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Zwischen April 1921 und August 1924 war Aby Warburg, der geniale Kunsthistoriker und Kulturwissenschaftler, Insasse im Sanatorium Bellevue in Kreuzlingen, wohin er nach einem schweren psychotischen Zusammenbruch eingewiesen worden war - er hatte gedroht, sich und seine Familie umzubringen. Leiter der psychiatrischen Heilanstalt war Ludwig Binswanger, seinerseits bedeutender Psychiater, dessen Erkenntnisse den Zugang zur Geisteskrankheit tiefgreifend verändern sollten. Bislang war aus dieser Zeit nicht viel mehr allgemein bekannt, als dass Warburg vor seinen Mitpatienten den berühmten Vortrag…mehr

Produktbeschreibung
Zwischen April 1921 und August 1924 war Aby Warburg, der geniale Kunsthistoriker und Kulturwissenschaftler, Insasse im Sanatorium Bellevue in Kreuzlingen, wohin er nach einem schweren psychotischen Zusammenbruch eingewiesen worden war - er hatte gedroht, sich und seine Familie umzubringen. Leiter der psychiatrischen Heilanstalt war Ludwig Binswanger, seinerseits bedeutender Psychiater, dessen Erkenntnisse den Zugang zur Geisteskrankheit tiefgreifend verändern sollten. Bislang war aus dieser Zeit nicht viel mehr allgemein bekannt, als dass Warburg vor seinen Mitpatienten den berühmten Vortrag über das Schlangenritual der Hopi-Indianer hielt. Tatsächlich hatte er während seiner Krankheit immer wieder Phasen von geistiger Klarheit und schöpferischer Produktivität. Binswangers Krankenberichte dokumentieren Wahnvorstellungen, Aggressivität gegen das Personal, Phobien und zwanghafte Hygienerituale. Warburg, der sich selbst als »unheilbar schizoid« einschätzte, wurde erst 1924 »zur Normalität beurlaubt«.

Die hochgelobte Edition der im Universitätsarchiv Tübingen verwahrten Krankengeschichte Aby Warburgs erfüllt ein lange gehegtes Desiderat der Warburg-Forschung. Mit der nun auch auf Deutsch vorliegenden, gegenüber der italienischen um wichtige Dokumente erweiterten Ausgabe kann endlich darangegangen werden, die »Leerstelle« zwischen Werk und Psyche Warburgs zu schließen, die von seinen Biographen wie etwa Ernst Gombrich geflissentlich verschwiegen wurde.

Der Band umfasst neben den Krankenakten von der Hand Ludwig Binswangers auch die autobiographischen Aufzeichnungen Warburgs aus jener Zeit, den Briefwechsel zwischen den beiden Persönlichkeiten, Wärterprotokolle sowie Aufzeichnungen und Briefe von Warburgs Assistenten Fritz Saxl. »Die unendliche Heilung« wird zum einmaligen Zeugnis der Begegnung zweier bedeutender intellektueller Protagonisten des 20. Jahrhunderts.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.01.2008

Gegen Irrsinn hilft der Wilde Westen
Wie der Kunsthistoriker Aby Warburg sich selber heilte: Endlich gibt es die Krankengeschichte

Im Oktober 1918, kurz vor Ende des Weltkriegs, holte Aby Warburg seinen Revolver und drohte, seine Frau und die drei Kinder zu erschießen. Er hatte einen psychotisch-paranoiden Schub und war in seiner Zwangsvorstellung davon überzeugt, dass seine Familie von unbekannten Verfolgern entführt, verschleppt, gefoltert und getötet werden würde und nur der Selbstmord bliebe. Glücklicherweise konnte man dem Wahnsinnigen die Pistole rechtzeitig entwenden. Die Psychose hatte sich in den letzten Kriegsmonaten angekündigt. Warburgs Schüler Carl Georg Heise besuchte ihn Ende 1918 in Hamburg und fand ihn "völlig zerstört", aber noch nicht "irrsinnig" vor: "Sein Gehirn arbeitete fieberhaft und hemmungslos, alles übertreibend und dadurch verzerrend, doch war die Logik seiner allerdings sehr sprunghaften, immer wieder abreißenden Gedankengänge keineswegs unklar, sondern von einer auf die Spitze getriebenen Schärfe und Folgerichtigkeit, die sich eben deshalb als ungültig im Dunstkreis der Wirklichkeit erwies. Alles, was ihn je in schlaflosen Stunden gequält haben mochte, überwältigte ihn jetzt in apokalyptischen Visionen."

Warburg, der als Kunsthistoriker Bahnbrechendes geleistet hatte, als Wissenschaftler und als Direktor der von ihm aufgebauten Hamburger "Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg", verbrachte die folgenden sechs Jahre in der Psychiatrie und in Sanatorien, zuerst in Hamburg, dann in Jena und seit 1921 in Kreuzlingen am Bodensee in der Schweizer Privatklinik des Psychiaters Ludwig Binswanger. Hier wurden auch der russische Tänzer Nijinskij, der Expressionist Ernst Ludwig Kirchner und der Schauspieler Gustaf Gründgens behandelt. Über die Kreuzlinger Zeit Warburgs - und auch die Jahre in Jena - informiert die komplette Krankengeschichte, welche, sorgfältig ediert, jetzt im Diaphanes-Verlag erschienen ist.

Sensationell ist die Veröffentlichung nicht nur für die Warburg-Forschung, sondern auch weil eine derart dicht überlieferte, gut dokumentierte und zeitlich lange Krankengeschichte selten ist. Hier erfährt man, wie Anfang der zwanziger Jahre in einer fortschrittlichen Reformklinik eine Psychose behandelt wurde: als man noch nicht über Medikamente verfügte, die in ein paar Wochen die Wahnvorstellungen abklingen lassen. Binswanger stellte die Diagnose: Schizophrenie, die man damals auch als Dementia praecox, frühzeitige Demenz, bezeichnete. Erst als Warburg bereits zwei Jahre in Kreuzlingen war, führte der Starpsychiater Emil Kraepelin eine weitere Diagnose durch und korrigierte das Krankheitsbild zum "manisch-depressiven Mischzustand" - eine weitaus günstigere Diagnose; denn deren Symptome sind reversibel. "Prognose entsprechend, durchaus günstig", schrieb Kraepelin in die Krankenakte, auch wenn er von einer sofortigen Entlassung abrät, "gerade weil es sich um einen akuten Fall handelt, und die Entlassung den Heilungsprozeß nur verzögert".

Ludwig Binswanger war etwas verschnupft angesichts dieser Korrektur seiner Diagnosekünste - und doch sollte er mit seinem Vorschlag an Warburg, einen Selbstheilungsakt zu versuchen, den entscheidenden Anstoß zu dessen endgültiger Heilung geben. Im Jahr 1923 empfahl er Warburg, so etwas wie eine Autobiographie zu verfassen. Warburg machte sich an die Arbeit und diktierte der Stationsschwester ein autobiographisches Fragment, das ebenfalls im Band enthalten ist. Dann fasste er den Plan, einen Vortrag über seine Arizona-Reise von 1895 zu verfassen. Damals war er nach Santa Fé und Albuquerque aufgebrochen, um die Stammesriten der Pueblo-Indianer zu studieren. Ende des Jahrhunderts hatte die Reise zunächst keinen direkten wissenschaftlichen Ertrag gebracht. Jetzt wollte er sich mit Hilfe seines Mitarbeiters Fritz Saxl an die Ausarbeitung seiner Erlebnisse machen. Mit dem erst postum veröffentlichten Vortrag sollte er Wissenschaftsgeschichte schreiben.

Aby Warburg wurde 1866 geboren. Der Vater leitete das Hamburger Bankhaus M. M. Warburg & Co, das Aby, das älteste von sieben Kindern, einmal übernehmen sollte. Aby begehrte früh gegen das orthodox jüdische Elternhaus auf. Seine jüngeren Brüder Max, Paul und Felix wurden später Bankiers - der selbstbewusste Aby hatte anderes im Sinn. Der Bruder Max überlieferte die Anekdote, die Teil der Warburg-Legende werden sollte: "Als er dreizehn Jahre alt war, offerierte er mir sein Erstgeborenenrecht. (. . .) Er offerierte es mir aber nicht für ein Linsengericht, sondern verlangte von mir eine Zusage, dass ich ihm immer alle Bücher kaufen würde, die er brauchte. Hiermit erklärte ich mich nach sehr kurzer Überlegung einverstanden. Ich sagte mir, dass schließlich Schiller, Goethe, Lessing, vielleicht auch noch Klopstock von mir, wenn ich im Geschäft wäre, doch immer bezahlt werden könnten, und gab ihm ahnungslos, wie ich heute zugeben muss, sehr großen Blankokredit. Die Liebe zum Lesen, zum Buch war seine frühe, große Leidenschaft."

Nachdem er also sein Erstgeburtsrecht verkauft hatte, machte er, gegen den Willen der Eltern, ein altsprachliches Abitur und begann sein Studium der Kunstgeschichte und Geschichte. Obwohl Warburg später zwei Rufe auf kunsthistorische Lehrstühle erhielt, wollte er Privatgelehrter bleiben und eine "kunsthistorische Station" in Hamburg gründen. Ab 1900 betrieb er systematisch den Aufbau einer Bibliothek, der späteren "Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg". Warburg kaufte ein Haus an der Alster für seine Familie und die Bibliothek.

Warburg gilt in der Wissenschaftsgeschichte als Erfinder der Ikonologie, einer Methode, die bei der Deutung von Kunstwerken den "Zeitgeist" mit einbeziehen will und aus ganz unterschiedlichen Medien wie Kunsthandwerk, Literatur oder auch so prosaischen Dingen wie Kaufverträgen und Sammlungskatalogen Bildgehalte rekonstruiert. Von Warburg, der zeitlebens als Kunsthistoriker eher eine esoterische Berühmtheit blieb, stammen Begriffe wie "Denkräume" und "Pathosformel", die in den Sprachgebrauch seiner Disziplin eingegangen sind. Sein Lebenshauptwerk aber ist die Warburg-Bibliothek, die mit ihrer speziellen Systematik heute eine der wichtigsten Fachbibliotheken der Welt ist. Nach Warburgs Tod 1929 konnte Fritz Saxl als Bibliotheksdirektor das Projekt bis 1938 weiterführen - und die Bibliothek vor den Nazis nach London retten, wo sie noch heute residiert.

In der Kreuzlinger Klinik treiben Warburg schlimme paranoide Phantasien um. Er leidet jahrelang unter der Zwangsvorstellung, dass seine Familie geschlachtet und ihm zum Essen vorgesetzt würde. Kartoffeln sind für ihn Eiterklumpen, sein Steak ist aus Menschenfleisch. Warburg hat heftige cholerische Ausbrüche und muss zeitweise von vier kräftigen Pflegern zur Einnahme seines Veronals gezwungen werden. Die Psychopharmakologie steckt noch in ihren Kinderschuhen. Kraepelin ordnet eine Opiumkur an, die Warburgs Befinden allerdings nur verschlimmert. Jedoch verbessert sich Warburgs Zustand mit der Zeit, und im März 1923 kann ihn der Getreue Fritz Saxl zu intensiven Arbeitssitzungen in der Psychiatrie besuchen. Im April 1923 kann Warburg dann vor Ärzten, Schwestern, Patienten und eingeladenen Freunden seinen Reisebericht vortragen. Im Mittelpunkt des Vortrages steht das Schlangenritual, dessen Zeuge er bei seinem Besuch eines dreitägigen Fests der Pueblo-Indianer wurde.

Wenngleich dieser Vortrag Warburg selbst "formlos und philologisch schlecht fundiert" zu sein schien (und er sich die Veröffentlichung verbat), entwickelte er darin eine umfassende Theorie der rituellen Symbolik. Die Schlangen repräsentierten für die Pueblo-Indianer Blitze, und die Herrschaft über die Schlangen garantierte die magische Kontrolle über das überlebenswichtige Wetter. Revolutionär an Warburgs Vortragstechnik war neben der formalen Multimedialität - er zeigte viele Lichtbilder und reprographiertes Material - jene Interdisziplinarität, die maßgebend für die heutige Kulturwissenschaft ist. Neben der in Warburgs Vortrag vertretenen These, dass sich Aufklärung immer wieder mit dem Rückfall in die Magie produktiv auseinanderzusetzen habe - dreizehn Jahre vor Horkheimer und Adorno -, lieferte er das formale Paradigma für eine kulturvergleichende Wissenschaft. Warburgs Arzt Ludwig Binswanger war zwar zufrieden mit dem Selbstheilungsprojekt, merkte aber säuerlich an, dass dem Vortrag im Ganzen - krankheitstypisch - der rote Faden fehlte. 1938, fast zehn Jahre nach Warburgs Tod, veröffentlichte Fritz Saxl eine von ihm überarbeitete englische Fassung des Vortrags, den der Wagenbach-Verlag 1988 auf Deutsch herausbrachte. Leider sind alle Ausgaben heute vergriffen.

Im August 1924 konnte Warburg in seine Hamburger Bibliothek zurückkehren; die Wahnvorstellungen waren fast vollständig abgeklungen. Mit Ludwig Binswanger, den er in seinen Wahnattacken als die "verfluchte Binswangerei" zu bezeichnen pflegte und den er stets verdächtigte, zu den "Verfolgern" zu gehören, verband ihn bis zu seinem Tod eine intensive Brieffreundschaft, die im Diaphanes-Band vollständig dokumentiert ist. 1925 schrieb Binswanger an Warburg: "Ich halte Sie jetzt keineswegs mehr für zur Normalität beurlaubt, sondern als endgültig entlassen."

Der "Selbstheilungsakt" des Vortrags ist selbst das, wovon er handelt: Heilung der immer prekären Aufklärung durch Kreativität, der Bann der dunklen Magie durch ästhetische Anschauung.

MARIUS MELLER.

Ludwig Binswanger, Aby Warburg: "Die unendliche Heilung. Aby Warburgs Krankengeschichte." Diaphanes, Zürich/Berlin 2007. 287 Seiten, 28,20 Euro

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 25.08.2008

Der Gefesselte von Kreuzlingen oder Nachrichten aus dem Parkhaus
Durch den Tod hindurchgegangen: Ein notwendiges und zugleich verstörendes Buch dokumentiert die Krankheitsjahre des Kunsthistorikers Aby Warburg
In seiner Besprechung der Gesammelten Schriften von Aby Warburg kam der Burckhardt-Forscher Werner Kaegi 1933 in der Neuen Schweizer Rundschau als einer der ersten Autoren unverhohlen auf Warburgs Krankheitsjahre und den Aufenthalt im Sanatorium Bellevue in Kreuzlingen zu sprechen. Der angehende Historiker war dem Hamburger Gelehrten im Herbst 1921 bei einem Spaziergang im Park zufällig begegnet und mit ihm in ein kurzes Fachgespräch über die Florentiner Kulturgeschichte geraten. Ebenso überrascht wie beeindruckt von dem Kenntnisreichtum und der Beredtheit des Kranken hat sich die Begegnung dem Studenten tief eingeprägt.
In seiner Erinnerung zeichnet Kaegi das Janusgesicht der Krankheit, die zwischen Furor, Stupor und Humor schwankt: Der da unter Bäumen sich ergeht, kann in lichten Momenten sein Gegenüber fast vollständig vergessen machen, dass er seit Herbst 1918 an schweren Depressionen und Wahnvorstellungen leidet und seinen Alltag nur medizinisch behütet verbringen kann. Und dass sich die Wiederaufnahme seiner wissenschaftlichen Arbeit am Ende tatsächlich – und gegen die ärztliche Einschätzung – als das zentrale Element der Rettung erweisen wird, ist die überraschende Wende oder vielleicht auch das Wunder der Heilung, das sich gegen Ende der sechs Jahre dauernden Passion eingestellt und Warburg, „zur Normalität beurlaubt”, so die Selbstdiagnose, aus der Schweiz zurück nach Hamburg an seinen Schreibtisch in der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek (KBW) geführt hat.
Das stolze Monogramm der KBW, das ab 1926 die Klinkerfassade des Gebäudes zieren wird, buchstabiert sich für die Jahre der Erkrankung noch ganz anders aus: Krieg, Krankheit und Kreuzlingen, Bellevue und Binswanger, Wahn und Warburg. Von dieser Zeit ist in der jüngeren Warburg-Literatur häufig kursorisch die Rede gewesen. Dass es Warburg gelungen ist, seinen Vortrag über das „Schlangenritual” am 21. April 1923 vor Ärzten, Patienten und Bekannten zum Zeichen seiner Genesung im Bellevue zu halten, hat im Verein mit seinen spektakulären, das Aufgabengebiet der Kunstgeschichte in die Kulturgeschichte und Anthropologie hinein erweiternden Themen und Thesen für große Aufmerksamkeit gesorgt. Leben und Werk sind hier unmittelbar miteinander verknüpft – ein kreativer Nexus, auf den als erster Carl Georg Heise in seinen „Persönlichen Erinnerungen an Aby Warburg” (1947) und später Ulrich Raulff anlässlich der Edition des heute international breit diskutierten Kreuzlinger Vortrages hingewiesen hat (1988).
Ernst Gombrich hat dieses Kapitel in seiner Warburg-Biographie (1970) nur gestreift. Wäre er einer Maßgabe gefolgt, die er selber vier Jahre zuvor in einem Hamburger Vortrag formuliert hatte, hätte er ebenfalls zur Entdämonisierung Warburgs beitragen können, und man wüsste seit langem nicht nur, wie es um den Gelehrten gesundheitlich bestellt war, sondern vor allem, wie der schwierige Prozess der Rekonvaleszenz sich im einzelnen vollzogen hat, und zwar tatsächlich weitgehend nach dem Modell des Freiherrn von Münchhausen, der sich am Schopf aus dem Sumpf zog. „Was späterhin”, so bereits Heise, „in vergleichbarer Lage andere mit den geschliffensten Mitteln psychoanalytischer Therapeutik an sich haben vollziehen müssen, das hat er im wesentlichen allein geleistet, und seiner neu gefestigten Gesundheit fehlte daher auch alles Gekünstelte, er war, wie er das selbst ausgedrückt hat, ein Revenant, einer, der durch den Tod hindurchgegangen und ein neues, höheres Leben schon auf dieser Erde gewonnen hatte.”
Heises Einschätzung wird durch den ausführlichen Dokumentationsband über Warburgs Kreuzlinger Jahre, der auf dem Weg über Italien (2005) und Frankreich (2007) jetzt in einer erweiterten Ausgabe auch auf Deutsch vorliegt, in fast allen Punkten bestätigt. Nur die Rolle Fritz Saxls, der als Kollege und Vertrauter in Warburgs Abwesenheit in Hamburg erfolgreich die Geschicke der Bibliothek lenkte, mit Warburg in regem Briefwechsel stand und ihn regelmäßig in Kreuzlingen besuchte, um ihn Schritt für Schritt wieder an die Wissenschaft heranzuführen, konnte von Heise noch nicht ausreichend gewürdigt werden. Liest man Saxls jetzt erstmals publizierte Kreuzlinger Aufzeichnungen, in denen er sich Sorgen über den Fall Warburg macht, aber auch seine eigene Zukunft an der Seite eines Mannes, den er verehrt und zugleich als „harten Saturn-Vater” ansieht, klarlegt, wird deutlich, dass er als ein entscheidender Mittelsmann, wenn nicht gar als der eigentliche Therapeut Warburgs zu gelten hat.
Dieser hat später geäußert, er sei „gemacht für eine schöne Erinnerung”. Wer das von dem Komparatisten Davide Stimilli und der Wissenschaftshistorikerin Chantal Marazia edierte Konvolut der Krankenakte nebst der Auswahl an Korrespondenzen von und an Binswanger und Warburg durchsieht, macht eine ebenso verstörende wie ermutigende Erfahrung: Er beobachtet durch die Brille der Ärzte und Wärter einen Menschen in seiner höchsten seelischen und körperlichen Not, häufig „außer sich”, gelegentlich sogar handgreiflich gegen das Personal oder aber im Selbstgespräch mit Schmetterlingen und Faltern, aber von Zeit und Zeit, oft am Nachmittag, wenn sich der Kranke selbst wieder gefangen hat, in vertrauten Unterhaltungen mit Mitpatienten und Besuchern, darunter immer wieder neben der Familie auch Freunde und Kollegen, so der „Sternenfreund” Franz Boll oder der Philosoph Ernst Cassirer, die Warburg das Gefühl vermitteln, als „Gefesselter von Kreuzlingen” keineswegs auf völlig verlorenem Posten zu stehen. In den Akten heißt es dann: „Patient unterhielt sich mehrere Stunden aufs anregendste, fiel durch äußerlich klares Denken und Argumentation in wissenschaftlichen Dingen auf.”
Das Buch stürzt den Leser in ein Wechselbad der Gefühle, es ist ob der Härte der klinischen Fakten und der Lakonik des Reports nicht leicht zu verkraften, wenn es etwa unvermittelt heißt: „Patient bittet um Pistole, da er sich mit Referent erschießen wolle.” Auch kann sich der Leser, ungebeten wie er eigentlich ist, als Voyeur fühlen, der einem Leben an der Grenze persönlicher Integrität und Intimität zusieht, und fragen, ober er denn dies wirklich alles wissen möchte oder muss. Die bekannte Terenz-Devise „Ich bin ein Mensch, nichts Menschliches ist mir fremd” kommt einem in den Sinn, und nur die Aussicht auf Warburgs „vielleicht größten Triumph” (Heise) erleichtert das Weiterlesen.
Es wird deutlich, wie wenig Warburg ein Mann des 19. Jahrhunderts war. Seine Vita teilt sich ziemlich genau hälftig auf die beiden Jahrhunderte: Im 19. hat er sich durch Studium und einige grundlegende Untersuchungen erste akademische Meriten verdient, erst im 20. Jahrhundert aber hat er das moderne Konzept einer fächerübergreifenden Forschungsbibliothek entwickelt und das Programm in Denkmodellen und Projekten umgesetzt, die bis heute Früchte tragen. Das vorige Jahrhundert hat ihn durch den Ersten Weltkrieg im wahrsten Sinn des Wortes erschüttert und auf Zeit in den Wahn getrieben, dessen Phantasien, nachzulesen im vorliegenden Band, auf den Zweiten Weltkrieg samt Pogromen und Holocaust vorausweisen. Dass der Patient Warburg schließlich seine Selbstheilung unter Aufsicht der Ärzte und mithilfe der Familie, Freunde und Kollegen und vor allem mit wissenschaftlicher Denkarbeit hat vorantreiben können, gehört ebenfalls ganz zum Erfahrungspotential und -schatz des 20. und nicht des 19. Jahrhunderts, als das Sanatorium mit dem verheißungsvollen Namen „Bellevue” noch „Asyl” und später „Kuranstalt für Nerven- und Gemütskranke” hieß.
Es sind nur wenige Kritikpunkte an dieser verdienstvollen Edition angebracht, deren Einleitung angesichts der Bedeutung des Gegenstandes um einiges zu knapp geraten (und leider holprig übersetzt) ist: Ob man so weit gehen musste, auch die trockenen medizinischen Statistiken aufzunehmen, darunter den tabellarisch aufgelisteten Körperbefund, die verabreichten Dosen der Opiumkur, die Speiseliste, vor allem aber das Anamnese-Dossier, in welchem die Großfamilie Warburg betreffs psychischer Erkrankungen auf dem ärztlichen Prüfstand steht, mag dahingestellt bleiben. Dass Aby Warburg im übrigen in den Kreuzlinger Jahren sehr eifrig sein Tagebuch fortgeführt hat, sei nicht nur am Rande vermerkt; möglich, dass er eines Tages auch selbst wieder stärker zu Wort kommt. Denn dass Ludwig Binswanger Warburg im Titel bibliographisch prominent und der Sache nach, wie wir jetzt wissen, nur bedingt gerechtfertigt voransteht, entspricht zwar der Ordnung des Alphabets, bildet aber zugleich das hierarchische Verhältnis von Arzt und Patient ab und hätte daher im Sinne einer anderen Parität auch aufgehoben werden können. Dass Warburg auf dem Buchumschlag in einer notorisch gewordenen Fotografie des Jahres 1912 erscheint, demnach in einem Porträt der Vor-Zeit von Krieg und Krankheit, mag dem Werbeeffekt geschuldet sein, den Umständen des Lebensabschnitts, der hier in Rede steht, entspricht es nicht. MICHAEL DIERS
LUDWIG BINSWANGER, ABY WARBURG: Die unendliche Heilung. Aby Warburgs Krankengeschichte. Hrsg. von Davide Stimilli und Chantal Marazia. Aus dem Italienischen von Sabine Schulz. Diaphanes Verlag, Berlin 2007. 272 Seiten, 28,90 Euro.
Dem depressiven Warburg gelang die Selbstheilung durch wissenschaftliche Arbeit
„Patient bittet um Pistole, da er sich mit Referent erschießen wolle.”
Aby Warburg in Baden-Baden, 1929, im Jahr seines Todes. Das Bild entnehmen wir Karen Michels’ Buch „Aby Warburg”, 2007 erschienen im Verlag C. H. Beck.
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Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Von dem Foto auf dem Buchumschlag lässt sich Michael Diers nicht in die Irre führen. Hier geht?s nicht um den Warburg der Vorkriegszeit, sondern um die Krankenjahre des berühmten Kunsthistorikers, ein laut Diers eher bescheiden beackertes Gebiet in der jüngeren Warburg-Literatur. Um so verdienstvoller erscheint Diers die deutsche Erstausgabe des Buches von Davide Stimilli und Chantal Marazia. Stürzt die Edition von Warburgs Krankenakte den Rezensenten auch in ein Wechselbad der Gefühle, zwischen Verstörung (über die Härte der klinischen Fakten aus dem Sanatorium Kreuzlingen) und Ermutigung (über Warburgs selbsttherapeutische Energie), so entschließt sich Diers dennoch dazu, beim Betrachten des intim Menschlichen in diesem Buch sich nicht als Voyeur zu fühlen, sondern die Person Warburg, ihre Verwurzelung im 19. Jahrhundert, ihren durch den Ersten Weltkrieg mitbedingten Wahn und ihre Heilung aufmerksam und mit Gewinn nachzuvollziehen.

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»Die Süddeutsche Zeitung listet das Buch unter den wichtigsten aktuellen Neuerscheinungen im Bereich Sachbuch.« Alexandra Mangel, Deutschlandradio Kultur