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leseleucht
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Alfter

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Insgesamt 199 Bewertungen
Bewertung vom 26.09.2025
Dische, Irene

Prinzessin Alice


sehr gut

Weiter vom Wahnsinn weg und näher an der Menschlichkeit als viele ihrer Zeitgenossen

In dieser Geschichte verleiht die Autorin Irene Dische die Figur der Alice Buttenberg, Enkelin von Queen Viktoria, Prinzessin von Griechenland und Schwiegermutter von Queen Elisabeth II. eine eigene Stimme. Nach ihrer Flucht aus Griechenland ist sie angewiesen auf die Wohltaten ihrer beiden Schwägerinnen. Diese lassen sie aber auch wegen vermeintlicher Schizophrenie für zwei Jahre in ein Sanatorium wegsperren. Dabei scheint Alice die einzig normale in der Welt des Adels zu sein. Bodenständig und entrückt zugleich führt sie selbst ein bescheidenes Leben, sorgt sich aber um die Belange der weniger Privilegierten und verliert trotz aller Rückschläge und persönlichen sowie öffentlichen Schicksalsschlägen nie ihre bisweilen kindlich anmutende Freude an den kleinen Dingen des Lebens. Sehr liebevoll und mit warmen Worten zeichnet die Autorin ein illustres Porträt eines ungewöhnlichen Lebens. Bis in die Übersetzung hinein vermittelt sich der Schreibstil der Autorin, der genau solch kleine Wunder erzeugt, wie die Protagonistin in ihrem schillernden Leben: „Das Schicksal kann einen genauso schnell mit Glück wie mit Leid überfallen. Ich spürte mein Herz in der Brust glühen, und aus jedem Glückssamen, der je in mein Gehirn gepflanzt worden war, sprossen viele Hundert Triebe hervor und öffneten ihre Knospen, bis ich mich ganz in einen Blumengarten verwandelt fühlte.“ In diesen Worten verdichtet sich nicht nur inhaltlich treffend das Wesen unserer Hauptfigur, sondern diese poetische Sprache voller heller, freudiger Bilder ist auch ganz Ausdruck eben jenes Wesens, wie sie gesprochen und gedacht haben mag.
Ich habe das Buch sehr gerne gelesen und seine Hauptfigur ist mir dabei ans Herz gewachsen. Der einzige Nachteil, der aus der eingeschränkten Sichtweise der Erzählerin entsteht, ist, dass wie alles nur aus der Perspektive ihres subjektiven Erlebens wahrnehmen, was manchmal dazu führt, dass man sich entweder fragt, ob das wirklich gewesen sein kann oder was manches bedeuten mag: Wer ist der geheimnisvolle Fremde, den sie im Sanatorium kennengelernt hat, wer ist die Familie Cohen, die sie ihre Familie am Schluss des Buches nennt? Da muss man dann doch einmal ein wenig über die historische Figur nachlesen, um sich einen Reim darauf zu machen oder zu wissen: Ja, so ist es wirklich gewesen. Aber es ist ja nicht Aufgabe der Literatur, eine objektive Biografie zu scheiben. Sondern ihre Möglichkeit hier ist es, uns eine Frau näherzubringen, die zu ihrer eigenen Zeit häufig nicht für voll genommen oder verkannt wurde. Und das gelingt der Autorin bravourös.

Bewertung vom 24.09.2025
Flitner, Bettina

Meine Mutter


ausgezeichnet

In einem Rutsch
Das Buch „Meine Mutter“ hat mich aus verschiedenen Gründen direkt angesprochen: Da ist der Titel: das Verhältnis von Müttern und Töchtern ist häufig spannungsgeladen, häufig deswegen, weil die Töchter es ihren Müttern immer Recht machen wollen, und doch nicht können. Dann ist da das Coverbild: ein Bild aus den 60er Jahren, eine Zeit, die mich sehr interessiert: Neuaufbruch, Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, Kritik an der Elterngeneration, eine nicht unproblematische Generation an Heranwachsenden. Und letztlich war es dann das Thema, das den Ausschlag gab: eine Reise auf den Spuren der Familie in die Vergangenheit, eine Fluchtgeschichte, ein Trauma, eine Tragödie.
Und meine Erwartungen wurden in keinster Weise enttäuscht: Ich fing an zu lesen und konnte das Buch nicht aus der Hand legen, bis ich es ausgelesen hatte. Da ist die packende, dramatische Familiengeschichte der Autorin, die unter keinem guten Stern steht, sondern vielmehr unter dem Doppelsuizid der Urgroßeltern. Woher kamen sie, diese Stimmungsschwankungen, die auch die Mutter und die Schwester der Autorin leiden ließen? Stehen sie unter dem Eindruck dieses ersten Suizids? Welche Rolle spielen die Erfahrung von Krieg, Gewalt, Grausamkeit, Verlust der Heimat, Entwurzelung, Entrechtung? Da sind die vielen besonderen Familienmitglieder, die die Autorin nicht schont, aber zugleich auf eine liebevoll humorige Art darstellt, sodass der Leser die Figuren wohlwollend betrachtet, bisweilen bestaunt, bisweilen Empathie oder gar Mitleid empfindet, aber nie urteilt oder gar verurteilt. Er begibt sich mit der Autorin auf die Suche. Und da ist der packende Schreibstil der Autorin. Vermeintlich leicht liest sich auch das oft so Schwere, die bedrückenden Erlebnisse sowohl in ihrem Leben als auch im Leben ihrer Vorfahren schildert sie in einer unpathetischen, aber zugleich berührenden Sprache. Dazwischen immer wieder humorige Anekdoten vom Vater, der dänische Liebesfilme lustig synchronisiert, von der schrulligen Großtante mit dem Sprung in der Schüssel und tief Ergreifendes wie der Tod des großen Bruders, der Suizid der Mutter. Der Leser lässt sich gerne ein auf diese persönliche Lebensgeschichte, die zugleich doch auch ein Stück deutscher Geschichte und Mentalitätsgeschichte ist. Es ist eine Geschichte, in der einmal nicht die Frage nach Schuld und Verantwortung im Mittelpunkt steht, sondern der Versuch zu erforschen, kennenlernen, sich annähern und verstehen, den der Leser gut und gerne mitgeht. Ein sehr persönliches Buch und zugleich ein Buch, das einlädt, einem Prozess beizuwohnen und einen Blick in ein Familienleben zu werfen, das schon auch ungewöhnlich ist, zugleich aber auch Sinnbild für den Weg, den viele Familien im letzten Jahrhundert gehen mussten, wenn vielleicht auch nicht immer mit der letzten Konsequenz.

Bewertung vom 12.09.2025
Kelly, Julia R.

Das Geschenk des Meeres (MP3-Download)


sehr gut

Rauh und zart
Schauplatz ist Schottlands Küste im Winter im Jahr 1900. Ein rauher Ort und zugleich von einzigartiger Schönheit. Das Leben dort in dem Dorf am Meer ist beschaulich, aber auch eng und genauso rauh wie die Natur. Das bekommt die Lehrerin Dorothy zu spüren, als sie einst an diesen Ort kam, um die Dorfschule zu führen. Eine unverheiratete Frau, interessant für die Männer in dem Dorf, misstrauisch beäugt von den weiblichen Konkurrentinnen, seien es Nebenbuhlerinnen oder eifersüchtige Schwestern. Und so gestaltet sich ihre zarte Beziehung zu dem Fischer Joseph als fast unmöglich. Als Dorothy einen anderen heiratet und ein Kind bekommt, könnte das ein wenig Frieden bedeuten, doch es kommt anders. Der Junge ertrinkt, der Mann ist schon vorher weg. Und dann wird viele Jahre wieder ein Junge an den Strand gespült, von Joseph gerettet und von Dorothy gepflegt. Ist das ein Ausgleich für den Verlust von einst? Ist Aussöhnung mit dem Schicksal möglich?
In einer überwiegend leisen, eindringlichen Sprache beschreibt die Autorin eindrucks- und stimmungsvoll das Leben in Skerry und sehr feinsinnig die Beziehungen zwischen den Figuren: zwischen Dorothy und den Dorfbewohnerinnen, Dorothy und Joseph, Dorothy und dem Jungen, der ist, wie ihr Junge. Das Leben ist hart, gerade in Winter in der Enge dieses Dorfes, sowohl physisch als auch psychisch. Aber zugleich ist es auch sehr geerdet, reduziert auf die einfachen Dinge, die das Leben ermöglichen und vielleicht ein wenig behaglicher machen. Das kümmern und sorgen, der Haushalt, das Stricken und die Wege durch die Natur. Wie überlebt man, wenn es das Schicksal so schlecht mit einem meint, wie mit Dorothy? Wie verliert man nicht die Hoffnung oder den Verstand? Das Buch zeigt das Leben von seiner grausamen Seite, von seiner harten, aber auch von den schönen Seiten, die nicht viel Materielles oder viel Abwechslung brauchen. Die Geschichte von Dorothy ist sehr berührend, auch wenn man immer wieder den Kopf schüttelt, wie schwer man sich das sowieso nicht leichte Leben noch selbst machen kann, mit Zögern und Zaudern, aufgrund fehlender Kommunikation und Offenheit, falscher Scham, aber auch der Arglist anderer.
Sehr einfühlsam wird es auch gelesen, mit der angenehmen Stimme von Astrid Kohrs, der man gerne und gut zuhören kann.

Bewertung vom 08.09.2025
Rivera Garza, Cristina

Lilianas unvergänglicher Sommer


gut

Ungesühnte Verbrechen
Die Autorin Cristina Rivera Garza begibt sich 29 Jahre später auf die Suche nach dem Mörder ihrer Schwester, deren damaligen Freund, der ungeschoren davon kam. Aus Ermangelung von Prozessakten rekonstruiert sie über Aufzeichnungen und Briefe ihrer Schwester sowie über Aussagen ihrer Freunde und Kommilitonen die Beziehung ihrer Schwester zu ihrem späteren Mörder und sucht nach Hinweisen, die die Tat im Vorfeld angedeutet hätten. Ihr Ziel ist Gerechtigkeit für ihre Schwester in einem Rechtssystem, das gerade im Hinblick auf Gewalt gegenüber Frauen den Tätern zu viele Schlupfwinkel lässt. Dieser Weg ist nicht nur aufgrund der langen Dauer, die das Verbrechen zurückliegt, und der fehlenden Akten ein schwieriges Unterfangen, sondern auch emotional und seelisch.
Mit ihrem Buch thematisiert die Autorin nicht nur das erschütternde Schicksal ihrer Schwester, sondern verleiht allen Opfern eines Femizids, eines Gewaltverbrechens aufgrund der Geschlechtszughörigkeit, eine Stimme. Sind Gewaltverbrechen in Beziehungen auch in Deutschland noch immer ein viel zu sehr totgeschwiegenes Thema, so gilt dies für Mexiko mit seinen machistischen und patriarchalen Strukturen umso mehr. Dort ist das Narrativ vom Opfer, das durch sein Verhalten, seine Kleidung oder was auch immer quasi selbst die Schuld am Verbrechen ihm gegenüber, noch wesentlich gängiger, die Zahl der durch Gewalt „aus Leidenschaft“ getöteten Frauen noch größer und die Strafverfolgung noch nachlässiger. Dies legt die Autorin auf der sachlichen Seite ihrer Darstellung sehr eindrucksvoll nahe.
Ebenso zeichnet sie ein vielstimmiges, beeindruckendes Zeugnis ihrer Schwester als junger Frau, die nicht nur im Hinblick auf ihren Freiheitsdrang und ihr Selbstverständnis als Frau, sondern auch in ihrer Persönlichkeit, ihrem Lebensfrohsinn und ihrer Liebenswürdigkeit exzeptionell erscheint. Auch in diesem Teil ist das Buch sehr beeindruckend.
Schwierig für mich wird die Lektüre in den sehr subjektiven Betrachtungen der Schwester, in ihren häufig metaphorisch umschriebenen Gefühlen sowie auch in den sehr persönlichen Briefen der Schwester, die oft ohne den Kontext nur schwer zu verstehen sind. Bisweilen sind mir die Zusammenhänge mit dem Leben der Familie, der Vater als Doktorand im Ausland, und der Schwester, ihr Feminismus und Kommunenleben, nur sehr locker assoziativ gefügt. Dann entsteht bei mir eine Art der Befremdung und der Lesefluss stockt.
Das allgemeine Thema hinter der subjektiven Geschichte ist aber durchaus bedeutsam, gehört zu werden.

Bewertung vom 20.08.2025
Bohlmann, Sabine

In meiner Welt


ausgezeichnet

Die beste aller Welten
So hat es schon der Philosoph Leibniz formuliert, wenn er über unsere Welt sprach. Dieses Bilderbuch hat, obwohl schon für die Kleinsten, viel philosophisches Potential! Wie sähe deine Welt aus, wärest du ein Weltenerfinder? Eine spannende Frage, auf die der kleine Bruno feste Antworten zu haben scheint, bis sein Großvater ihn mit klugen Nachfragen dazu bringt, seine Antwort zu überdenken. Wäre ein Welt, in der keiner mehr stirbt, eine bessere? Oder die, in der die Zeit anhält? Dass Brunos Wunsch einen ernsten Hintergrund hat, wird am Ende des Buches deutlich, das klar macht, warum Bruno möchte, dass keiner mehr stirbt, dass die Zeit still steht und alles bleibt, wie es ist. Aber auch am leisen, traurigen Ende hat Brunos Opa eine wunderbare tröstliche Entgegnung für Bruno, die den Leser mit großer Dankbarkeit für die Welt, wie sie ist, erfüllen kann, auch wenn es manchmal sehr weh tut, dass man nichts und niemanden in ihre festhalten kann.
Ein leistes, zartes, ein trauriges, ein tröstliches, ein mutmachendes Buch, das Leben und die Welt dankbar anzunehmen und sich an ihr zu erfreuen. Mit wunderschönen weichen Illustrationen mit zarten, hellen Farben, die viel zu schade sind, um zwischen zwei Buchdeckeln eingeschlossen zu sein. Also fleißig blättern in diesem schönen Bilderbuch!

Bewertung vom 20.08.2025
Rey, Christina

Der Duft der fernen Insel


ausgezeichnet

Filmreif
Die Lehrerin an einer Blindenschule, Eve, reist im Jahr 1854 nach Sansibar, weil der dortige Sultan eine Lehrerin für seine blinde Tochter Nunu sucht. Dabei wird nicht nur die unbändige Nunu, die ihr Schicksal nicht so recht akzeptieren, will, zu einer Herausforderung für Eve, sondern die fremden Lebensgewohnheiten auf dieser Insel vor der afrikanischen Küste, in der die Frauen im Harem mächtiger Männer leben oder als Sklavinnen dienen. Mit dem Tod des Sultans setzen sich folgenschwere Entwicklungen in Gang, die nicht nur Eves weiteres Leben beeinflussen, sondern auch Nunus Lebenslauf verändern und den ihrer Dienerin Fanny.
In drei Teilen schildert Sarah Lark, die hier unter dem Pseudonym Chritina Rey schreibt, das Leben von interessanten Frauenfiguren: der ein wenig spröden Blindenlehrerin Eve, die sich in ein exotisches Abenteuer stürzt, ohne genau zu wissen, worauf sie sich einlässt; der rebellischen Nunu, die sich nichts vorschreiben lassen will und mit Hilfe ihres außergewöhnlichen betörende Duftkreationen zu entwickeln lernt, die ihr eine neue Welt eröffnen könnten, und Fanny, ein afrikanisches Mädchen, das auf der Plantage von Weißen groß wurde und zunächst Eve in der für sie fremden Welt eine große Hilfe ist, auch im Umgang mit Nunu, und dann mit ihrem Mann Mose aufbricht, um den afrikanischen Kontinent zu missionieren.
In gewohnter Weise liefert Sarah Lark gute Unterhaltung vor exotischer Kulisse mit Spannung, Abenteuer, viel Gefühl, aber auch einem ironischen Augenzwinkern. Und vor allem wie immer historisch solide recherchiert mit spannenden Einblick in Epochen der Geschichte und Winkel der Welt, die nicht immer so weitläufig bekannt sind. Sie erzählt dabei über das Leben in der Haremswelt und den politischen Wirren Sansibars, über die Missionsstationen in Afrika und den Parfümhochburgen in Frankreich so anschaulich, als liefe vor dem inneren Auge des Lesers ein Film ab. Für mich eine klare Empfehlung für unterhaltsame Lesestunden in einer anderen Welt. Allein das Cover ist Urlaub für Auge und Seele.

Bewertung vom 20.08.2025
Harmsen, Torsten

Nazi und Kommunist


ausgezeichnet

Wie wir wurden, was wir sind
Die Protagonisten dieses Buches sind beide um 1900 geboren Otto entsammt einer liberalen Handwerkerfamilie. Er wird Bühnenmaler und steht der Arbeiterbewegung nahe. Mit Aufkommen des Nationalsozialismus stürzt er sich zunächst in den Straßenkampf zwischen Kommunisten und Reichswehr. Später gerät er in den Widerstand gegen das Regime und überlebt mit Mühe und Not, versteckt in Deutschland. Nach dem Krieg wählt er die DDR als Heimat.
Herta ist Tochter einer bürgerlichen Familie, sie besucht eine höhere Schule, lebt aber sehr abgeschottet von der realen Welt. Sie studiert Biologie und will Lehrerin werden. In der Ideologie des Nationalsozialismus findet sie ihre Ideale von Natur, Gemeinschaft wieder und Ausdruck für ihr Gefühl einer Überlegenheit über andere Rassen. Sie bleibt diesen Idealen treu bis zum Zusammenbruch des Reiches, der zugleich den Zusammenbruch ihres Wertesystems bedeutet. In einem Straflager der Russen in der DDR scheint sich ihr ein neuer Lebensweg aufzutun, und auch sie bleibt in der DDR.
Zwei unterschiedliche Leben und die Frage, wie einer wird, was er ist, bewegen dieses Buch. Dabei lässt der Autor die beiden Hauptpersonen – mit Ausnahme weniger erklärender Ergänzungen – ohne Wertung selbst zu Wort kommen. Und sie haben Interessantes, Spannendes, Nachdenkliches und Erschreckendes zu erzählen. Mich hat besonders Herta beeindruckt, die mit großer Aufrichtigkeit über ihren fehlgeleiteten Glauben spricht und reflektiert. Sie gibt viel Anlass darüber nachzudenken, wie sich Ideologien verfangen und böse Früchte tragen können, und das nicht nur bei Menschen, die böse oder von schlechtem Charakter wären. Ihr Beispiel zeigt, dass so etwas jederzeit jedem passieren könnte, nicht weil ihr der Mut fehlt oder die Intelligenz, sondern weil sie ausschließlich einen Ausschnitt der Welt wahrnimmt, der in ihr eine Seite anspricht. Otto entstammt einem ganz anderen Ausschnitt aus dieser Welt, der ihn die Dinge anders wahrnehmen lässt. Vielleicht hat die liberale Erziehung dazu beigetragen, vielleicht sein Sinn für die Kunst, auf jeden Fall aber wohl die vielen Bekanntschaften, die er gemacht hat und die ihn, ähnlich wie bei Herta, nur in eine ganz andere Richtung geprägt haben. Es spielen viele Dinge eine Rolle, den Menschen zu dem zu machen, was er ist. Ich glaube, dass es wichtig ist, aus den Beispielen anderer zu lernen, sich zum Nachdenken anregen zu lassen, mit Empathie zuzuhören, um zu verstehen, und nicht um in erster Linie zu beurteilen, was passiert ist, vor allem was den anderen passiert ist, was häufig impliziert, dass einem selbst das nie passieren könnte. Und dann sind wir schnell vom Urteil zum Vorurteil gelangt.
Insofern ist das Buch wichtig und lesenswert, für alle, die wissen wollen, wie „das“ passieren konnte, und damit „das“ nie wieder passiert.

Bewertung vom 17.08.2025
Paterson, Katherine

Jella Lepman


ausgezeichnet

Ein großartiges Buch
Bei diesem Buch ist alles wirklich exzeptionell: die Geschichte der Hauptfigur, Jella Lepman. Aus jüdischer Familie muss sie mit Aufstieg der Nazis aus Deutschland fliehen und wird nach dem Krieg von den Engländern beauftragt, bei der Umerziehung der Frauen und Kinder in Westdeutschland zu helfen. Daraus entsteht ihre Idee einer Internationalen Kinder- und Jugendbuchsammlung, da sie geistige Nahrung für genauso wichtig erachtet wie leibliche und da sie mit den Büchern zu Verständigung und Frieden beitragen möchte.
Der Schreibstil, der sowohl den jungen Leser gut da abholt, wo er mit seinen Kenntnissen steht, als auch den erwachsenen Leser noch immer anspricht.
Und natürlich die expressiven Illustrationen, die dem Buch Züge einer Graphic Novel verleihen und den Inhalt auf beeindruckende Art und Weise illustrieren. Der Zeichenstil ist sehr kunstvoll und beeindruckend und zugleich sehr ausdrucksstark, gleichgültig ob farbig oder schwarz-weiß. Oftmals ergänzen Originalaufnahmen das Gezeigte und bereichern das Buch.
Wer Bücher liebt, wird Jella Lepman sehr zugewandt sein und ihre Geschichte mit Faszination lesen und sich an diesem Bücherschatz in seinem Regal sicher lange erfreuen.

Bewertung vom 11.08.2025
Teige, Trude

Wir sehen uns wieder am Meer


gut

Beklemmende Schicksale
Eins haben die drei recht unterschiedlichen Schicksale der drei Freundinnen gemeinsam, sie sind schwer und grausam.
Da ist das „Deutschenmädchen“ Tekla, die sich im besetzten Norwegen auf einen Besatzungssoldaten einlässt. Sie ist die eigentliche Hauptfigur des ersten Bandes dieser Trilogie von Trude Teige und hier eher lose mit der Handlung verbunden.
Dann gibt es noch die Zwangsarbeiterin Nadja, die aus der Ukraine in die norwegische Fischfabrik verschleppt wurde und sich dann in einen Kollaborateur verliebt.
Die eigentliche Hauptfigur aber ist Birgit, eine Krankenschwester, die im Krankenhaus mit dem inländischen Widerstand gegen die Besatzer in Kontakt kommt und heimlich einen entflohenen Kriegsgefangenen versteckt, einen Russen, in den sie sich verliebt.
Das Schicksal der drei Frauen reicht weit über die Besatzungszeit durch die Deutschen hinaus. Sie erleben die sich zuspitzende Situation, als die Deutschen den Krieg schon fast verlorenen haben und sich erbittert gegen die Niederlage wehren. Genauso wie ihre Unterstützer in Norwegen, deren Fanatismus im Angesicht des Untergangs ungebrochen ist. Aber es geht auch um die Nachkriegsjahre, um das Zusammenkehren des Scherbenhaufens, den der Krieg hinterlassen hat, um die Auseinandersetzung mit Schuld und Verstrickung, mit Verantwortung und der Suche nach einem Neuanfang.
Trude Teige hat sich wieder einen interessanten Schauplatz und ein weniger beleuchtetes Thema der Weltgeschichte ausgesucht und sie verleiht den Frauen, die in der Weltgeschichte immer nur sehr beiläufig vorkommen, eine wichtige Stimme. Es geht um ihr Schicksal, ihr Handeln, ihre Verantwortung, ihre Entscheidungen und ihr Los in einer Zeit, in der männliche Willkür mit am größten war.
Allerdings hat mich die Figur der Birgit nicht so ganz packen können. Das könnte auch an ihrer Begeisterung für Russland liegen, die für einen Norwegerin in der damaligen Zeit schon sehr ungewöhnlich gewesen sein muss, da die Norweger die Russen im Krieg kurz zuvor nicht in besonders guter Erinnerung dürften behalten haben. Und die Handlung zwischen Krankenhaus und Fischfabrik sowie Gefangenenlagern bleibt mir irgendwie fern und leer. Vielleicht stumpft man ab nach dem Lesen der immer wiederkehrenden Geschichten aus den Lagern der Gefangenen oder der Kranken. Aber gerade im dritten Band fehlt mir ein Spannungsbogen. Die Handlung dehnt sich, mal erhebt sie sich ein wenig, um dann schnell wieder abzufallen. Das Harren und Warten ist ein zentrales Motiv, das die Handlung aber auch hemmt und sich auf den Leser überträgt.
Für mich reicht der dritte Band nicht an die ersten beiden heran.

Bewertung vom 11.08.2025
Rebanks, Helen

Die Frau des Farmers


gut

Ich hatte anderes erwarrtet
Als ich das Buch „Die Frau des Farmers“ sah und mich mit Hilfe von Klappentext und Leseprobe informierte, erwartete ich etwas über das Leben einer Farmersfrau auf einer Schaffarm in England zu erfahren. Ich erwartete viele Naturbeschreibungen, einen besonderen Bezug zum Leben mit den Tieren und der Natur, vielleicht Bodenständigkeit und Erdung durch diese Verbundenheit mit dem Leben. Das Buch schildert sicher das Leben einer Frau, die sich Frau eines Farmers nennen kann, weil sie, entgegen ihres Vorhaben, als Tochter eines Farmers niemals einen Farmer oder einen Bauern, wie sie sagt, heiraten zu wollen, eben dann doch dies tut. Doch lange, bevor sie beide auf eine Farm ziehen und Schafe züchten, arbeitet ihr Mann in einem Büro und sie hält sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser, bis sie Mutter wird und versucht, ein Heim für alle zu schaffen. Zwar gliedert sich das Buch in die Tageszeiten „Morgen“, „Nachmittag“, „Abend“, grob gesprochen, und die Kapitel beginnen dann auch mit Dingen, die die Frau des Farmers zu den entsprechenden Tageszeiten tut, z. B. Kinder in den Kindergarten bringen oder von der Schule abholen, einkaufen, Rechnungen bezahlen, alles Tätigkeiten, die auch Frauen von Nicht-Farmern tun. Doch diese Tätigkeiten dienen nur als lockere Assoziationskette, um dann von ihrem Leben zu plaudern, ihrer Schulzeit, ihrem Wunsch, ins Ausland zu gehen, den Wunsch, ihren James zu heiraten, ihr Kunststudium, ihre Arbeit in einem Kaffee, ihre Leidenschaft fürs Essen und fürs Kochen – das Buch enthält Unmengen an Rezepten, und ihrer Begeisterung, heruntergekommene Häuser zu kaufen, zu renovieren, um dann wieder ein neues zu kaufen.
Ihre Schreibstil ist dabei leicht zu lesen und das Ganze auch nicht ganz Uninteressant, aber eben anders, als erwartet. Und was mich eindeutig stört, ist der bekannte nölige Unterton beim Beklagen über Luxusprobleme, wie sie selbst einräumt, wenn sie schreibt: Von außen gesehen sind wir gesund, sehen gut aus, leben in einem schönen Haus und können uns ein gutes Leben leisten. Aber gleichzeitig jammert sie: sie studiert Kunst, auch wohl erfolgreich, aber betätigt sich nicht als Künstlerin. Sie backt und kocht gern, hat aber oft keine Lust oder Zeit, dann gibt es Fastfood und Ungesundes. Sie will unbedingt diesen Mann und sie will soooo sehr ein Kind, dann hat sie zwei und beklagt ihre Abhängigkeit und ihre Unfreiheit und die Abwesenheit ihres Mannes, der rund um die Uhr arbeiten muss, damit sie Häuser kaufen, aufwändig renovieren, luxuriös ausstatten können, obwohl sie ja eigentlich kein Geld haben. Und so kaufen und verkaufen sie in zwei Jahren drei Häuser. Worüber man sehr erstaunt ist, wenn man bedenkt, dass sich in der heutigen Zeit Familien mit zwei Verdienern häufig nicht einmal die Miete für eine adäquate Wohnung leisten können, geschweige denn ein Eigenheim.
Ich hatte anderes erwartet und hätte gerne anderes gelesen.