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rockchickdeluxe

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Insgesamt 20 Bewertungen
Bewertung vom 15.09.2025
Wunnicke, Christine

Wachs


ausgezeichnet

Die Tochter eines Apothekers braucht eine Leiche. Sie will sezieren, sie will üben und die Familie unterstützen. Sie will die beste Anatomin werden und in die französische Geschichte eingehen. Das wird sie später auch. Marie Marguerite Bihéron wird Zeichnerin und Bildnerin von anatomischen Wachspräparaten. Sie wird damit Weltruhm erlangen.

Im Jahre 1759 lud der Chirurg und Enzyklopädist Sauveur François Morand sie ein, vor der Académie des Sciences zu sprechen. Ihr detailliertes und naturgetreues Modell einer schwangeren Frau und eines Fötus waren weltbewegend. Auch der Kronprinz von Schweden, Gustav III., war begeistert.

Der Roman verfolgt zwei Zeitstränge. Wachs erzählt von den Jahren vor, während und nach der französischen Revolution und von der Zeit der Aufklärung, die die bestehende Ordnung infrage stellen muss. Verstand, Fortschritt und die Wissenschaft rücken hier ins Zentrum, Gleichheit und Toleranz sind gefordert. So erscheint auch die homosexuelle Beziehung der beiden Frauen auf der literarischen Leinwand, wie selbstverständlich, ohne den Text zu dominieren. Ganz nebenbei tauchen die grossen Köpfe der historischen Gegenwart auf, auch Diderot zum Beispiel lässt sich in der Anatomie unterrichten.

Wachs ist ein grandioser historischer Roman, ein komplexes Portrait der Zeit, obwohl der Text auf unter 200 Seiten Platz hat. Er rankt sich um zwei ungewöhnliche Frauen, die über 50 Jahre in einer Liebesgeschichte verbunden sind, so unterschiedlich sie auch waren.

Wie viel Mut und Glauben und Können waren im 18. Jahrhundert notwendig, um eine Branche zu erobern, die Männern vorbehalten war? Der Kraftakt findet in allen Varianten Ausdruck, laut und leise und in einer hinreissenden Sprache. Sie ist voller Ironie und ausserdem seltsam altertümlich, es ist fast eine eigene Kunstsprache. Vielleicht hat es etwas damit zu tun, dass die historische Wirklichkeit keine Wirklichkeit ist, es ist vielmehr eine Annahme, wie es hätte sein können. Vieles lernt Marie in London, in Frankreich galt nun das auseinandernehmen von Leichen als wirklich nicht schädlich. So ist der Text auch absolut eklig, morbide, sensationell wissenschaftlich, anatomisch blutig und nie das Menschliche verlierend.

Frauen, vermute ich, werden deshalb in allem so gut, weil man es ihnen so schwer macht, schreibt Madeleine an Linné, bevor sie diesen Brief, wie alle anderen, verbrennt.


Ihre Lebensgefährtin Madeleine Basseport kämpft als bekannte Zeichnerin ebenso mit der Männerherrschaft und gegen die Ungerechtigkeit der Ungleichbehandlung der Geschlechter. Sie fand ihre Bestätigung als Pflanzenmalerin des Jardin du Roi, eine gerechte Bezahlung jedoch nie.

Dieser Roman ist auch ein feministisches Buch, vielleicht auch ein bisschen queer, und eine augenzwinkernde Satire auf Weiblichkeitsfantasien, er ist eine Hymne auf jedes Schaffen und Denken abseits der Norm und eine Ode an eine Frau, die ihren eigenen Weg geht. Tragisch und komisch. Gegen alle Widerstände. Und gegen die Unvernunft.

Bewertung vom 11.09.2025
Schwenk, Lina

Blinde Geister


sehr gut

Passend zu Lebensversicherung von Kathrin Bach folgt hier Blinde Geister, denn auch in diesem für den Deutschen Buchpreis nominierten Roman geht es um Angst. Olivia übernimmt die Traumata ihres Vaters, die Angst, die durch Sprachlosigkeit nicht aufgelöst wurde, geht über in die Tochter und lebt fort.

Ihre Frage, repräsentativ für die Fragen der Nachgeborenen an die Kriegsgeneration, laufen ins Leere, werden rigoros geblockt. Mehr und mehr wird dieses Schweigen in der zeitgenössischen Literatur thematisiiert. Kürzlich erfuhr ich, dass die Krautrockbewegung auf dieser Ohnmacht fusst und mit neuem künstlerischen Ausdruck eine Sprache fand.

In Olivia stecken also tief verwurzelte Ängste. Sie wächst auf mit der Angst der Eltern vor einem neuen Krieg, und irgendwo ist immer Krieg. Der Vater prüft ständig die Vorräte im hauseigenen Schutzkeller, in den sich die Familie immer wieder tagelang flüchtet. Die wachsende Unruhe geht auf Olivia über, die latente Bedrohung ist überall. Beim Namen genannt werden diese Ängste erst, als Olivia selbst eine Tochter hat, die sie auch - längst erwachsen - vor diesem Gefühl schützen möchte. Erst als 2022 der Krieg vor der eigenen Haustür scheint, beginnt die Tochter zu verstehen, das vorher Belächelte wirkt greifbar nahe.

Ich weiss wie das ist. Ich weiss, wie das ist, wenn Ängste über Generationen in der Familie weitergegeben werden. Die älteren Jahrgänge hatten weder die Zeit noch den Luxus, sich darum zu bemühen, diese Ängste aufzulösen. Wir sind die Privilegierten, die das können. Keine Kriege, keine Not, Raum für Reflexion, eine psychotherapeutische Landschaft, die jedes menschliche Befinden kennt.

Mir hat das Buch gefallen. Bis zum Ende hab ich nicht ganz verstanden, warum die Eltern am Anfang auf dem Boden liegen, aber das ist unwichtig. Der Umgang mit der fremden Angst, den Rissen in der Geschichte, das Suchen nach sich selbst in all den Gefühlen auferlegter Verantwortung für das Wohlbefinden anderer, das ist hier mal ganz anders umgesetzt und bezieht die stumme Nachkriegszeit mit ein, die immer noch Wellen schlägt. Wie gut, dass sie in der Literatur immer weiter Einzug hält.

Allein das Fazit am Ende lehne ich ab. Entschieden. Die Angst gehört nicht dazu.

Bewertung vom 02.09.2025
Roeder, Annette

Frag Philomena Freud (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Spinnen, Freundschaft und Verbechen in Wien

Ach, wie gerne höre ich den Wiener Schmäh! Dieser Dialekt ist so eigen, dass er fast schon eine eigene Sprache ist. All diese Wörter, die es nur dort gibt! Ist es nicht faszinierend, dass Bücher Dich sofort in eine Welt mitnehmen können und nach einer Seite bist Du mittendrin und fühlst Dich, als erwachtest Du in einer Filmkulisse? Du stehst in den Wiener Gassen in den 1920er-Jahren, um Dich herum Automobile, Kopfsteinpflaster, die Damen und Herren der feinen Gesellschaft.

Da erscheint auch schon die Heldin, Philomena Freud, 14 Jahre alt, Schuhputzerin vor der Praxis des berühmten Psychotherapeuten. Als der Tochter ihrer Gönnerin ein Mord untergeschoben wird, macht Philomena es sich zur Aufgabe, das Gegenteil zu beweisen. Sie wird zur mutigen Detektivin zwischen Machtspielen, Geheimnissen und den Gesellschaftsschichten.

«Frag Philomena Freud» ist ein Krimi an einem historischen Schauplatz, der alles mitbringt, was eine spannende Geschichte braucht. Eine Protagonistin am Rande der Gesellschaft, die unerschrockene Alsergrundbande, einen gutmütigen Wachtmeister, Intrigen, eine falsche Fährte, einen Hund als treuen Gefährten, der eine wichtige Rolle spielt, brenzlige Situationen und natürlich Freunde, die für dich durchs Feuer gehen. Das ist Cosy Crime von Feinsten! Ohne Anspruch auf kriminalistische Genauigkeit und genau passend für die Altersgruppe. Literarisch hochwertig und sehr unterhaltsam.

Ich hab Philomena Freud gerne gelesen und kann mir gut vorstellen, dass sie weitere Fälle im Wien des letzten Jahrhunderts lösen wird, immer leicht zu lesen aber dennoch mit viel Tiefgang. Ein tolles Buch mit wunderbar illustriertem Cover für die ganze Familie.

Bewertung vom 30.08.2025
Bach, Kathrin;Voland & Quist

Lebensversicherung


gut

Ha, willkommen in meiner Welt!
Wie, Du hast keine Rentenversicherung? Du hast keine Berufsunfähigkeitsversicherung? Das könnte ich ja nicht! Selbstständig arbeiten? Das wäre mir zu unsicher. Du arbeitest nicht jeden Tag? Hast Du denn genug Geld?
-Danke, Zeit ist mir wichtiger als Geld
Ja, wenn es denn reicht? Aber du musst ja auch für dich vorsorgen!

Wildfremde Menschen, mit denen ich gerade mal 5 Minuten spreche, nehmen sich die Übergriffkeit heraus, mich mit all diesen Äußerungen zu belästigen.

Aber Sicherheit ist dem durchschnittlichen Deutschen wichtiger als Glück, Freiheit, Gesundheit. Und dies führt dazu, dass ich seit vielen Jahren Meinungen höre, ohne danach gefragt zu haben. Stellt euch vor, ich würde durch die Welt laufen, und allen erzählen, was ich von ihrem Leben halte.

Ohne Angst lässt sich nichts verkaufen. Keine Politik und keine Versicherung. Scheinbar satirisch nimmt der Roman von Kathrin Bach diesen Umstand aufs Korn. Doch unter der Ironie lauert ein Trauma als vielarmige Krake, die die versicherte Welt zersetzt.

Der Wunsch, sich gegen alles zu versichern, ist groß. Doch gegen das Leben kann sich niemand versichern. Und so ist Lebensversicherung ein Appell an das Leben. An den Mut, die Freude, das Loslassen von Angst.

Die Lektüre hat mir Spaß gemacht. Der Text zoomt in die Verhältnisse eines kleinen, hessischen Dorfs, indem jeder alles über den anderen weiß. Je weiter wir kommen, desto mehr Risse bekommt die Fassade.

Ich bin mir nicht sicher, ob dies ein Kandidat für die Shortlist ist, aber es lässt sich hervorragend lesen und zeigte unerwartete Parallelen zu meinem Leben.

Bewertung vom 28.08.2025
Erdmann, Kaleb

Die Ausweichschule


ausgezeichnet

Der Roman von Kaleb Erdmann ist ein ganz grosser Wurf. Der Autor flicht Erinnerungen, gesellschaftskritische Betrachtungen, philosophische Reflexionen, Dialoge, Zeitzeugenberichte und fiktionale Erzählungen gekonnt ineinander, so dass ein Mosaik aus unglaublich vielen Teilen entsteht, die die vielen Schichten eines tragischen und traumatischen Ereignisses bilden.

Er versucht, das Unsagbare greifbar zu machen. Kaleb Erdmann erlebte als Elfjähriger den Amoklauf vom Erfurter Gutenberg-Gymnasium. Zwei Jahrzehnte später ist er erneut konfrontiert mit diesem Tag, an dem 16 Menschen starben. Aber dies ist kein Tatsachenbericht. Es ist auch keine Nacherzählung. Es ist tatsächlich eher ein Mosaik, gebaut aus zahlreichen Gefühlen und Erzähltechniken.

Da sind Schuldgefühle, Hilflosigkeit, der Wunsch nach Verdrängung, aber dennoch das Streben nach Aufarbeitung. Ganz stark sind die Dialoge mit seiner Freundin Hatice, einer taffen und coolen junge Frau, die ihm als schonungslose Duellpartnerin bei Reflexionen und der Suche nach Wegen aus den Gedankenfallen gegenüber steht.

Es gibt Rückblenden in die Schulzeit und die schrecklichen Stunden des 26. April 2002. Ihnen gegenüber steht der Versuch des Erzählers, des Trauma durch einen Roman und durch Gespräche zu verarbeiten. Mit seiner Mutter, mit seiner Freundin, seiner Psychotherapeutin, dem Dramatiker, einem alten Klassenkameraden. Er liest das Protokoll der Tat und wendet sich genauso dem Täter zu. Das ist Autofiktion, essayistisches Erzählen, philosophische Betrachtung.

Wer hat das Recht, darüber zu schreiben? Darf der Amoklauf als Theaterstück aufgearbeitet werden? Gibt es Schuld? Was ist Erinnerung? Und wann ist eine Erzählung eine Erinnerung? Gibt es Worte für das Unsagbare? Können Fragmente ein Ganzes ergeben? Welche Rolle darf Literatur bei der Bewältigung kollektiver Traumata spielen und welche Narben hinterlassen sie im kulturellen Gedächtnis?

Dies ist eine intensive Auseinandersetzung und gleichzeitig ein tief berührender persönlicher Bericht. Es ist grosse Literatur und bietet durch originelle und präzise Dialoge und einen Autor, der sich schonungslos in seiner ganzen Fragilität zeigt, ganz viele Anknüpfungspunkte, die noch lange nachhallen.

Ich drücke die Daumen für den Buchpreis und sehe hier einen ganz klaren Favoriten auf den Titel!

Bewertung vom 27.08.2025
Biedermann, Nelio

Lázár


ausgezeichnet

Lázár ist sprachgewaltig, melancholisch, traurig, farbenfroh, naturverbunden, voller Hoffnung und ein so grandioser Debütroman, dass ich ihn nicht aus der Hand legen konnte. Nelio Biedermann ist 22 Jahre alt und schreibt mit der ganzen Weisheit der Welt in seiner Feder. Was für ein Schriftsteller!
Wie kann ein so junger Mensch diese Sätze verfassen! Es gibt so Menschen, Mozart, den Dalai Lama und anscheinend diesen jungen Schweizer Autor.
Ich bin Fan.
Lazar ist eine Familiengeschichte über mehrere Generationen, die Charaktere sind absolut liebenswert und dabei total unangepasst. Die einzelnen Szenen folgen wie Filmsequenzen aufeinander und beleuchten detailreich das, was das Leben zwischen Krieg, Revolution, Erwachsenwerden, Leben und adliger Abstammung im grausamen 20. Jahrhundert auf sie geworfen hat. Das ist in großen Teilen realistisch, doch in dieser Familie sind auch die Geister nie fern, und deshalb weben sich die Träume spinnwebfein in die Gedanken und die Erfahrungen.

Im Blurb von Daniel Kehlmann steht, hier betritt ein wirklich großer Schriftsteller die Bühne, im Vollbesitz seiner Fähigkeiten. Treffender lässt es sich kaum ausdrücken.

Was für eine wunderbare Sprache! Das ist ein literarisches Meisterwerk, trotz der Brutalität, der Härte, der Selbstzweifel der Figuren und dem Strudel der Zeit ist der Ausdruck poetisch, leicht, packend, voller Kunstfertigkeit, präzise und absolut einzigartig. So wie Pista die Architektur in Budapest empfindet: schmerzhaft schön.

Ich bin beglückt.

Bewertung vom 25.08.2025
Sauzereau, Olivier

Jules Verne


sehr gut

Olivier Sauzereau ist Forscher. Und seit seiner Kindheit begeistert von Jules Vernes. Er ist Weltreisender und Fotograf, Gastforscher an der Universität Nantes und engagiert sich für den Erhalt des wissenschaftlichen Erbes von Nantes und der Region. Wyllow ist ein begnadeter Illustrator. Hier haben wir das Beste aus allen Welten: Eine ästhetische Graphic Novel, die von der großen Liebe zu einem außergewöhnlichen Schriftsteller erzählt und die großen Abenteuerromane der Weltliteratur feiert. Welch ein Juwel!

Eindrucksvoll verschmelzen historische Belege und fiktive Dialoge, Zeitgeschichte und Orte aus den Werken Jules Vernes. Die Graphic Novel sucht nach den Träumen Jules Vernes und findet dabei eine ganz eigene wunderbare Sprache zwischen grafischen Elementen, Atmosphäre, Erzählung, Aufzeichnungen des großen Franzosen und historischen Belegen.

Jules wird hineingeboren in eine Zeit großer technischer Entwicklungen und die Blütezeit des Wissenschaftsjournalismus. Er sollte Jurist werden, doch von Anfang an dachte er sich Geschichten aus und war begeistert von der Kraft der Fantasie. Er erlebt die Erfindung der Dampfschifffahrt und der Daguerreotypie, die Einweihung von Eisenbahnlinien und die Reisen von Darwin. Zeitlebens liebt der das Meer, magisch angezogen von den Schiffen, dem Duft der Gewürze und den Träumen von großen Abenteuern.

Besonders beeindruckend sind seine Recherchequalitäten geschildert, sein Entdeckerdrang, seine Reisen. Die Wissenschaft wurde dem Volk über Romane nähergebracht und war so realistisch geschildert, dass die Romane anfangs für Tatsachenberichte gehalten wurden.

Wir folgen wir Jules Verne durch seine biographischen Stationen. Der Erzählstil wechselt zwischen historischer Erzählung, die sehr anschaulich und liebevoll gesetzt und illustriert sind und der klassischen Graphic Novel. Das ist abwechslungsreich und unterhaltsam und ganz wunderbar. Dieses reiche Leben! Die unbedingte Liebe zur Literatur!

Bewertung vom 24.08.2025
Wagner, Jan Costin

Eden


ausgezeichnet

Miteinander trotz sagenhafter Differenzen

Wütend sein, traurig, verzweifelt, sprachlos, machtlos, verwirrt, verständnislos, distanziert. Suchen nach Gründen, nach Lösungen, nach Inseln, nach Rückzugsorten, nach Antworten, nach Wegen, nach Zeitsprüngen, nach der Zukunft, nach der Gegenwart.

Menschen sind schnell dabei, Schuld zuzuweisen und Rollen festzulegen. Es ist leicht, eine*n Täter*in zu bestimmen und ein Opfer. Der persönliche Schmerz übernimmt die Führung, das Handeln wird eine Reaktion, keine Aktion.

Und dann gibt es noch diejenigen, die, obwohl sie selbst betroffen sind, nach Antworten suchen, die hinter dem eigenen Horizont liegen. Sie wollen verstehen, das ganze Bild erfassen und urteilen, aber nicht verurteilen. Wie der Vater des Opfers und der beste Freund.

Mit #Eden liegt ein starker Roman vor. Unbequem, weitsichtig, sprachgewaltig ob der Sprachlosigkeit. Es geht um die ganz großen Themen: Diskursfähigkeit in Zeiten populistischer Phrasen. Annäherung, obwohl die Distanz unüberwindbar scheint. Die Sprache spielt immer wieder mit diesem Wechsel aus Nähe und Distanz, Lärm und Stille, Dunkelheit auf der einen Seite, Licht und Farben auf der anderen. Albträume, Stille und das Hilflose sind grau, das Bewusste und Interaktive ist bunt. Wer mittendrin ist, ist zu nah dran, um etwas erkennen zu können, muss Distanz schaffen.

Der Alkoholismus der Mutter, die Nazi-Parolen des Vaters sind hohl und zerstörerisch. Alles, was anders ist, bereichert und verstehen hilft, ist freudig und farbig.

In der Romanbeschreibung steht, es geht um Instrumentalisierung, politische Einflussnahme, gesellschaftliche Kluften. Ja. Aber es geht auch darum, dass es die 12-jährigen sind, die die Welt neu denken und das Miteinander verändern. Sie verstehen, dass dezidierte Debatten wichtig sind und ein soziales Miteinander, trotz aller Differenzen. Sie sind diejenigen, die sich erwachsen verhalten, während die Erwachsenen in den emotionalen Mustern von Kindern feststecken.

Eden ist ein ganz starker Roman, der mich an «Die spürst Du nicht» erinnert hat aber auch an Ferdinand von Schirach. Mit einer ganz eigenen Sprache und viel Schönheit im Angesicht des Grauens. Ich mochte ihn sehr und schätze seine aktuelle Relevanz sehr.

Bewertung vom 13.08.2025
Marfutova, Yulia

Eine Chance ist ein höchstens spatzengroßer Vogel


ausgezeichnet

Marfutova, Yulia
Eine Chance ist ein höchsten spatzengroßer Vogel

… und Marina ergreift diese Chance. Sie möchte von Anfang an weggehen, und erst nach und nach lernt sie, dass die jüdische Herkunft ihrer Mutter ihr dabei helfen könnte. Es fallen Wörter wie Zionismus und Antizionismus, Perestrojka und und Sochnut.

Je nach Erzählperspektive wird die Sprache intellektuell, naiv, manchmal auch zum inneren Monolog. Die Sprache greift so virtuos ineinander wie die Zeitebenen. Denn Zeit ist ja niemals linear, es ist immer eine Gleichzeitigkeit. Das Vergangene ist nie vergangen, es ist immer bei uns. So wie die Geister in der Zeit, die Stimmen, die verschiedenen Akteure.

Da sind die Mäuse, sie erzählen die Geschichte. Denn wer soll sie sonst erzählen, die Geschichten, wenn nicht die Mäuse, die sich so schmal machen können, dass sie durch die kleinsten Ritzen gelangen? (S. 97)
Sie erzählen, uns, 17, 16 und 10, von Marina und ihrer Mutter Nina, von Vera und ihrem Vater, der die Lampe genannt wird, weil er nicht sprechen und nicht aufstehen kann. Sie erzählen von den 1980er-Jahren in der Sowjetunion und der jüdisch-russischen Familiengeschichte. Die Mäuse müssen erzählen, denn Nina, Marinas Mutter, sagt kein Wort.

Ist alles wahr? Kann das alles so gewesen sein? Es gibt keinen kongruenten Erzählstrang, es sind Stückchen, die uns hingeworfen werden, aus denen sich ein Bild zusammensetzt. Aus desolaten Verhältnissen, Hoffnung, dem festen Glauben an die Träume und die Geister. Dazwischen ist eine junge Frau, die ihre Stimme und ihren Weg sucht, fest gewillt die spatzengroße Chance zu ergreifen, sobald sie sich zeigt.

Dieser kurze Roman ist Migrationsgeschichte, hohe Erzählkunst und Experiment. Wie kann die Erzählung der Vergangenheit funktionieren, wann ist es Fiktion und wann kann es wahr sein? Dabei entsteht so viel Raum für Assoziationen und Interpretationen, für Freude an der Sprache und fürs Recherchieren. Der Text fordert sogar explizit dazu auf.

Der Anfang war etwas hakelig, aber dann war ich voll im Buch. das ist die schönste Form von Sprache, Emotion, Magie und der Härte des Lebens. Traurig, humorvoll, hart, perspektivisch spannend und so vielschichtig, wie das Leben eben ist.

Bewertung vom 03.08.2025
Kloeble, Christopher

Durch das Raue zu den Sternen


ausgezeichnet

Arkadia Fink ist rebellisch und zart, voller Energie, Selbstbewusstsein und Schmerz. Ihre Mutter verschwand, und sie weiß, dass sie im Knabenchor singen muss, damit ihre Mutter sie hört und zurückkommt. Wie wahrscheinlich ist das im bayrischen Bergdorf?

Auf wieviel Widerstand stößt eine junge Frau, die mehr sein will, als die gesellschaftlichen Normen vorgeben? Das ist 1595, zu Zeiten von Molls Großmutter mit den 12 Urs genau das gleiche wie heute. Eine Frau, die mehr vom Leben forderte als andere - nicht nur als andere Frauen, sondern sogar als Männer. Eine solche Frau lebte gefährlich. Unser Dorf verstand sie nicht. 1595 endete die Hexenjagd mit dem Feuer.

Bei Arkadia, genannt Moll, sieht es anders aus. Sie stürzt sich in feinsinnige Ironie, umfassende Traurigkeit, die abgrundtiefe und unbändige Liebe zur Musik und in den inneren Widerstand. Sie erträgt die Hänseleien, de Gewaltausbrüche ihres Vaters, die Ignoranz der Pentatoniker und die Stumpfheit der anderen. Sie lebt für und durch die Musik.

Dabei geht sie ihren ureigenen Weg. Selbst die ihr Wohlgesonnenen suggerieren, sie würde sich daran gewöhnen, als Frau ihr Frausein zu verleugnen, um in einer Männerwelt anerkannt zu werden. Aber Moll geht den unbequemen Weg. Ohne sich selbst zu belügen und ohne Kompromisse. Auch dann, wenn es wehtut.

Die fünfte Sinfonie Beethovens birgt eine der wichtigsten Lektionen des Lebens: per aspera ad astra. Durch das Raue zu den Sternen. Die Entwicklung von c-Moll zum Finale in C-Dur. Aus etwas Kleinem kann etwas ganz Großes werden.

Moll ist klug, unabhängig, unbeugsam und voller Stolz. Sie ist die, die ich mit 13 gerne gewesen wäre und noch viel mehr. Durch das Raue zu den Sternen ist wunderbar, ließ mich lachen und weinen und hoffen und die ganze Schönheit der Welt umarmen. So unbeschreiblich wie die Kraft der Musik und die Kunst und die Sprache und das Licht in den Bäumen.