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MarcoL
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Füssen

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Insgesamt 258 Bewertungen
Bewertung vom 23.09.2025
Bruno, Weinhals

Die Nacherzählung


ausgezeichnet

Intensive und ergreifende Schilderungen der unmittelbaren Nachkriegszeit

Jahre nach ihrer Odyssee im Jahr 1945, kurz nach dem Krieg, erzählt die Mutter des Autors ihm von ihren Erlebnissen. Es wird mehr als eine pure Nacherzählung – und weit mehr als ein Erlebnisbericht.
Ihre Eltern und Brüder hat der Krieg gefressen, sie wollte aus Nordbayern zu ihrer Schwester nach Wien reisen. Wenn nötig zu Fuß, – was auch die meiste Zeit den Tatsachen entsprach, und wenn es gar nicht mehr anders ging auch ohne Schuhe. Die Not im Land war groß, dennoch gab es immer wieder hilfsbereite Menschen, die ihr ein Notlager für die Nacht zur Verfügung stellten. Oftmals war sie allein, manchmal in einer kleinen Gruppe unterwegs. Der Drang, die Hoffnung trieb sie vorwärts.
In die bitteren Reiseerlebnisse fließen vom Autor viele Geschichten über die Herkunft und ehemalige Familie seiner Mutter mit ein. Seine leibliche Großmutter mütterlicherseits starb früh. Sein Großvater, von der harten Arbeit im Bergwerk ausgelaugt, krank und von dessen zweiten Frau aus egoistischen Gründen verlassen, musste ohne Fürsorge im Krankenbett verhungern. Es waren brutale, harte Zeiten – nicht nur an der Front.
Ungeschönt und ungeschminkt kommen die Berichte daher, wie etwas, das offensichtlich und unausweichlich war, die Menschen dennoch quälte und verbitterte. Auch die sogenannte „Entnazifizierung“, die, wie wir alle wissen, eh nicht stattfand und nichts anderes als eine Schmierenkomödie war, spiegelt sich in den Erfahrungen der Frau wider.
Besatzungen und gut geschützte Grenzen taten das ihrige, um alles nur noch schlimmer zu machen und den Weg oftmals in einer Sackgasse enden zu lassen.
Es ist ein kleines Büchlein, das man schnell gelesen hat. Aber es ist derart intensiv, dass man die Eindrücke der armen Frau nicht mehr vergessen kann. Mit diesem Werk hat der Autor (1954-2006) ein kleines Stück Zeitgeschichte verfasst – und blickt auf eine Gruppe von Menschen, die in der Literatur wenig Beachtung gefunden haben.
Und gerade in diesen Zeiten der Migration und Not der Flüchtlinge besitzt das Büchlein eine Aktualität, die niemand verleugnen soll. Ganz große Leseempfehlung.

Nachworte der Herausgeber Brigitte Dalinger und Helut Neundlinger runden das Werk perfekt ab.

Bewertung vom 21.09.2025
Sassi, Islème

Von jenen, die jagen (eBook, ePUB)


sehr gut

Knappe und prägnante Story über einen Cold Case. Gerne gelesen.

Ein abgelegenes Haus an einem See – eigener Zugang mit Steg versteht sich, herrliche Ruhe, das Dorf klein, gerade mal ein Greislerladen und eine Kneipe, die Menschen nett, von Touristen keine Spur. Ein Paradies, in dem sich Isabel für einige Wochen niederlässt. Schnell nimmt sie Kontakt zu den Dorfbewohnern auf, wird in deren Reihen aufgenommen. Bald kann sie im kleinen Laden anschreiben, wenn sie mal ihr Geld vergessen hat, die Wirtin der kleinen Gaststube spendiert ihr sehr bald bereitwillig den ein oder anderen Schnaps, und die Beziehung mit Léanne, der Tochter ihres Vermieters, fließt äußerst schnell über den Rand einer Freundschaft zu weit mehr.
Die Frage, warum Isabel sich dort scheinbar eine Auszeit nimmt, drängt sich immer mehr nach vorne. Beziehungsprobleme, etwas Abstand – das sind willkommene Antworten.
Auf der anderen Seite passieren komische Dinge rund um das gemietete Haus. Es hat eine dunkle Vergangenheit, und scheinbar will jemand Isabel vertreiben oder Hinweise geben. Léannes Mutter starb auf mysteriöse Weise, kurz darauf verschwand ihr Bruder Leander spurlos. Vater Toni schloss das Kurhaus, und keine zahlungskräftigen Touristen strömten mehr ins Dorf. Nach und nach erschließt sich uns der Kreis, in dem alle irgendwie gefangen zu sein scheinen, Wahrheiten durchstoßen den Nebel der Gerüchte.
Wie sich das ganze Knäuel dann auflöst, und welche Rolle Isabel darin spielt verrate ich natürlich nicht – als bitte selber lesen.
Die Grundidee des Romans ist wirklich toll, ein wunderbares Setting und ein durchaus spannender Aufbau. Was mir nicht zu hundert Prozent gefallen hat sind der relativ einfache Schreibstil und für mein Verständnis eine etwas zu naive oder plumpe Herangehensweise an das Kernthema oder auch bei den zwischenmenschlichen Aspekten. Aber nichtsdestotrotz ist der Roman ein herrlicher Ausflug und wunderbarer Zeitvertreib, wenn man sich mal für ein paar Stunden in eine Lektüre verlieren will. Man wird dabei gut unterhalten mit diesem Mix aus Gesellschaft, Krimi, ColdCase.

Bewertung vom 19.09.2025
Solà, Irene

Ich gab dir Augen, und du blicktest in die Finsternis


sehr gut

Reich an Bildern, manchmal wirr und sehr komplex. Katalanische Märchenwelt

Irene Solà (Singe ich, tanzen die Berge) nimmt uns mit diesem Roman auf eine wirre und wilde Reise durch die Welt der katalanischen Sagen, Märchen und Mythologie. Wer sich damit nicht auskennt, der dürfte, so wie ich, mit der Lektüre überfordert sein. Und dennoch haben die Worte und Zeilen durchaus ihren besonderen Reiz, vor allem das Rundherum um die reale Welt, die sich am Totenbett von Bernadeta abspielt. Obwohl, auch hier tauchen die Geister der Vergangenheit auf, längst verstorbene Ahninnen der greisen Frau. Ihre Lebensgeschichten entpuppen sich zu einem Hexenreigen, der die Grenzen zu Realität und Fiktion, gelebtem Leben und die pralle Welt der Märchen auf innige Weise im Tanz verstricken.
Auf der einen Seite macht es Spaß, wenn die Toten am Sterbebett lungern, ihre Geschichten preis geben, anprangern und huldigen, geduldig wartend, die Sterbende im Reich der Toten aufzunehmen.
Der Roman ist aufgeteilt in die Abschnitte des Tages – Morgen, Vormittag, Mittag, Nachmittag, Abend, Nacht – bis schließlich zum Unausweichlichen, wenn sich die Frauen um das Bett von Bernadeta die Hände reichen. Trotzdem verspielt sich der Inhalt über Jahrhunderte, ist reich an Mythologie, und voll mit Lebensberichten der Frauen. Es fällt mitunter schwer, der Handlung zu folgen, manchmal nicht zu wissen, wann und wo man sich gerade befindet, ob in der Gegenwart, oder gerade im Bürgerkrieg, der auch nicht zu kurz kommt.
Genauso wild ist die Sprachführung – meist ein atemloser Ritt, selten direkt, oftmals verspielt und verträumt voller Poesie – man könnte manchmal meinen, es ist nur ein Sammelsurium von schön gewählten Worten, wahllos aneinander gereiht, die auf den zweiten Blick durchaus Sinn ergeben.
Wie gesagt, ich fühlte mich überfordert, ziehe dennoch meinen (imaginären) Hut vor dieser literarischen Herausforderung und Leistung der Autorin.
Mit einer Leseempfehlung tue ich mich schwer, dazu ist das Werk zu komplex.

Bewertung vom 18.09.2025
Trabucco Zerán, Alia

Mein Name ist Estela


ausgezeichnet

Eine intensive und bewegende Geschichte aus Chile

Gleich zu Beginn wissen wir folgendes: ein siebenjähriges Mädchen ist gestorben, die Hintergründe erfahren wir im Laufe des Romans. Und: die Ich-Erzählerin wird verdächtig, sitzt irgendwo eingesperrt und erzählt laut ihre Geschichte, in der Vermutung, dass sich hinter ihrem Gefängnis Empfänger*innen für ihre Worte befinden.
Estela zieht von zu Hause weg in die große Stadt, und nimmt einen Job als Haushaltshilfe an. Ihre Arbeitgeber gehören der gehobenen Schicht an, und führen einen dementsprechenden Umgang mit ihr. Was Estela beim knapp geführten Einstellungsgespräch nicht wusste war der der Umstand, dass sie sehr bald neben Haushaltshilfe auch noch Kindermädchen für die Tochter des Hauses sein wird.
Estela , zwar ohne Erfahrung in solchen Dingen, nimmt es stoisch an, lernt und gibt ihr Bestes. Sie arbeitet und tut, was von ihr verlangt wird, wird zu einer Art gefühllosem Zombie.
Die Herrschaften behandeln sie meistens korrekt, die Distanz zwischen ihnen bleibt dennoch eine undurchbrechbare Mauer. Die Erziehung des heranwachsenden Mädchens muss meistens Estela übernehmen, es entwickelt sich im Laufe der Jahre eine poröse Beziehung innerhalb der vier Personen, eingepfercht in Familie und Pflichtbewusstsein.
Estela spart ihr Geld, möchte eines Tages das Haus ihrer Mutter, in welches sie irgendwann zu ziehen gedenkt, renovieren. Doch die Verwandtschaft sieht das anders, angelockt von Estelas Ersparnissen werden Gründe gefunden, diese anzuzapfen. So wird sie auf zwei Seiten ausgeblutet, wird zur Marionette zwischen ihren reichen Arbeitgebern und der Armut im Rest des Landes.
Die Sprache ist sehr bildhaft, poetisch und von einer eindringlichen Wucht beseelt. Man fühlt mit der Erzählerin mit, leidet, und neigt dazu, den Senor, die Senora und vor allem das kleine Mädchen, das sich manchmal zu einer gemeinen Göre entwickelt, zu verdammen. Und dennoch scheinen alle handelnden Personen in diesem sehr außergewöhnlichen Roman auf ihre eigene Art zu leiden.
Die Ehe scheint trist und emotionslos, die kleine Julia nur die Frucht der Verpflichtung um Nachwuchs in einem gehobenen Haus. Die gesamte Stimmung im Roman bleibt trist und grau, ohne erhellende Szenen. Ein latentes Laken verdeckt den Blick auf die Sterne, die eine bessere Zukunft verheißen könnten.
Die Unterschicht arbeitet sich auf ohne nennenswerte Verdienste, und bleibt das, was sie ist, nämlich arm. Und im Zweifelsfall nie das Opfer.
Wer letztendlich die Schuld am Tod des Kindes trägt – bitte selber lesen in diesem kleinen Gesellschaftsepos aus Chile.
Sehr gerne gelesen bleibt die Erinnerung an die Zeilen sicherlich lange präsent.
Leseempfehlung.

Bewertung vom 15.09.2025
Fischer Schulthess, Andrea

Noch fünf Tage


ausgezeichnet

Feinfühlig und sehr spannend.

Amanda mag ihr Leben nicht. Und ihre Familie, ihre Herkunft verknüpft sie nur mit sehr wenigen angenehmen Momenten. Großmutter und Mutter schieden freiwillig aus ihrer Welt. Auch ihre Gedanken an ihren einziger Lichtblick im Leben – ihr Sohn Benjamin, der nun 18 Jahre alt ist, das Abi geschafft hat – vermag sie nicht mehr davon abhalten, in fünf Tagen Suizid zu begehen. Lange und ausführlich hat sie überlegt, sich in entsprechenden Foren umgesehen, und die für sie passende Methode gewählt.
Die Teile des Buches zählen hinunter – noch vier Tage – dann irgendwann nur mehr ein Tag bis zum entscheidenden Tag. Und dazwischen tritt das Leben mit voller Wucht auf sie ein. Die Vergangenheit ihrer Familie prallt auf ihre Todessehnsucht, beginnt an den Mauern zu rütteln, reißt Löcher in ihre Fassade und ermöglicht ihr neue Blicke. Als letztendlich ihr bettlägriger Großvater Alois noch für ein paar Tage in ihrem (wirklich tollen) Haus aufgenommen werden muss, bleibt kaum ein Stein auf dem anderen; bis auf den Wunsch, mit dem alles nichts mehr zu tun haben zu wollen. Aber die Watte, die all ihre Gefühle gedämpft und verschluckt hat, wird durchlässiger ...
Der Inhalt ist komplex – und jedes Detail wäre jetzt ein Spoiler, der das Lesevergnügen trüben würde. Nur so viel: Alois entpuppt sich als Ekelpaket allererster Güte, ein wahrer Psychopath. Ihr Partner Jan, liebevoll, aber immer auf Dienstreise, tja … man bekommt im Laufe des Buches so seine Vorahnungen.
Der Schreibstil ist direkt, beinahe unspektakulär, treibt aber die Geschichte wunderbar voran. Amanda fällt dabei nie in die zu bemitleidende Opferrolle, auch wenn sie im Prinzip das Opfer ist. Die chaotische Welt zwischen völliger Aufgabe, Alkohol und Zigaretten sind ihre Dämonen, die sie bereitwillig füttert und dennoch immer wieder versucht, auf Distanz zu halten, denn die Vergangenheit hat auch noch ein Wörtchen mitzureden.
Der Autorin gelingt das sehr gut zu beschreiben, und baut dabei einen pageturnermäßigen Spannungsbogen auf, der einen durch die Seiten fliegen lässt.
Sehr gerne gelesen, man kann den Roman durchaus als Psychothriller bezeichnen, auch wenn er sich erst auf den letzten Metern als solches wirklich entfaltet. Ganz große Erzählkunst und somit eine absolute Leseempfehlung.

Bewertung vom 07.09.2025
Linhof, Julja

Krummes Holz


ausgezeichnet

Atmosphärisch dicht, großartige Literatur!

Der neunzehnjährige Jirka kehrt nach fünf Jahren zurück an den elterlichen Hof im Ortsteil „Krummes Holz“. Der Vater ist seit Tagen verschollen, die Sorge darüber scheint nicht sehr groß zu sein. Die Mutter ist schon vor einiger Zeit verstorben. Seine Schwester Malene, die den heruntergewirtschafteten Hof mehr oder weniger alleine über Wasser hält, ignoriert ihn vorerst, und wirft ihm vor, warum er nie mehr zurückkam, auch wenn sie ihn darum bat. Dabei wurde Jirka ins Internat gesperrt, ausgeschlossen von Heimat und Familie. Einzig Leander, der Sohn des verstorbenen Verwalters, spricht ein wenig mit Jirka. Sein ganzer Aufenthalt wirkt verstörend, und schnell merken wir beim Lesen, dass das Familienleben alles andere als eine Eintracht war. Ganz im Gegenteil, Jirka und Malene wurden regelmäßig verprügelt und auch sonst seelisch misshandelt. Doch was ganz genau passiert war, bleibt lange im Dunkeln und nur sehr spärlich dringt Licht in das Dunkel der Familie.
Die Handlung pendelt zwischen Gegenwart und Vergangenheit hin und her, oftmals ist es kaum ersichtlich, in welcher Zeitebene man sich befindet. Alles verschwimmt in einem diffusen Nebel voller Andeutungen, Halbwahrheiten und vor allem den unterdrückten Gefühlen von Jirka. Damals wie im Jetzt ist er ein Außenseiter mit einer empfindlichen Seele. Zögerlich, beinahe ängstlich kommen die Erfahrungen von Jirka mit Leander und Henning daher. Sexuelle Begierden versus Scham und Furcht. Jirka bleibt ein schüchternen, wortkarger junger Mann, der sich in keiner seiner beiden Welten wohl fühlt.
Seine Großmutter Agnes streift durch den Hof, von Demenz schwer gezeichnet. Manchmal stammelt sie ein paar Worte, möchte Jirka auf etwas hinweisen, was er allerdings nicht versteht, obwohl es bei der beobachtenden Leserschaft die Alarm- bzw. Spannungsglocken läuten lässt. Was kommt da wohl noch zu Tage?
Die Sprachführung ist sehr atmosphärisch, dicht und reich an Bildern, und dennoch hat man das Gefühl, als wäre die Autorin genauso wortkarg wie die paar wenigen Protagonist*innen.
Der Roman lebt von der Geschichte, von Gefühlen und Andeutungen, bis es sich letztendlich wirklich nicht mehr vermeiden lässt, mit der Wahrheit über den Hof raus zu kommen.
Verweigerte Zuneigung und Liebe sind wie ein graues dunkles Dach voller Spinnweben. Heitere Momente sucht man vergeblich, und würden auch das komplette Setting dieses sehr eindringlichen Romans, im übrigen das Debüt der Autorin, zunichte machen.
Das Buch habe ich trotz der Düsternis und Dichte sehr gerne gelesen, auch wenn es manchmal wirklich anstrengend war. Aber so soll und muss anspruchsvolle Literatur auch sein. Sie soll fordern, nicht nur unterhalten. Und das ist Julia Linhof wunderbar gelungen.
Deswegen: Große Leseempfehlung

Bewertung vom 04.09.2025
Derain, Allan N.

Das Meer der Aswang


ausgezeichnet

Sage, Mythos, Geschichte. Die Philippinen werden in hier mehr als lebendig.

Dieses Buch ist ein … ja, was? Eine Erzählung? Eine Sage? Ein Märchen? Ein Sammelsurium von philippinischer Mythologie? Eine Familiengeschichte? Ein historischer Roman? Eine Gesellschaftskritik? Ein Fingerzeig gegen die Kolonisierung? Oder ganz einfach alles zusammen, geballt in einer bildhaften Erzählung, die ganz tief in die philippinische Volksseele eintaucht.
Die Mutter der fünfzehnjährigen Luklak verschwindet öfter mal in den dichten Mangrovenwäldern. Ihr Mann lässt sie im guten Glauben gewähren, doch eines Tages konnte sie die heranwachsende Frucht in ihrem Leibe nicht mehr verleugnen. Sie schweigt darüber, und ihr Schicksal nimmt seinen tödlichen Lauf. (Achtung, verstörender Spoiler:) Vor ihrem Tod gebiert Luklaks Mutter einen Aal, den Luklak verspeist; - ihren Bruder. Sie infiziert sich dabei mit dem Speichel der Faulatmigen (Anm.: Geister), die ebenfalls am Aal geleckt hatten, den ihnen Luklak verweigerte.
Das Mädchen verwandelt sich, allmählich wird sie zu einem Krokodil, zu einer Aswang. Luklak beginnt, sich von allen Erwartungen, die an sie gelegt wurden, zu befreien. Alles, was an ihrem Menschsein hängt, wie ihr Geschlecht, ihre gesellschaftlichen Stellung oder ihre von Geburt an zugedachter Religion streift sie ab. Ihr Vater ist verzweifelt, sucht Heilkundige auf, jedoch ohne Erfolg.
Während die Verwandlung geschieht, streift die Erzählung durch die Geschichte des Inselstaates. Sie nimmt die Zeit vor der Invasion der Spanier auf, genauso wie das unbarmherzige Joch der Konquistadoren. Die brutale Einführung der einzig wahren Religion namens Katholizismus, der sich die Spanier selbst auf Gedeih und Verderb ausgeliefert hatten, und der Raub am fruchtbaren Land wird fest mit der Mythologie des Landes verknotet. Die Verwandlung des Mädchens stellt insofern den tief schlummernden Wunsch nach Veränderung und Befreiung dar.
Der Roman ist eine wilder, schneller Ritt voller bildhaften Episoden. Man muss, ja man darf ,sich darauf einlassen, konzentriert Wort für Wort.
Und man wird reichlich belohnt mit einem Wissen über einen Staat, den wir kaum kennen.
Das Buch ist wunderbar gestaltet. Einband, Umschlag, Vorsatz sind herrlich bedruckt, einzelne Zeichnungen lockern das Buch auf. Die Übersetzung selbst aus der philippinischen Amtssprache ist eine Wucht, aufgelockert mit Begriffen aus dem Tagalog, welche am Ende des Buches ihre Erklärungen finden.
Sehr gerne bin ich in diese mir bisweilen unbekannte Welt eingetaucht, und gebe eine Leseempfehlung für alle, die sich auf dieses Abenteuer einlassen wollen, oder sich auch auf den bevorstehenden Gastauftritt der Frankfurter Buchmesse vorbereiten möchten.

Bewertung vom 31.08.2025
Bonnefoy, Miguel

Der Traum des Jaguars


ausgezeichnet

Kleines literarisches Familienepos aus Venezuela, historisch belegt, poetisch verfasst.

Wie vielversprechender kann der erste Satz eines Romans sein?:
S.9: „Am dritten Tag seines Lebens wurde Antonio Borjas Romero auf den Stufen einer Kirche ausgesetzt in einer Straße, die heute seinen Namen trägt.“

Und von da an begleiten wir Antonio durch sein spannendes Leben, das er immer mehr und mehr dem Wohle der Allgemeinheit widmete. Wir sind dabei, wenn er Ana Maria im schülerischen Wettstreit um ein Kinoticket das erste Mal begegnet. Beide werden nicht nur ein Paar, verbunden in Liebe und gegenseitigem Verständnis. Sie werden auch erfolgreiche Ärzte, Ana Maria die erste Ärztin im Land überhaupt. Und die Politiker sind sehr stolz darauf, besonders auf Ana Maria. Im Zuge ihres Lebens treten deren Tochter Venezuela auf, auch sie ist von einem ganz besonderen Geist und Willen beseelt. Und in letzter Folge erscheint Venezuelas Sohn Cristobal, der ebenfalls eine wichtige Rolle in diesem, man könnte meinen, Familienepos, bekommt.
Es ist aber so viel mehr als eine Familiengeschichte, gekrönt von Erfolg, der durch harte Arbeit errungen wird. Es ist die Geschichte des Landes Venezuela (der Name der Tochter – sehr geschickt gewählt). Während wir die Familie begleiten dürfen, bleiben die politischen und gesellschaftlichen Aspekte des Staates nicht verborgen – sie sind ein ständiger Begleiter und beeinflussen natürlich das Leben und die Entscheidungen.

S. 98: „Aber all das würde erst viel später geschehen. Wäre es dabei geblieben, hätte Ana Maria nur eine sehr verschwommene Erinnerung an Antonio bewahrt, aber eine nebensächliche Begebenheit ließ ihr Schicksal mit voller Wucht auf seines Treffen.“

Und so entpuppt sich diese wunderbare Geschichte um die beiden historischen Personen Antonio und Ana Maria mehr und mehr zu einem Roman rund um die Geschicke des Staates. Armut, Diktatur, Zuckerrohr, Ölboom, explosionsartiger Reichtum, Militärputsche, Marxismus, usw.. Und immer wieder das einfache Landleben rund um den Maracaibo See. Caracas ist weit entfernt, von dort schießt die Politik ihre Pfeile über das Land, oftmals voller Gift.
Antonio und Ana Maria stehen immer auf der Seite der Bevölkerung, helfen wie und wo es geht, und werden oftmals wie Helden gefeiert.
Die Sprache ist harmonisch und wunderbar. Beseelt von einer zarten Poesie entwickelt sich der Roman sehr schnell zu einem Pageturner, der einen nicht mehr loslässt, in seinen Sog zieht, an den Gestaden des Sees Maracaibo ausspuckt und die Vergangenheit hautnah erleben lässt. Ganz großes Kompliment an die Übersetzerin Kirsten Gleinig.
Absolute Leseempfehlung und garantiert ein literarisches Jahreshighlight.

Bewertung vom 29.08.2025
Hein, Priya

Das schöne Lächeln von Riambel


ausgezeichnet

Episch. Poetisch. Eine bewegende Geschichte aus Mautitius. Leseempfehlung!

Mauritius! Mit diesem Namen verbinden wir Urlaub, Meer, Sonne, Palmen, weiße Sandstrände, exotische Drinks, Luxus. Was es tatsächlich ist: eine Insel voller Ausbeutung und Rassismus. Ein Land, auf dem sehr wenige sehr reich geworden sind und die Bevölkerung versklavt wurde. Der Grund: Zuckerrohr. Die Plantagen gibt es immer noch, die Ausbeutung genauso. Was dazugekommen ist: der Tourismus – eine Folge der Kolonisation. Auch hier: der weiße Luxus contra den Slums.
Noemi erzählt von ihrem Leben. Nur eine Straße trennt ihre karge Behausung von einem Herrschaftsanwesen. Nur eine Straße und eine Hautfarbe trennen sie zwischen Armut und überheblichen Luxus. Und die Weißen nehmen sich nach wie vor, was sie möchten.
S. 13: „Ich bin die Ururenkelin einer Plantagenvergewaltigung. Unter der Dunkelheit meiner ebenholzfarbenen Haut liegt ein leicht heller Unterton. Ich in die Tochter kreolischer Sklavinnen und etwas Düsterem. […] Den weißen Anteil, den ich in mir trage, habe ich mir nicht ausgesucht. Die gierigen Zuckerbarone nahmen sich einfach, was sie wollten ...“

Noemi lebt im Süden der Insel, in Riambel.
S.14: „Der Name klingt wie eine fröhliche Melodie – wie Sommer und Lachen. Ich habe Mama einmal gefragt,ob der Name unseres Dorfes von 'rire en belle' kommt. Aus vollem Herzen lachen. Ungehemmt.“
Zu Lachen hatten sie wahrlich selten Gelegenheit. Es galt die Bedürfnisse der „Oberschicht“ zu befriedigen. Zu arbeiten und gehorchen. Demut zeigen. Nicht sprechen, den Kopf nach unten …
S.74: „Mama hat uns beigebracht, die Blan [Anm.: die Weißen] nicht anzusprechen, es sei denn, sie sprechen uns an.“
In der Schule lernt Noemi Mrs Maggie kennen, eine Aktivistin, die ihr die Geschichte der Sklaverei erzählt, und alle ermuntert, ihr Leben in die Hand zu nehmen und aus dem System auszubrechen. Wie: mit Bildung, lesen – und die eigene Geschichte erzählen.
Das Wort „history“ [aus dem griechischen historia] kann auch anders gedeutet werden: His story. Seine Geschichte. Von Männern erzählt, verfälscht und all die Greueltaten glorifiziert.
Wie wäre es, wenn die Mädchen aus history „her story“ machen würden.
Priya Hein erzählt so wunderbar einfühlsam über das Leben. Leicht, wie eine Brise im Sommer, schön wie ein tropischer Sonnenuntergang und tief wie der Ozean.
Die Sprache ist wunderbar – und die Übersetzung von Mirjam Nuenning mehr als genial. Auf der einen Seite direkt, auf der anderen voller Poesie. Manche Kapitel beherbergen nur einen Satz, aber diese haben es in sich.
S. 160: „ 64: Ich bin ganz allein – gestrandet auf meiner eigenen Insel, von der es kein Entkommen gibt.“
Der Text drückt eine unerfüllte, ja eine unerfüllbar scheinende Sehnsucht aus. Nach einem selbstbestimmten Leben, nach einem Abschüttelwollen der Vergangenheit. Einfach nach Freiheit und dem Wunsch, das alle Menschen egal welcher Ethnie und Hautfarbe als das respektiert und erkannt werden, als was sie sind, nämlich Menschen.
Der poetische Roman ist ein Aufschrei gegen Rassismus, gegen das weltweit dominierende Patriarchat, gegen die Kolonialisierung, gegen das Sklaventum (welches in anderer Form weiterlebt).
S.161: „Du möchtest davonlaufen, doch du kannst nicht. Wohin? Der Horizont folgt dir überall hin.“ - was für ein wunderbarer Satz!

Gerne gebe ich eine absolute Leseempfehlung für diesen sehr bewegenden und tiefschürfenden Roman. Kauft und lest ihn! Unbedingt!

Bewertung vom 23.08.2025
Drezga, Ana

Top Girls


sehr gut

Ein Rausch durch die Nacht auf der Suche nach einem Lebenssinn.Grandios erzählt.

Party! Yess! Nichts als Party – quer einmal durch Wiens Nacht und zurück – das Leben muss gefeiert werden, denn was bleibt einem sonst schon übrig. Aber halt! Nichts als Party – oder sind das nur noch Erinnerungen an die Unbeschwertheit der Jugend. Ein ausklingender Herbst nach heißem Sommer? – wie das Leben selbst. Kalte Luft, kaltes Licht, ein Umherhampeln in der Existenz zwischen Ekstasen und dem grauen Alltag. Aber Wien – in Wien – die Stadt wird in diesem Roman selbst zur handelnden Person.
Der Schreibstil ist rasant, treibt einen durch die Seiten, schnell, man darf nichts versäumen – wie die pulsierenden Nächte – den was bleibt danach zurück? Nach kaltem Rauch und überfüllten Aschenbecher riechende Räume und leere Seiten am Ende des Buches? Die trübe Wahrheit nach der Euphorie der Nacht?
Der Roman stellt Fragen, gibt Antworten – mitten drinnen Liv, in einem Leben, das gelebt werden will, ja muss, dessen Glanz aber letztendlich nur eine spärlich blank geputzte Fassade ist. Aus Annäherung wird schnell wieder eine Abgrenzung. Wie die Top-Girls am Straßenrand. Sie versprechen die Ekstase in der Hoffnung, die kurze Zeit der Befriedigung möge ewig dauern.
Liv steht zwischen zwei Türen. Hinter der einen ist das Abrocken der Nacht, hinter der anderen eine unbestimmte Zukunft. Auf den Schwellen steht symbolisch: Was willst du?

S.48: „Ich ging weiter, wollte aber nicht, je näher ich der Wohnung kam. Verdammte Sackgasse nämlich. Als ich vor Jahren hier eingezogen war, hatte ich gedacht: Übergangslösung!, wie der Job im Theater. Seither war mir nichts Besseres eingefallen.“

Der Grund für das Verdrängen der Wirklichkeiten entblättert sich im Text nach und nach. Familie, Herkunft und Ankunft verwirbeln sich in einem Strudel, vermengen sich in einem Mahlstrom, und spucken einen schließlich wie nach einer durch gezechten Nacht mit fahlem Geschmack auf der Zunge und hämmerndem Schädel am Morgen aus, die Augen zu schmalen Schlitzen geöffnet, um der Realität nicht ins volle Antlitz blicken zu müssen.
Der Text gibt sich intensiv und laut, wie die Dialoge auch.
Und dann kehrt in beiden eine Art Ruhe ein, einer Ohnmacht nicht unähnlich. Das Gespenst von Schuld und Tod krallt sich den verkaterten Morgen, ist Grund für die Verlorenheit und das Vergessen im nächtlichen Rausch der Stadt.

S.78: „Ich wusste nicht, warum, aber ich lief weg, weg von Nore, er hinter mir her. Liv! Du musst darüber reden. Reden? Über was denn? [...]“

Was wie ein wildes, atemloses Durcheinander klingt, ist in Wahrheit ein klug aufgesetzter Roman, der sehr viele Themen einschließt. Vom Verlorensein, dem Suchen nach seinem eigenen Platz, Zugehörigkeit, Verlust und Bindungsängste, als könnte man zu zweit das verlieren, was man alleine auch nicht hat. Das Leben und respektive der Text wandeln zwischen Stroboskop und fahlem Mondlicht in einer Novembernacht.
Sehr gerne gelesen – und somit auch eine Leseempfehlung für diesen pulsierenden Roman. Man muss allerdings seine eigenen ruhigen Momente finden, um sich auf das Buch einzulassen. Zu schnell kann es den Eindruck erwecken, konfus zu wirken und zu überfordern.