"Don Quijote", entfaltet es sich in diesem Roman mit radikaler Konsequenz.
Obwohl der Autor irgendwo behauptet, inmitten seiner "digressio" gebe es auch "progressio", kommt er in seiner eigenen Lebenschronologie kaum voran. Stattdessen erzählt er von seinem Onkel Toby und dessen Kriegsspielen, von seinem Vater, seiner Mutter, seinem Geburtshelfer, seiner Zeugung (aber erst einmal nicht von seiner Geburt), dem örtlichen Pfarrer und so weiter. Sinnbildlich für die Abschweifungen des Lebens - Freiheit! - steht die Schlangenlinie, die Korporal Trim, ein Spielkamerad von Onkel Toby, mit seinem Spazierstock in die Luft zeichnet (Buch IX, Kapitel IV). Als Zeichnung unterbricht sie den Romantext und sagt uns Lesern, dass Wörter nicht alles erfassen.
Zum kurz bevorstehenden 250. Todestag von Laurence Sterne hat der Schriftsteller und Essayist Hans von Trotha einige Motive von dessen Leben und Werk genauer untersucht. Recherchiert und geschrieben wurde das Buch teils in Shandy Hall, Yorkshire, wo auch der Pfarrer Sterne gehockt und seine Predigten geschrieben hat. (Halten konnte er sie später nicht mehr, seine Tuberkulose ließ die Anstrengung öffentlichen Sprechens nicht mehr zu.) Das Buch ist jedem zu empfehlen, der mehr über Sternes Leben und Denken erfahren will, der immer schon mal den "Tristram Shandy" lesen wollte, aber bisher noch nicht dazu kam, der auch die "Empfindsame Reise durch Frankreich und Italien" gern lesen würde, Sternes zweites und letztes berühmtes Buch, erschienen im Jahr seines Todes und insofern ebenfalls ein nun zu feiernder Gegenstand. Und schließlich ist Trothas hübsches, fadengebundenes, mit Illustrationen versehenes rotes Buch all jenen zu empfehlen, die an der Verbindung von witzigen Gedanken und gutem Deutsch Gefallen finden, für die es aber nicht so wichtig ist, wie man das Ding - Essay, Studie, Hommage - am Ende nennt.
Alle, die über Sterne schreiben und sich dabei ein wenig verlieren, stehen natürlich unter dem Schutz des großen Mannes selbst. Auch Hans von Trotha verliert sich gelegentlich, aber das weiß er und wird es also gewollt haben. Nimmt man seinen Buchtitel beim Wort - "A Sentimental Journey: Laurence Sterne in Shandy Hall" -, kommt man nicht wesentlich weiter, denn mehr als von der Reise, die Sterne krankheitshalber nach Frankreich und Italien unternahm (und mehr auch als von dem Buch, das daraus hervorging), erfährt man vom englischen Begriff "sentimental", der mit Laurence Sterne erst seinen Siegeszug durch die europäische Geistesgeschichte antrat und im Deutschen mit "empfindsam", geprägt von seinem Übersetzer Johann Joachim Christoph Bode unter Mithilfe Lessings, ein epochenprägendes Pendant fand. Eine warme empfindsamkeitsfreundliche Unterströmung ist in diesem Essay zu spüren, und müsste man seinen Kern nennen (den es aber aus den genannten Gründen nicht gibt), würde man vielleicht sagen: eine Verteidigung der Empfindsamkeit - mit allen literarischen Konsequenzen, die bis in die Avantgarde führen - gegen den zurückliegenden Geist des Rationalismus und den kommenden Geist des Biedermeiers und moralischen Viktorianismus.
Hier eine kleine Liste von Dingen, über die der Autor sonst noch schön und anregend schreibt: Sternes Bildnis in der National Portrait Gallery. Die Philosophie John Lockes und die Ideenassoziation bei Sterne. Die clevere Selbstvermarktung des Autors. Bewunderer und Verächter. Ferner den Sammler Geoffrey Day und Sternes Kunst, die Ideen anderer zu verwerten. Shandy Hall, dessen Kurator und dessen Gärtner. John Soanes House als architektonischer Ausdruck phantastischer Spiegelungen und kindlicher ästhetischer Freiheit. Sterne-Parodisten. Virginia Woolf und ihre Sterne-Verehrung. Und schließlich auch über Jean Paul, den größten, den einzigen echten literarischen Fortentwickler des Shandyismus. Zitiert wird Sterne reichlich und immer nach seinem heutigen deutschen Übersetzer Michael Walter. Mehr als hundert Jahre nach Laurence Sternes Tod kampierten die feindlichen und befreundeten Lager seiner Kommentatoren übrigens noch an gleicher Stelle und in denselben alten Zelten wie zu seinen Lebzeiten. Die "Encylopaedia Britannica" von 1887 sah in seinen Schriften immer noch eine "nicht zu rechtfertigende Schlüpfrigkeit und überanstrengte Empfindsamkeit", doch dieser "abstoßende Mangel" sei sofort vergessen angesichts der Kühnheit und Originalität, der "exquisiten literarischen Kunst" von Sternes Stil, die (frei übersetzt) "selbst der trübsten Tasse aufgeht".
Müsste reichen; hat jedenfalls bis heute gereicht. Und mehr kann man sich nicht wünschen.
PAUL INGENDAAY
Hans von Trotha: "A Sentimental Journey: Laurence Sterne in Shandy Hall".
Wagenbach Verlag, Berlin 2018. 143 S., geb., 17,- [Euro] .
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