exaktesten ansteigenden Bleistiftstriche. Dass seine unzähligen Striche den Erfolg der Bude nicht nur symbolisieren, sondern bestimmen, erfährt er erst nach längerer Zeit, dass ein Gesetz, das besagt, die Praxis folge der Theorie, wesentlich die Arbeitsabläufe der Bude bestimmt, ebenfalls.

Obwohl Schönengel versucht, sich in die Strukturen zu integrieren, in der die Angestellten nicht für Geld, sondern für Nahrung und Obdach arbeiten, stehen ihm dabei sein naives Unverständnis, seine scheinbar harmlosen Ansprüche, etwa der Wunsch nach einem Anspitzer für seinen Bleistift und seine Fähigkeit zur Empathie, im Weg, die den anderen Angestellten abhandengekommen zu sein scheint. Der verzagte Versuch, Freundschaftsbande zu knüpfen, und Schönengels schüchterne Hinwendung zur einzigen in der Bude beschäftigten Frau tun ihr Übriges dazu, die gut geölte Maschinerie dieses seltsamen und zugleich vertraut anmutenden Mikrokosmos aus dem Takt zu bringen.

Eine gewisse Modellhaftigkeit, mit der im Roman Mitläufer, Aufsteiger und Saboteure der Ordnung dargestellt werden, wirkt nicht störend, da sie von humorvollen und grotesken Elementen durchbrochen wird und die Sprache des von Claudia Steinitz elegant aus dem Französischen übersetzten Romans in knappen, sich in den Floskeln der Bude wiederholenden Sätzen, in skurrilen Dialogen und sprechenden Namen ihre poetische Dynamik entfaltet. Surreale Elemente, etwa ein Getränkeautomat in Form einer Kuh, betonen das spielerische Moment des Textes.

Man wird aus dem in kurzen Kapiteln erzählten "Mein sehr lieber Herr Schönengel" keine Lehrsätze über Gruppenphänomene, Firmenstrukturen, die Folgen entfremdeter Arbeit oder die Kehrseite des hysterischen Anspruchs auf permanentes wirtschaftliches Wachstum ableiten. Dennoch wird man zur Reflexion auf diese Phänomene angehalten, wird man die Selbstverständlichkeit, mit der das absurde Regelwerk der Bude seine Geltung behauptet, anzweifeln müssen. Und man wird den sanften, melancholischen Arthur Schönengel ins Herz schließen und ihn in seiner rührend-verzweifelten Widerständigkeit im Gedächtnis behalten.

BEATE TRÖGER

Marie-Jeanne Urech: "Mein sehr lieber Herr Schönengel". Roman. Aus dem Französischen von Claudia Steinitz. Bilger Verlag, Zürich 2009. 236 S., br., 20,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Die Wirtschaft als Zirkus, in der ein Mann mit roter Nase die Parolen Hausse, Baisse, kleiner Gewinn, großer Verlust ausruft - das hat Beate Tröger in dem Roman der Schweizer Autorin Filmemacherin Marie-Jeanne Urech erlebt. Und es hat ihr gefallen. Was zum einen an grotesk-surrealen Elementen liegt, mit denen Urech ihre schöne neue Wirtschaftswelt zeichnet, zum anderen am Protagonisten dieser Geschichte, dem "sanften, melancholischen" Angestellten Arthur Schönengel, der dafür zuständig ist, in feinem Bleistiftstrich die Erfolgsbilanz des Zirkus zu zeichnen, bis er feststellt, dass in diesem Geschäft die Theorie die Praxis bestimmt. Diesen Schönengel hat die Rezensentin in ihr Herz geschlossen.

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