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Georges Perecs erstaunlicherweise bislang nicht ins Deutsche übersetztes »Traumbuch«, das die höchst produktiven Jahre zwischen 1968 und 1972 umfasst, offenbart einen sehr direkten und zugleich neuen Zugang zu Literatur und Leben des französischen Kultautors. Mal lapidar und scheinbar unbedeutend, mal monströs und unergründlich, teils komisch und sonderbar faszinieren die Notate durch eine Vielfalt und Intensität kleiner Formen und unterstreichen einmal mehr die intime Komplizität von Literatur und Unbewusstem. Dabei entpuppen sich die aus nächtlicher Werkstatt zu Tage geförderten Fragmente in…mehr

Produktbeschreibung
Georges Perecs erstaunlicherweise bislang nicht ins Deutsche übersetztes »Traumbuch«, das die höchst produktiven Jahre zwischen 1968 und 1972 umfasst, offenbart einen sehr direkten und zugleich neuen Zugang zu Literatur und Leben des französischen Kultautors. Mal lapidar und scheinbar unbedeutend, mal monströs und unergründlich, teils komisch und sonderbar faszinieren die Notate durch eine Vielfalt und Intensität kleiner Formen und unterstreichen einmal mehr die intime Komplizität von Literatur und Unbewusstem. Dabei entpuppen sich die aus nächtlicher Werkstatt zu Tage geförderten Fragmente in ihrer rätselhaften Konkretion, ihrem Witz und tragischem Spiel als reicher Vorrat kreativer Möglichkeitsformen: Drehbuchentwürfe, Skizzen für Erzählungen, veritable Romananfänge. Ergänzt durch ein Glossar des Autors sowie mit einem Nachwort von Jürgen Ritte ist das Buch nicht nur ein Vademecum für biografische Fährtenleser und Perec-Fans, sondern auch ein literarisches Kaleidoskop zwischen Traum und Wirklichkeit.
Autorenporträt
Georges Perec war einer der wichtigsten Vertreter der französischen Nachkriegsliteratur und Filmemacher. Als Sohn polnischer Juden musste Perec als Kind die deutsche Besetzung Frankreichs miterleben. Sein Vater fiel 1940 als Freiwilliger in der französischen Armee, seine Mutter wurde 1943 nach Auschwitz verschleppt. Kurz vor ihrer Verhaftung konnte sie ihren Sohn mit einem Zug des Roten Kreuzes aufs Land schicken und ihm so das Leben retten. 1967 trat Perec der literarischen Bewegung Oulipo bei, die Raymond Queneau ins Leben gerufen hatte. Das Kürzel Oulipo steht für »L' Ouvroir de Littérature Potentielle«, d.h. »Werkstatt für Potentielle Literatur«. Die Schriftsteller von Oulipo, die aus dem »Collège de Pataphysique«, surrealistischen Gruppierungen oder dem Kollektiv »Nicolas Bourbaki« stammten, erlegten ihren Werken bestimmte literarische oder mathematische Zwänge auf, etwa den Verzicht auf bestimmte Buchstaben. Perecs Werk »Anton Voyls Fortgang« kommt so ganz und gar ohne den B

uchstaben E aus. In den 70er Jahren begann Perec ebenfalls mit Erfolg Filme zu drehen. Kurz vor seinem 46. Geburtstag starb Georges Perec an Lungenkrebs.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.08.2017

Was in dem Schlaf für Texte kommen mögen
Erstmals in deutscher Übersetzung: Georges Perec versammelt in seinem Buch "Die dunkle Kammer" Beschreibungen von Träumen

Georges Perec ist ein Autor der Listen, Inventare und Protokolle. Oder etwas vorsichtiger: Er ist es zumindest auch und nicht zuletzt. Und hätte es das "Ouvroir de Littérature Potentielle" (OuLiPo) nicht bereits gegeben, zu dessen Vorzeigeautor er bis zu seinem frühen Tod 1982 avancierte, man hätte es für Perec erfinden müssen, so zentral wurde ihm die dort gepflegte Vorgabe von Spielregeln als Ausgangspunkt für die Komposition von Texten. Spielregeln, die bei Perec mitunter formal recht ausgetüftelt waren, deren basale Form aber die Listen, Reihungen und Protokolle blieben. Oft Bestandsaufnahmen von Orten und Situationen, aber auch von Erinnerungen, sei es an ebendiese Situationen oder so frei schwebend wie in den vierhundert Eintragungen von "Ich erinnere mich".

So ist man auf den ersten Blick nicht überrascht über die Form eines 1973 von Perec veröffentlichten Buchs, das nun zum ersten Mal auf deutsch vorliegt. Unter dem Titel "La boutique obscure" - in der deutschen Ausgabe ist daraus "Die dunkle Kammer" geworden - versammelt es 124 Protokolle. Doch es sind sehr besondere Situationen und Erinnerungen, die hier protokolliert werden. So besonders, dass die Rede von Protokollen und Erinnerungen gleich wieder einzuklammern ist. Denn es sind Träume, die Perec hier zusammenstellt, 124 Traumnotate, die mit Datierungen von Mai 1968 bis August 1972 präsentiert werden.

Nun sind Träume unbestimmte Gegenstände par excellence. Ob die Notate, die der erwachte Träumer sich zu ihnen macht, als Erinnerungen an etwas gelten können, das in ihm so stattgefunden hat, bleibt ungewiss. Zwar scheint da etwas gewesen - Bilder, Gefühle, Szenen -, doch es abzutrennen von der Sprachwerdung im Notat ist kaum möglich. Die Grenze lässt sich nicht ziehen zwischen einem gegebenen Traummaterial und seiner Erzeugung und gestaltenden Interpretation im Text (und bereits im Traum selbst).

Der Sonderfall des Traums macht "Die dunkle Kammer" zum Sonderfall unter Perecs Büchern. Weder kann man es jenen Notaten zur Seite stellen, in denen sich der Autor zum Registrator alltäglicher Vorkommnisse macht, noch den Notaten, die Erinnerungen festhalten und die es fraglos mit vergangenen realen Situationen zu tun haben, wie immer diese Erinnerungen auch bearbeitet sein mögen. Und auch wenn man dem Traum Spielregeln seiner Produktion unterstellen möchte - etwa nach dem Vorbild von Freuds "Traumarbeit" -, dann sind diese Regeln gerade nicht selbst verfügte Vorgaben im Sinne des Oulipien Perec.

Der ist sich über das Zwischenwesen des Traums vollkommen im Klaren. Die knappe Vorbemerkung hält es fest: "Ich glaubte, die Träume, die ich machte, zu notieren: Sehr schnell wurde mir klar, dass ich längst schon nur noch träumte, um von meinen Träumen zu schreiben." Und wichtiger noch, er weiß, dass er aus diesen "zu sehr geträumten, zu oft wieder gelesenen, zu sehr geschriebenen Träumen" unweigerlich Texte gemacht hat, "ein Textgebinde, eine Opfergabe, niedergelegt an der Pforte zu jenem ,Königsweg', den er noch zu durchlaufen habe, "und dies offenen Auges".

Freud kommt also am Rande ins Spiel, zumal Perec seit 1971 in Analyse bei Jean-Bertrand Pontalis war (zu der dieser Analytiker und Schriftsteller einige, Perec hinter Pseudonymen leicht erraten lassende Texte schrieb). Sollte man dieses Traumbuch also als öffentlich gemachtes Zeugnis einer - gleichzeitig auch therapeutisch angeleiteten - Selbsterkundung ansehen? Oder zumindest als Spiel mit dieser Vorstellung und als Versuch, im Traumstil zu schreiben?

Man kommt jedenfalls als Leser kaum darum herum, Aufmerksamkeit für bestimmte Motive zu entwickeln - wofür das von Perec beigegebene Register zusätzlich Winke bietet - und auf Lebens- wie Schreibspuren des Autors zu achten. Der spätere Leser übrigens noch viel eher als vermutlich die Leserschaft der Erstausgabe, die "W oder die Kindheitserinnerung" und "Das Leben. Gebrauchsanweisung" noch nicht kannte. Er wundert sich also nicht zu sehr über die geträumten (Konzentrations-)Lager, die manchmal mit Verfolgungsszenen verknüpft sind, auch mit solchen, die auf die Pariser Studentenproteste verweisen, und nimmt das Notat unter dem Titel "Das Puzzle" als Hinweis auf eine tatsächlich tiefliegende Faszination dieses Autors.

Perec hält die Form offen. Eher enigmatische, kurz angebundene Notate stehen neben solchen, die schnell an die Eingangsbemerkung von den "zu sehr geschriebenen Träumen" denken lassen: etwa dann, wenn er einen traumverfremdeten Eindruck des Buchs "S/Z" von Roland Barthes, dessen Seminare Perec Mitte der sechziger Jahre besucht hatte, festhält. Oder von einem unendlich großen Raum handelt, der sich in einem durchaus endlichen Haus auftut - was man gleich als phantastische Variante der bald darauf erschienenen "Espèces d'espaces" nehmen möchte. Aber da es um Träume geht, muss offen bleiben, wie sich träumender und wacher Autor die Aufgabe teilen.

"La boutique obscure", von dem OuLiPo-Kenner Jürgen Ritte vorzüglich übersetzt und mit einigen hilfreichen Hinweisen und einem Nachwort versehen, ist ein Buch für Leser Perecs. Den Anfang wird man mit ihm vielleicht nicht unbedingt machen, um diesen Autor kennenzulernen, der in Frankreich gerade erst zu den Klassikerehren einer Werkauswahl in der Bibliothèque de la Pléiade erhoben wurde. Ohne das Traumbuch übrigens, dessen Publikation Perec nach seinem Biographen David Bellos im Nachhinein bedauert haben soll, weil es kein von Grund auf konzipiertes literarisches Projekt gewesen sei. Und gern wüsste man ja auch, was er vom Nachwort zur Originalausgabe hielt, in dem der Anthropologe Roger Bastide feststellte, dass in den nun erreichten Zeiten sexueller Befreiung politische anstatt erotische Konflikte zum Gegenstand der Verdrängung und also der Traumarbeit würden.

Aber es gibt auch die Traumbeschreibungen, die an das biographische Rätselspiel gar nicht erst denken lassen, die man von ihm unabgelenkt liest. Diese hier zum Beispiel: "Ich träume / Sie liegt neben mir / Ich sage mir, dass ich träume / Aber der Druck ihrer Hand auf die meine erscheint mir zu fest / Ich wache auf / Sie liegt wahrhaftig und tatsächlich neben mir / Wahnsinniges Glücksgefühl / Ich schalte das Licht an / Das Licht scheint eine Hundertstel Sekunde auf und erlischt / (eine geplatzte Birne) / Ich umarme sie // (ich wache auf: ich bin allein)".

Natürlich, "sehr geschrieben", bis hin zum vorangestellten Titel "Die Illusion", aber wer hätte nicht schon einmal, tief erleichtert oder maßlos traurig, sein Erwachen geträumt.

HELMUT MAYER

Georges Perec: "Die dunkle Kammer". 124 Träume.

Aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Jürgen Ritte. Diaphanes Verlag, Zürich 2017. 256 S., geb., 24,- [Euro].

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»'Die dunkle Kammer' versammelt 124 Traumnotate Perecs, die von dem OuLiPo-Kenner Jürgen Ritte vorzüglich übersetzt und mit einigen hilfreichen Hinweisen und einem Nachwort versehen wurden.« Helmut Mayer, FAZ