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An einem Nachmittag im Oktober 2013 kommen die zwei Teenagerschwestern Ayan und Leila nach der Schule nicht wie gewohnt nach Hause. Stattdessen schicken sie eine E-Mail - mit einer Nachricht, die ihren Eltern und Geschwistern schier die Luft zum Atmen nimmt: Die beiden Schwestern befinden sich auf der Reise nach Syrien, um sich dort dem Islamischen Staat anzuschließen. Sofort begibt sich ihr Vater auf die Suche nach ihnen mitten hinein ins Kriegsgebiet. Auf seiner verzweifelten und lebensgefährlichen Odyssee kooperiert er mit Schmugglern, Geheimdiensten und Terrormilizen. Wieso haben seine…mehr

Produktbeschreibung
An einem Nachmittag im Oktober 2013 kommen die zwei Teenagerschwestern Ayan und Leila nach der Schule nicht wie gewohnt nach Hause. Stattdessen schicken sie eine E-Mail - mit einer Nachricht, die ihren Eltern und Geschwistern schier die Luft zum Atmen nimmt: Die beiden Schwestern befinden sich auf der Reise nach Syrien, um sich dort dem Islamischen Staat anzuschließen. Sofort begibt sich ihr Vater auf die Suche nach ihnen mitten hinein ins Kriegsgebiet. Auf seiner verzweifelten und lebensgefährlichen Odyssee kooperiert er mit Schmugglern, Geheimdiensten und Terrormilizen. Wieso haben seine Töchter freiwillig ihr sicheres Leben aufgegeben? Wieso wurden im Vorfeld die Zeichen nicht richtig gedeutet? Und wie schafft er es, sie wieder zurückzuholen, notfalls auch gegen ihren Willen? Åsne Seierstad beleuchtet das Thema in seiner gesamten Komplexität. Sie deckt nicht nur die Hintergründe der Radikalisierung sowie die Auswirkungen auf die Hinterbliebenen auf, sondern gewährt auch dramatische Einsichten in das Leben und Überleben im Terrorstaat.
Autorenporträt
Seierstad, ÅsneÅsne Seierstad, geboren 1970 in Oslo, arbeitete als Korrespondentin und Kriegsberichterstatterin für verschiedene internationale Zeitungen und ist Autorin mehrerer Sachbücher. Sowohl als Journalistin als auch für ihre weltweiten Bestseller »Der Buchhändler aus Kabul« (2002) und »Einer von uns« (2016) wurde sie vielfach ausgezeichnet. Sie lebt in Oslo.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.10.2017

Backen für den Heiligen Krieg

Die eine wollte Diplomatin werden, die andere Anwältin. Dann wurden sie beide Islamistinnen. Åsne Seierstads Buch rekonstruiert den Weg zweier junger Mädchen aus Norwegen nach Raqqa

Als der sogenannte Islamische Staat vor gut einer Woche seine inoffizielle Hauptstadt Raqqa verloren hatte, ging ein Foto um die Welt, das die syrische Kurdin Rojda Felat in Uniform und glücklich lachend inmitten zerbombter Häuser zeigte. Die Kommandantin hatte die Militäroffensive auf Raqqa angeführt. Dass der IS ausgerechnet von einer Frau aus der Stadt vertrieben worden ist, dürften die Dschihadisten als besondere Demütigung empfunden haben. In ihrer Weltsicht haben Frauen einzig dem Ehemann zu dienen und neue Glaubenskrieger zu gebären.

Für Leila und Ayan, zwei Norwegerinnen somalischer Herkunft, war die Rollenverteilung beim IS kein Grund, ihre Entscheidung in Frage zu stellen. Im Jahr 2013, sie waren da 16 und 18 Jahre alt, reisten die Schwestern nach Syrien. Zuletzt meldeten sie sich aus Raqqa, gut sechs Monate ist das jetzt her. Ihr Vater, Sadiq Juma, hat mehrfach die Reise in den Krieg gewagt, um sie zurückzuholen. Nur einmal gelingt ihm ein Treffen mit Ayan, fünf Minuten gibt man ihm Zeit. Schwarz verschleiert tritt sie zu ihm, der Niqab lässt nur ihre Augen frei: "Papa, fahr nach Hause. Wir kommen nicht mit, wir sind jetzt hier zu Hause. Wir haben hier geheiratet", sagt sie kalt.

Was bewegt zwei begabte junge Frauen, von denen die eine Diplomatin werden wollte und die andere Anwältin, sich gegen die westliche Kultur zu entscheiden und fanatische Islamistinnen zu werden? Und welche Folgen hat das für ihre Familie? Die Norwegerin Åsne Seierstad, die zuletzt in "Einer von uns" die Biographien des Massenmörders Anders Breivik und seiner Opfer vorlegte, hat den Weg der Schwestern bis ins Detail rekonstruiert. Das Ergebnis ist ein großartiges Buch, das weit über das hinausreicht, was bisher über junge IS-Anhänger aus Europa zu lesen war. Um anderen ihr Schicksal zu ersparen, bat die Familie Seierstad, ihre Geschichte aufzuschreiben, ließ sich stundenlang interviewen und stellte ihr alles zur Verfügung, was von den Mädchen erzählt. Die Journalistin sprach mit Imamen und mit islamistischen Predigern, mit Freunden, Weggefährten, Lehrern. Sie protokollierte, was die Schwestern schreiben, wenn sie in Syrien online gehen, und zeichnete den Weg der Clique nach, in der beide sich zuletzt in Oslo bewegten. Seierstad belässt es jedoch nicht bei der Schilderung persönlicher Schicksale, sie gibt auch den politischen Zusammenhängen, dem Krieg im Nahen Osten und der Entstehung des IS, dessen Struktur und Funktionsweise breiten Raum. Als Sadiq Juma realisiert, dass er bis in ihr Wohnzimmer reicht, haben Leila und Ayan Norwegen schon seit Stunden verlassen.

Alles scheint wie immer an diesem Oktobermorgen zu sein, an dem die Mädchen, bepackt mit ihren Schultaschen, die Wohnung verlassen. "Sie haben uns mit Umarmungen betäubt", wird Sadiq Juma später sagen. Warum die Töchter an diesem Tag nicht nach Hause kommen, teilen sie den Eltern per E-Mail mit: "Wir haben Euch sooo lieb, und Ihr habt uns alles im Leben gegeben. Dafür sind wir Euch ewig dankbar", schreiben sie. "Die Muslime werden heutzutage aus allen Richtungen angegriffen, und da müssen wir etwas tun. Wir wollen ihnen so gerne helfen, aber wirklich helfen können wir ihnen nur, wenn wir ihnen in Freud und Leid zur Seite stehen." Nur zu Hause zu sitzen und Geld zu spenden habe keinen Sinn. Deshalb seien sie auf dem Weg nach Syrien. Ein Jahr lang haben sie heimlich auf diesen Tag hingearbeitet.

Als kleine Kinder waren sie nach Norwegen gekommen, als Flüchtlinge des somalischen Bürgerkriegs. Der Vater lebte sich schnell ein, lernte Norwegisch, fand Freunde und Arbeit. Die Mutter verweigerte sich komplett der neuen Heimat. Aus Angst, ihre Kinder könnten sich als Teenager zu weit von der somalischen Kultur entfernen, engagiert sie einen Koranlehrer. Naiv und wenig an Politik interessiert, folgt sie dabei einer Empfehlung der berüchtigten Osloer Taufiq-Moschee. Koranlehrer Mustafa sei neunzehn Jahre alt, gutaussehend und lege Wert auf gute Manieren, wird ihr gesagt. Der Mutter entgeht, worauf die harmlos wirkenden Lektionen stets hinauslaufen: Wer zu sehr in die dekadente und unmoralische norwegische Gesellschaft eintauche, zerstöre seine Reinheit und lande in der Hölle. Frauen könnten sich nur retten, indem sie sich komplett verhüllen und jeglichen Körperkontakt mit Männern vermeiden. Als Mustafa sich nicht von der Terrorgruppe al Shabaab distanziert - ihr wird das am 14. Oktober in Mogadischu verübte Sprengstoffattentat zugeschrieben, das 300 Menschen tötete -, verweigert sich Ismael, der ältere Bruder von Ayan und Leila, dem Unterricht. Die Schwestern aber fühlen sich geschmeichelt, wenn Mustafa ihre Fortschritte im Arabischen lobt. Übers Internet kommen sie in Kontakt mit einer Gruppe muslimischer Studenten, die sich nicht angenommen fühlen in der norwegischen Kultur. Die Gruppe kritisiert, die Religionsausübung der Eltern sei zu sehr von den Traditionen der jeweiligen Herkunftsländer bestimmt, was fehle, sei ein wirkliches Verhältnis zu Allah. Sie glauben, es durch eine strenge Auslegung des Islams finden zu können. Sie folgen einem Regelwerk, das sie umschließt wie ein sicheres Korsett.

Heimlich und gegen den Willen ihrer Eltern beginnen Ayan und Leila, den Niqab zu tragen. Ayan startet eine regelrechte politische Kampagne, als man ihr die Komplettverschleierung in ihrer Schule untersagt. Åsne Seierstad gibt den E-Mail-Austausch zwischen Ayan und der Schulleitung wieder: Ayan argumentiert selbstbewusst und feministisch - wie sie es in Norwegen gelernt hat. Mit einer Unterschriftenaktion versucht sie sogar, das Schulrecht zu ändern.

Gut möglich, dass Ayan zu diesem Zeitpunkt schon wusste, wen sie in Syrien heiraten wird: einen Norweger mit äthiopischen Wurzeln, der ihr intellektuell weit unterlegen ist, aber schon 2012 zum IS gegangen war. Åsne Seierstad urteilt nicht über Ayan und Leila, und trotzdem beschleicht einem bei der Lektüre ihres Buches ein Gefühl von Wut. Hier agieren keine Opfer, sondern zwei geltungssüchtige, egozentrische junge Frauen. Muslimen helfen zu wollen, hatte ihre Begründung für den eigenen Abschied gelautet. Doch die Mädchen helfen niemandem. Eine Weile arbeiten sie ehrenamtlich in einem Krankenhaus. Dann beschließt Ayans Ehemann, dass das Hospital kein guter Ort für die Mädchen und es besser sei, wenn sie einfach zu Hause blieben. Die Schwestern scheint das nicht zu stören. Mit anderen europäischen IS-Anhängerinnen tauschen sie im Internet Kochrezepte aus, besonders beliebt bei den Ehemännern sind offenbar Pfannkuchen mit Zucker oder Nutella. Sie werden Mütter und genießen das Gefühl von Abenteuer und die Privilegien, mit denen der IS - zumindest in seiner Anfangszeit - europäische Zuwanderer belohnt. Auf Facebook schwärmt Leila von der "superschönen Villa, mit eigenem Hinterhof, Garten", in die sie in Raqqa eingezogen sind. Sogar zwei Kaninchen gebe es dort, jubelt sie und verschwendet keinen Gedanken an die syrische Familie, die zuvor aus dem Haus vertrieben wurde und alles zurückgelassen hat. Ayan schreibt ihrem Bruder Ismael: "Wir bekommen hier btw Geld, ohne dafür zu arbeiten. Hee, hee. Häuser kosten nichts, Strom kostet nichts, Wasser kostet nichts." Als der Vater auf der Suche nach seinen Töchtern in IS-Gefangenschaft gerät und beinahe hingerichtet wird, reagiert Ayan eiskalt: "Wenn er spioniert, muss er eben bestraft werden." Die Schwestern werden immer dogmatischer. Sie scheinen nichts in Frage zu stellen, weder theologisch noch mit dem Herzen oder dem gesunden Menschenverstand. Eine Irakerin aus Norwegen, die noch eine Weile mit Ayan chattet, schreibt ihr schockiert von der Vergewaltigung jesidischer und kurdischer Frauen durch IS-Kämpfer. Das entspreche nicht dem Islam. Ayans Antwort: "Das sind keine Frauen, das sind Kriegsgefangene." - "Was?" - "Steht im Koran. Das ist erlaubt. Die Krieger brauchen Befriedigung. Das sind schließlich Männer."

Und zu ihrer Mutter sagt sie am Telefon: "Der Islamische Staat hat bald die ganze Welt in der Hand, am besten kommt ihr so schnell wie möglich. Bevor alle anderen kommen." Während die Familie sich in dem Versuch, die Mädchen zurückzuholen, hoch verschuldet hat und immer weiter auseinanderdriftet, backen die Mädchen in Syrien Pfannkuchen. Ihr Bruder Ismael wendet sich in Norwegen enttäuscht vom Islam ab.

Wann muss man akzeptieren, dass die eigenen Kinder Erwachsene sind, die einen Weg wählen, den man selbst für den falschen hält? Sadiq Juma sperrt sich lange gegen die Realität. Aus Scham und Enttäuschung belügt er nicht nur sich: Leila und Ayan wollten unbedingt zurück, behauptet er gegenüber Freunden und Medien. Irgendwann hört die Familie dann auf, die Töchter dazu überreden zu wollen. Sie begnügt sich damit zu wissen, dass sie am Leben sind. Einige Freunde der Schwestern sind in Syrien getötet worden. Ob sie selbst Raqqa rechtzeitig verlassen konnten, ist ungewiss. Nach der Erstürmung der Stadt hätten Bewohnerinnen sich ihre schwarze Verschleierung vom Leib gerissen und ihre Befreierin Rojda Felat umarmt, stand in der Zeitung. Die beiden Schwestern waren sicherlich nicht unter diesen Frauen.

KAREN KRÜGER

Åsne Seierstad: "Zwei Schwestern. Im Bann des Dschihad". Aus dem Norwegischen von Nora Pröfrock. Verlag Kein & Aber, 528 Seiten, 26,00 Euro

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 21.11.2017

Emanzipiert, verblendet
Warum schließen sich norwegische Mädchen dem IS an? Åsne Seierstads „Zwei Schwestern“
„Frauenkampf“ heißt der Schulaufsatz der fünfzehnjährigen Ayan Juma und aus jedem Wort liest man Empörung: „Wir müssen erbärmliche kleine Männerratten zur Welt bringen, die unsere Liebe und Fürsorge bekommen, bis eines Tages Männer aus ihnen werden, die auch wieder nur ihre Frauen unterdrücken.“ Vier Jahre später, im Oktober 2013, wird dieselbe Ayan Juma Norwegen in Richtung Syrien verlassen, um sich zusammen mit ihrer sechzehnjährigen Schwester Leila dem sogenannten Islamischen Staat anzuschließen. Sie wird einen norwegischen IS-Kämpfer heiraten, eine Tochter zur Welt bringen und sich fortan darum kümmern, den Nachwuchs für das „Kalifat“ aufzuziehen.
Wie konnte es dazu kommen? Wie konnte ein feministisch bewegtes Mädchen sich mit einer frauenverachtenden Terrororganisation identifizieren? Genau das versucht die norwegische Journalistin Åsne Seierstad in ihrem Buch „Zwei Schwestern. Im Bann des Dschihad“ zu ergründen. Sie erzählt darin von der Radikalisierung der Geschwister, die als Kinder mit ihrer Familie vor dem somalischen Bürgerkrieg in die norwegische Kleinstadt Bærum flohen. Sie erzählt aber auch von deren Eltern, Sara und Sadiq Juma, die sich verzweifelt fragen, an welchem Punkt ihnen ihre Töchter abhanden gekommen sind.
Nun ist diese Frage nicht neu, seit Jahren versucht die Öffentlichkeit zu verstehen, warum Jugendliche ihr sicheres, liberales Zuhause hinter sich lassen, um auf der Seite von Verbrechern in einem brutalen Krieg zu kämpfen. Das Erstaunliche an Seierstads Buch ist also nicht die Frage, die es stellt, sondern die Art, wie es sich einer Antwort annähert. Über weite Strecken liest sich „Zwei Schwestern“ nicht wie ein Sachbuch, sondern wie ein Roman. Das liegt zum einen an der Dringlichkeit der Geschichte, die noch immer auf ihr Ende wartet. Ayan und Leila halten sich nach wie vor in Syrien auf. Ob sie und ihre Kinder den Krieg überleben werden, ist ungewiss.
Der eigentliche Grund aber, warum das fünfhundertseitige Buch zusammenzuschnurren scheint wie ein klug angelegter Thriller, ist Seierstads Erzählweise. Die Autorin bedient sich in „Zwei Schwestern“ der Methoden des „literarischen Journalismus“. Sie berichtet nicht nur, was vorgefallen ist, sie rekonstruiert das Vorgefallene. Sie schildert Szenen aus der Sicht ihrer Protagonisten, beschreibt Gedanken, Gefühle, kleinste Details einer Umgebung. Auch über Anders Breivik, den rechtsradikalen Attentäter der in Olso und auf der Insel Utøya 77 Menschen ermordete, hat sie mit dieser Methode ein Buch geschrieben.
Ayans Motivation, zusammen mit ihren Freundinnen der salafistischen Jugendorganisation „Islam Net“ beizutreten, erklärt die Autorin folgendermaßen: „Die Leute waren cool, es fühlte sich richtig an, und außerdem waren krass viele süße Jungs dabei.“ Den Schmerz, den die Mutter spürt, nachdem ihre Töchter nach Syrien aufgebrochen sind, fasst sie so zusammen: „Sara fühlte sich, als hätte man ihr ein Stück ihres Körpers entrissen.“ Als der Vater Sadiq die türkisch-syrische Grenze überquert, um seine Töchter zu suchen, beschreibt Seierstad nicht nur die Disteln am Straßenrand, sondern auch den „rosafarbenen Lichtstreif“, der die abendliche Landschaft erhellt.
Ist es legitim, eine reale Geschichte derart süffig zu erzählen? Seierstad wurde für ihre Herangehensweise in der Vergangenheit durchaus schon kritisiert. Die Protagonisten ihres Buchs über einen afghanischen Buchhändler aus dem Jahr 2002 verklagten die Journalistin. Sie sahen ihre Privatsphäre verletzt und beschuldigten die Autorin, die Unwahrheit geschrieben zu haben. Ein norwegisches Gericht wies diese Vorwürfe schließlich zurück und bestätigte, dass Seierstad in „Der Buchhändler von Kabul“ sorgfältig recherchiert habe. Auch „Zwei Schwestern“ beruht auf ausführlichen Recherchen, die Seierstad in einem Anhang erläutert. Die Autorin sprach nicht nur mit der Familie von Ayan und Leila, sondern auch mit ihren Freundinnen, Lehrern und Klassenkameraden. All diese Perspektiven versammelt Seierstad im Buch, dazwischen montiert sie Auszüge aus E-Mails, Chatprotokollen und zurückgelassenen Notizen der jungen Frauen.
Diese Detailversessenheit, gepaart mit Seierstads Gefühl für Plotstrukturen und Timing, sorgt dafür, dass man „Zwei Schwestern“ verschlingt, wie man sonst Serien guckt. In diesem Sogeffekt liegt der große Vorteil von Seierstads literarischer Herangehensweise. Denn je länger man liest, desto mehr taucht man ab in den Alltag der jungen Frauen und ihrer Familie, sieht sie nicht mehr als Repräsentantinnen eines Phänomens, sondern als Individuen.
Diese Individuen, das arbeitet Seierstad sehr klar heraus, sind keine integrationsbedürftigen Opfer. Ayan und Leila wachsen in einer Familie auf, die ihre somalischen Wurzeln pflegt und gleichzeitig Norwegen als ihr zu Hause ansieht. Mit fünfzehn kleidet sich Ayan wie jedes andere Mädchen in ihrer Klasse, ist eine begabte, idealistische Schülerin, will Diplomatin werden. Dann stellt die somalische Gemeinde einen neuen Islamlehrer an, der die Jugendlichen – ohne dass ihre Familien es wahrhaben wollen – mit fundamentalistischem Denken in Kontakt bringt. Ayan engagiert sich in der norwegischen Salafistenszene, sie beginnt gegen den Willen ihrer Eltern einen Gesichtsschleier zu tragen und weigert sich, am Sportunterricht teilzunehmen.
Doch auch wenn Ayan, Leila und ihre Freundinnen sich immer mehr mit islamistischen Ideen identifizieren, bleiben sie selbstbestimmt. Als Ayans Direktorin ihr verbieten will, mit dem Gesichtsschleier zum Unterricht zu kommen, startet sie eine Unterschriftenkampagne an ihrer Schule. Aisha, eine Freundin von Ayan aus der Salafistenszene, verteidigt ihre Verschleierung auf Podiumsdiskussionen im ganzen Land. Irgendwann macht Aisha, entgegen der Tradition, einem hochrangigen Mitglied der norwegischen IS-Szene einen Heiratsantrag. „Beinahe ein feministischer Akt“, schreibt Seierstad dazu.
Aber es geschieht eben auch das Gegenteil: Aisha, die ebenfalls nach Syrien geht, muss miterleben, wie ihr zweijähriger Sohn von ihrem neuen Ehemann totgeschlagen wird. Ayan und Leila verlassen, so die Recherchen Seierstads, in ihrem neuen Leben beim IS kaum das Haus, ihre Aufgaben bestehen aus Kochen und Kinderbetreuung. Gleichzeitig geben sich die Mädchen, die übers Internet mit ihrer Familie in Kontakt bleiben, immer verblendeter, immer unmenschlicher. Die Gräueltaten des IS an jesidischen Frauen kommentiert Ayan mit den Worten: „Die Krieger brauchen Befriedigung. Das sind schließlich Männer“. Als ihre Schwester Leila erfährt, dass ihr Vater beim Versuch, sie nach Hause zu holen, beinah vom IS getötet worden wäre, antwortet sie: „Tja, wenn er spioniert, muss er eben bestraft werden.“
Solche Sätze lassen einen erschauern, gerade weil Seierstad sie nicht bewertet. Weder sympathisiert die Journalistin mit ihren Protagonistinnen, noch verteufelt sie sie. Auch mit letztgültigen Erklärungen hält sich „Zwei Schwestern“ zurück. In der Radikalisierungsgeschichte von Ayan und Leila, so wie Seierstad sie erzählt, vermischt sich jugendliche Sinnsuche mit antikapitalistischen Impulsen, das Gefühl, von der norwegischen Mehrheitsgesellschaft ausgegrenzt zu werden, mit tief empfundener Religiosität.
Seierstads Kunststück ist es, diesen Radikalisierungsprozess - der von außen so unglaublich erscheint - wenn nicht verständlich, so doch nachvollziehbar zu machen.
LUISE CHECCHIN
Das Besondere ist nicht
die Frage, die das Buch stellt,
sondern seine Machart
Manche Sätze dieser
jungen Mädchen
lassen einen erschauern
Åsne Seierstad: Zwei Schwestern. Aus d. Norwegischen v. Nora Pröfrock. Kein & Aber, Zürich/Berlin 2017. 528 Seiten, 26 Euro. E-Book 20,99 Euro.
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