Berechnungen. Ist die Übereinstimmung der Quersumme des prozentualen Feuchtigkeitsgehalts von Mensch, Luft und Wasser an glühendheißen Sommertagen mit der aktuellen Wassertemperatur nicht ein absolut zuverlässiges Indiz für einen Freibadbesuch, selbst wenn er die Summe der eigenen Finanzmittel übersteigt?
Auch Sterne spielen in Viktors Tagebuch eine wichtige Rolle, und mit ihnen Sonnenflecken, Schwarze Löcher und die Kernfusion. Das sind die Lieblingsthemen seines Vaters, einem Taxifahrer, mit dem Viktor seit dem Auszug der Mutter die Fünfzimmerwohnung, endlose Vorräte an Bananenbrei und angeblich "geistiges Phlegma" teilt, während die ehrgeizige Mama Karriere macht, die Welt umfliegt und den Sohn mit unpassenden Mitbringseln und Ansichtskarten bei Laune hält. Wahrscheinlich wäre sie nicht begeistert, wenn sie wüßte, daß ihr Sohn sie unzweifelhaft an einem leichten Geruch nach faulem Obst erkennt, während Vaters Duftmarke "ein bißchen nach Zigaretten, ein klein wenig nach Schweiß und ein kleines bißchen nach Hundefutter" riecht.
Neben den Spekulationen darüber, was die Welt im Innersten zusammenhält und ob die jetzt Lichtjahre voneinander entfernten Eltern je wieder zueinanderkommen, beschäftigt Viktor aber auch, ob er es schaffen wird, vom Zehnmeterturm im Schwimmbad zu springen, und wie er das Rätsel um die anonymen Drohbriefe lösen soll, die seit kurzem das Haus und seine kauzigen Bewohner terrorisieren und mit dem Verschwinden eines Cockerspaniels zu tun haben, dessen rötliches, volles Haar Viktor an die Zicke D. aus dem Schwimmbad denken läßt. D. wie Deborah, Daisy oder Dagmar.
Sie ist ein Wesen von einem fremden Stern, dem Planeten der Mädchen nämlich, und gerät ins Blickfeld, als sie ohne mit der Wimper zu zucken und ohne einen Spritzer den Sprung vom Siebeneinhalbmeterturm absolviert. Plötzlich taucht D. überall auf, wo Viktor ist. Sie irritiert ihn mit fragwürdigen Auskünften über ihre Familie und okkupiert einen Platz in seiner Gedankenwelt, den er lieber den Simpsons überlassen würde als einem weiblichen Alien im türkisfarbenen Einteiler.
Viel mehr als er wahrhaben will, kämpft sich Viktor, der Loser, durch den Dschungel seiner Gefühle. So oft und solange es geht, benutzt er die Logik als vertraute Waffe. Auf klare Prämissen folgen schnelle Schlüsse: Datum plus Uhrzeit plus x und aus dem Ergebnis die Quersumme bilden und mit y in Beziehung setzen. Es bedeutet einen männlichen Triumph über alle Verwirrung des Herzens, wenn eine lange, manchmal komplizierte Rechenstrecke in einer einfachen, tröstlichen Zahl aufgeht. Natürlich löst bei soviel unfreiwilligem Training der "geistige Phlegmatiker" Viktor auch das Rätsel um die Herkunft der anonymen Briefe und entdeckt ganz nebenbei einen neuen Stern, Sirius D, weiblich.
Martina Wildner hat sich sehr nahe herangetraut an die scheue und, wie sie zeigt, zu Unrecht unterschätzte Spezies des Stimmbruchwunders mit Oberlippenflaum. Es ist ein humorvoller, einfühlsamer, genauer und kenntnisreicher Blick, mit dem sie ein gerade noch sehr selbstbewußtes Wesen vor dem Eintauchen in das Schleudertrauma Pubertät begleitet - das Viktor den Eroberer, Quersumme vier, leider völlig auseinandernehmen wird, seinem sympathischen Wesen aber nichts anhaben kann.
INA LANNERT.
Martina Wildner: "Jede Menge Sternschnuppen". Beltz & Gelberg Verlag, Weinheim 2003. 216 S., geb., 12,90 [Euro]. Ab 11 J.
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