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dracoma
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LANDAU

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Insgesamt 230 Bewertungen
Bewertung vom 27.09.2025
Brooke-Hitching, Edward

Die Galerie des Wahnsinns


ausgezeichnet

Mein Lese-Eindruck:
Edward Brooke-Hitching will sich, so sein Vorwort, ausdrücklich nicht mit den kanonisierten und bekannten Werken der Kunstgeschichte befassen, sondern mit eher vergessenen, absonderlichen und auch verrückten Kunstobjekten. Diesem Anspruch wird sein Buch gerecht. In chronologisch geordneten und übersichtlich gestalteten Kapiteln stellt er seine ausgewählten Objekte vor. Dabei spannt er einen großen Bogen und fasst den ganzen Globus, unterschiedliche Traditionen und alle Epochen ins Auge, beginnend mit der sog. Venus vom Hohlen Fels aus der Schwäbischen Alb bis zu Bildern der KI. Jedes Kapitel ist reich bebildert und sichert damit die Anschaulichkeit.
Mit jedem Kunstobjekt spricht der Autor einen bestimmten Themenkreis an, den er dann mit anderen Objekten aus anderen Epochen und anderen Kulturkreisen ergänzt. Damit schafft er interessante Querverbindungen, die den Leser über den eigenen kulturellen Tellerrand hinausschauen lassen.
Die Themenkreise sind recht unterschiedlich: Phantastisches, Memento Mori, behaarte Frauen, Monster, Propaganda, missglückte Restaurierungen etc. . Interessant und neu, allerdings auch grausig, war für mich die „Kunst des Kannibalismus“: ethnografische Gemälde des niederländischen Malers Albert Eckhout, der zusammen mit Kollegen die Ureinwohner Brasiliens malte, um sie im kolonialen Mutterland zu zeigen.
Oder man erfährt, dass Jack Pollock, „Jack the Dripper“, mit seiner Aktionskunst nicht der Erste war, der die Farben scheinbar wahllos aufs Papier tropfen ließ, sondern ein chinesischer Maler, „der Tintenschleuderer Wang“, der bereits im 8. Jhdt diese Technik in grotesk-exzessiven Sitzungen anwandte.
Das Buch richtet sich an den interessierten Laien. Der Autor verzichtet daher auf detaillierte Beschreibungen des Objekts und kunsthistorische Fachtermini, sondern wendet sich direkt der Besonderheit des Werks zu. Mit Anekdoten zur Entstehung, zur Rezeption etc. reichert er die Kapitel an und rückt damit die Werke über die Jahrhunderte hinweg dicht an den Leser heran. Am Schluss beruhigt er den besorgten Leser: nein, die KI wird den Künstler nicht überflüssig machen. Die Antriebskräfte der menschlichen Fantasie – Trauer, Wut, Humor etc. – können von keiner KI übernommen werden. Was abzuwarten bleibt.
Fazit: Ein kurzweiliges Buch für den Laien, vielfältig, interessant, reich bebildert, anschaulich. Ein sehr originelles Geschenk!

Bewertung vom 26.09.2025
Biedermann, Nelio

Lázár (eBook, ePUB)


sehr gut

Mein Lese-Eindruck:
Der Roman erzählt die Geschichte einer ungarischen Adelsfamilie über drei Generationen, angefangen bei Lajos von Lazar, das „durchsichtige Kind mit wasserblauen Augen“, dessen Vater wohl nicht der aktuelle Baron Lazar ist. Die Geschichte dieser Familie ist die Geschichte eines Zerfalls, eingebunden in den Zerfall der Habsburger Monarchie. Der Autor behält jedoch immer die Geschichte der Familie im Blick, und aus der Sicht der Familienangehörigen erlebt der Leser die Kriege, Umwälzungen des politischen Systems, Enteignungen, Degradierungen, Vertreibung, Verarmung und schließlich auch die Flucht ins Schweizer Exil.
Diese Vermittlung der großen Geschichte über das private Leben der Familie Lazar gelingt dem Autor beeindruckend mühelos. Und das macht den besonderen Reiz dieses opulenten Buches aus: wie der Untergang einer alten, überholten politischen und gesellschaftlichen Ordnung sich in der Familiengeschichte spiegelt.
Wegen der Fülle des Stoffs arbeitet der Autor mit Zeitsprüngen und setzt dabei unterschiedliche Schwerpunkte. So gerät z. B. die Suche eines Sohnes nach seiner Jugendliebe Matilda zu einer dichten psychologischen Studie, die in langsamem Tempo erzählt wird und dem Leser einen differenzierten Blick ins Innere der Figuren ermöglicht. Andere ebenso interessante Episoden dagegen – etwa die Beteiligung an der Deportation der jüdischen Bevölkerung – werden nur kurz angerissen. Dieses sehr unterschiedliche Erzähltempo lässt manche Episoden wie aufgesetzte, aber eben isolierte Miniaturen wirken.
Biedermann erzählt eher traditionell und entfaltet vor allem in den fast mythisch anmutenden Szenen rund um das Waldschloss und rund um den geheimnisvollen, gefahrvollen Wald eine poetische Sprache, die mir sehr gut gefallen hat. Der Autor ist belesen und baut immer wieder zitatähnliche Formulierungen ein, die dem Leser kleine Aha-Erlebnisse bescheren.
Fazit: Ein Familien-Epos im Umkreis der Umwälzungen des 20. Jahrhunderts. Ein beeindruckendes Debut, das neugierig auf weitere Romane macht.

4,5/5*

Bewertung vom 25.09.2025
Horncastle, Mona

Peggy Guggenheim


sehr gut

Peggy Guggenheim ist zweifellos eine der wichtigsten und bekanntesten Kunstsammlerinnen und Mäzeninnen des 20. Jahrhunderts, deren Biografie nun Eingang in die Reihe „Reihenweise kluge Frauen“ des Molden-Verlags gefunden hat. Das Buch besticht durch seine grafisch klare Aufmachung, die sich auch im Inneren fortsetzt. In chronologisch angeordneten Kapiteln mit kleinen Unterkapiteln entfaltet sich das Leben dieser außergewöhnlichen Frau, die sich mit der Peggy Guggenheim Collection in Venedig selber ein Denkmal gesetzt hat. Dort in Venedig, ihrem letzten Wohnort, ist sie unvergessen als die letzte „Dogaressa“, wie die Venezianer die exzentrische alte Dame spöttisch-liebevoll nannten.
Die Autorin hat akribisch recherchiert und zeichnet Peggy Guggenheims Leben nach, beginnend mit der Geschichte ihrer Familie und ihrem Weg in die Unabhängigkeit. Sie zeichnet das Bild einer kunstsinnigen Autodidaktin und Philanthropin, die sich mit einer unglaublichen Energie, unterstützt durch kompetente Berater, der modernen Kunst zuwendet und sie im New York der 40er Jahre etabliert. Sie organisiert eine Fülle von Ausstellungen und bietet in ihrer Galerie unter anderem den europäischen Künstlern der Entarteten Kunst im Exil eine Plattform wie z. B. Max Ernst oder Wassilij Kandinsky. Dabei war es ihr immer ein Anliegen, nicht nur die Kunst, sondern auch die Künstler selber in diesen schwierigen Zeiten zu unterstützen und zu fördern. Mit ihrer Galerie betritt sie auch Neuland, wenn sie Exponate von weiblichen Künstlern des Surrealismus zeigt oder wenn sie eine Ausstellung ausschließlich mit Werken junger amerikanischer Künstler präsentiert. Mit großem Aufwand baut sie die angemieteten Räume ihrer Galerie um und revolutioniert zugleich das Ausstellungswesen durch neue, ungewohnte und visionäre Präsentationen.
Die Biografie zeigt das unruhige Leben der Peggy Guggenheim, ihre vielen Umzüge und Neuanfänge, Freundschaften und Liebschaften, Pläne, Entscheidungen. Unter den vielen Namen und Fakten kommen die Zusammenhänge jedoch immer wieder zu kurz. Ebenso zu kurz kommt die Bedeutung ihrer eigenen Familie, ihrer Geschwister, ihrer Kinder. Der Leser erfährt zwar viel über ihre Vorfahren, jedoch nur Bruchstücke über ihre Schwestern und vor allem ihre Kinder. Hier und an anderen Stellen gerät die Darstellung aus dem Gleichgewicht, wenn z. B. mit viel Liebe zum Detail von Nebensächlichkeiten berichtet und die wichtige Darstellung von Entwicklungen vernachlässigt wird. Hier entstehen Leerstellen, die der Leser durch andere Biografien füllen muss.
Dennoch gelingt es der Autorin, ein authentisches Bild dieser außergewöhnlichen Frau zu vermitteln, die in schwierigen Zeiten eine gewaltige Kunstsammlung auf die Beine stellte. Eine Frau mit einem mitreißend trockenen Humor, großzügig, provozierend unkonventionell, exzentrisch, bis ins hohe Alter ideenreich und aktiv. Bewundernswert!
Mona Horncastles Darstellung ist kurzweilig zu lesen und richtet sich mit ihrer verständlichen Sprache an den interessierten Laien. Ein schöner Einstieg in das Leben dieser Frau und in die moderne Kunst.

Bewertung vom 17.09.2025
Schätte, Lena

Das Schwarz an den Händen meines Vaters (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Mein Lese-Eindruck:

Lena Schätte erzählt eine eindringliche Geschichte. In Erinnerungs-Bruchstücken blickt die Protagonistin, von ihrem Vater zärtlich „Motte“ genannt, zurück auf ihr Elternhaus und ihre eigene Geschichte. Das „Schwarz an den Händen“ ihres Vaters steht nicht nur für den Arbeitsruß des Fabrikarbeiters, sondern ist auch ein Bild für die Schuld des Vaters und seine Defizite.
„Schwarz“ ist das Erbe, das der Vater von den vorhergehenden Generationen übernommen hat und weitergibt an seine Tochter. Der Vater der Protagonistin trinkt und spielt, baut Unfälle, verliert seine Arbeitsstelle, ist unberechenbar, prügelt sich und schläft seinen Rausch am Wegesrand oder im Garten aus. Warum trinkt er? Die Mutter sagt: um das Leben zu ertragen. Die Mutter versucht mit Aushilfs- und Putzarbeiten, die Kinder durchzubringen. Dabei gerät sie an die Grenzen ihrer Belastbarkeit, und während ihrer Erschöpfungsphasen übernehmen die Kinder die täglichen Routine-Aufgaben der Familie. Die Familie sinkt immer weiter ab, die Kinder werden zunehmend heimatloser. Die Sucht des Vaters bestimmt das Familienleben. Und da Motte es nicht anders kennt, trinkt sie schließlich selber, so wie ihr Freund auch. Und das Rad dreht sich weiter: Randale, Unfälle, Polizei, Gericht, Gefängnis.
Nach außen aber wird der Schein gewahrt, selbst das Kind hält in der Schule die Fassade einer heilen Familie aufrecht.
Es sind aber nicht nur diese „schwarzen“ Erinnerungen, von denen Motte erzählt, sondern auch liebevolle Erinnerungen an den Zusammenhalt der Familie und von der zärtlichen Bindung des Vaters an seine Kinder. Die Liebe des Vaters und umgekehrt die Liebe der Familie zum Vater leuchtet immer wieder im Text auf, und mit diesem Gegensatz entfaltet die Geschichte eine ganz besondere Eindringlichkeit.
Lena Schättes sparsame, nüchterne Sprache trägt zu dieser Eindringlichkeit wesentlich bei. In dem kurzen Roman findet sich kein überflüssiges Wort. Ein harter Inhalt wird hier mit fast poetischen, kurzen Sätzen erzählt, ohne Dekor, und inhaltlich ohne Anklage und Schuldzuweisungen.

Bewertung vom 16.09.2025
Ruban, Paul

Der Duft des Wals (eBook, ePUB)


sehr gut

Ein Ehepaar will seine Ehe retten und fliegt mit seiner Tochter in ein Luxusresort nach Mexiko. Die äußeren Voraussetzungen stimmen also: Sonne, Meer, Pool, All inclusive. Doch schon am nächsten Morgen zeigt sich die Kehrseite des vermeintlichen Paradieses: ein gestrandeter und explodierter Wal, der das gesamte Resort in einen bestialischen Gestank einhüllt.
Was tun? Der Roman wechselt in jedem Kapitel die Erzählperspektive und lässt in kurzen Episoden nicht nur das Ehepaar und seine Tochter, sondern auch eine ältere Flugbegleiterin und einen Hotelangestellten zu Wort kommen. Damit erhält der Leser Einblicke in das Innere der Figuren. Er sieht, wie die Mutter und auch der Vater ihre getrennten Vergnügen suchen, wie die Tochter das Verhalten ihrer Eltern beobachtet, wie die Flugbegleiterin von den Dämonen ihrer Vergangenheit verfolgt wird und wie der alte Hoteldiener unter seinem beruflichen Abstieg und einer unerfüllten Liebe leidet. Immer deutlicher wird, dass der Gestank des Wals nur ein Symptom ist. Es ist weniger der tote Wal, der die Luft verpestet und das Atmen erschwert, sondern es sind die Menschen selber, die so stinken – mit ihrem Eigennutz, mit ihrer Habgier und ihrer Lieblosigkeit. Und mit ihren Umweltsünden. Die Kehrseite des Paradieses zeigt sich nämlich auch im abgestorbenen Korallenriff und dem Strand, der nur durch frühmorgendliche Müllsammler so traumhaft ist, wie er den Touristen präsentiert wird.
Mit diesem Gegensatz spielt der Roman. Der Luxus ist nur ein Blendwerk, eine Täuschung, eine vorgespiegelte Scheinwelt, in die nun die ungeschminkte Realität in Form des Verwesungsgeruchs eindringt. Der tote Wal wird damit zu einem Symbol des Verfalls, der rundherum zu beobachten ist: die zerstörte Natur, übersteigerter Konsum, die Verschmutzung der Meere, die Perspektivenlosigkeit der billigen heimischen Arbeitskräfte und vor allem die Beziehungen der Menschen zueinander
Dieses Thema stellt der Autor ausgesprochen skurril vor, stellenweise absurd und dadurch auch wieder komisch. Er verzichtet weitgehend auf psychologischen Tiefgang, aber trotzdem haben seine Figuren hinreichend deutliche Konturen, so wie der gesamte Text durch seine Stringenz und Konzentration besticht.
Insgesamt eine durchaus witzige Lektüre mit ernstem Inhalt

Bewertung vom 07.09.2025
Mackay, Shena

Der brennende Obstgarten (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

London, Sommerferien, und die Lehrerin April Harlency, geschieden und einsam, sitzt in ihrer kleinen Wohnung in einem heruntergekommenen Haus und einem ebenso ungepflegten Garten. Sie denkt zurück an einen Sommer ihrer Kindheit und beschließt, den Ort dieses Sommers wieder aufzusuchen: sie fährt nach Stonebridge in Kent. Stück für Stück verliert sie sich in Kindheitserinnerungen, die die Autorin mit der Gegenwart vermengt, und der Leser geht mit April zurück ins Jahr 1953. Eine Zeit, in der im idyllischen Stonebridge Schilder in den Fenstern hingen wie: „Zimmer zu vermieten. Keine Schwarzen. Keine Iren. Keine Haustiere.“
Die ländliche Idylle hat also ihre Schattenseiten. April genießt zunächst die Sonnenseiten, und dazu gehört die Freundschaft mit der eigenwilligen und aufsässigen Ruby. Die Mädchen finden in einem verlassenen Obstgarten einen alten Eisenbahnwaggon, der nun ihr geheimes Nest und ihr Treffpunkt wird. Sehr schnell erkennt April aber die Schattenseiten. Ruby ist vernachlässigt, schlecht ernährt, schlecht angezogen und wird misshandelt. Und auch für April verliert sich der Zauber des Paradieses: sie steht den Übergriffen eines älteren und beliebten Dorfbewohners hilflos gegenüber.
Dieses Nebeneinander von Idylle und Gewalt, von Paradies und tatsächlicher Realität erzählt die Autorin in einer wunderschönen, immer ruhigen Sprache. Es gelingt ihr bewundernswert, immer die Perspektive der 8jährigen April zu wahren, die vieles noch nicht versteht und daher nur in Andeutungen wiedergeben kann. Dadurch hat das Buch auch seine humorvollen, komischen Seiten, aber der Autorin gelingt es mit ihrer einfühlsamen Sprache, immer die Bedrohung der Idylle und der Kindheit vor Augen zu halten. Die Fragilität und Verwundbarkeit der Kindheit wird vor der Folie der sozialen Gegebenheiten der Nachkriegszeit umso deutlicher.
Über allem liegt der melancholische Ton der Erinnerung und die Trauer um Verlust und nicht genutzte Möglichkeiten.
Ein leiser, sprachlich wunderschöner, berührender Roman.

Bewertung vom 03.09.2025
Kelly, Julia R.

Das Geschenk des Meeres (eBook, ePUB)


gut

An der Küste der schottischen Insel Skerry wird ein Kind angespült, und in mir tauchte sofort das schreckliche Bild des 2jährigen kurdischen Flüchtlingskindes auf, das vor Jahren an der türkischen Küste angespült wurde. Das kurdische Kind war tot, das Kind des Romans aber lebt. Ein Fischer findet es, und der Pfarrer bittet Dorothy, sich des Kindes anzunehmen. Dorothy war vor Jahren als Lehrerin in das Dorf gekommen, wo sie aber immer eine Außenseiterin blieb. Das Findelkind ähnelt ihrem im Meer vermissten Sohn Moses, dessen Leiche nie gefunden wurde. Um seinen Tod ranken sich daher bald vielerlei Gerüchte und Schuldzuweisungen, aber auch mythische Vorstellungen von den sog. Wellenkindern der Anderwelt, die Menschenkinder zum Spielen ins Meer locken. Schmerzliche Erinnerungen werden in Dorothy wach, und schließlich ist sie der Auffassung, dass das Meer ihr ihren Sohn als Geschenk zurückgegeben habe: das Meer nimmt und das Meer gibt. Die Geschichte spitzt sich zu, als die wahren Eltern des schiffbrüchigen Kindes gefunden werden.
Der Roman wechselt zwischen zwei Zeitebenen, die deutlich gekennzeichnet sind. Innerhalb dieser Zeitebenen wechseln die Erzählinstanzen, sodass hier kleinräumige Miniaturen entstehen, die zusammen eine dichte Erzählung ergeben. Die Vielschichtigkeit des Erzählens führt jedoch auch zu Wiederholungen, zu unnötigen Redundanzen und auch zu Längen, die bei einer strafferen Handlungsstruktur hätten vermieden werden können. Sehr schön gelingen dagegen die Schilderungen des Lebens in einem eher ärmlichen schottischen Fischerdorf: der Gemischtwarenladen als Umschlagplatz für Klatsch und Tratsch, der wöchentliche karitative Strickclub, die trinkwütigen und prügelnden Familienväter, die allgegenwärtige Armut und das harte Leben der Fischer. Die Autorin bemüht sich sichtlich, die Aktionen der Hauptfiguren psychologisch zu motivieren, was ihr weitgehend glaubwürdig gelingt. Leider bleiben dabei die Nebenfiguren auf der Strecke, denen eine schärfere Konturierung gut getan hätte.
Julia Kelly erzählt eine sehr emotionale Geschichte, in der eine Fülle von menschlichen Abgründen mitspielt. Es geht um Ausgrenzung, um Liebe und Eifersucht, um Missgunst, unerfüllte Hoffnungen, um Vorurteile, Missverständnisse und vor allem: um fehlende bzw. gestörte Kommunikation. Es geht aber auch um Großherzigkeit, um Verzeihung und Empathie. Die Handlung hätte aufgrund des emotionalen Plots durchaus ins Triviale abrutschen können, aber dieses Abrutschen kann die Autorin immer verhindern. Am Ende lösen sich alle Verwicklungen auf, auch alle dramatischen Missverständnisse. Das mag sicher Lesern gefallen, die ein Happy End wünschen. Mir persönlich hätte ein weniger glücklicheres, vielleicht offeneres Ende besser gefallen, aber wie gesagt: Geschmackssache.
Wer für seinen Urlaub einen gefühlvollen, aber nicht kitschigen Roman mit einem Happy-End sucht, ist mit diesem Roman gut beraten.

3,5/5*

Bewertung vom 03.09.2025
Wood, Benjamin

Der Krabbenfischer (MP3-Download)


ausgezeichnet

Mein Hör-Eindruck:
„Ist man nicht tot, wenn man nicht träumt?“

Thomas Flett, gerade 20 Jahre alt, lebt zusammen mit seiner Mutter in einem abgelegenen irischen Fischerdorf. Er ist Krabbenfischer wie sein Großvater und verantwortlich für den Unterhalt der Familie. Seine tägliche Arbeit ist hart und auch gefährlich durch den Treibsand im Watt, der schon viele Menschen und Pferde das Leben gekostet hat. Thomas fischt noch traditionell mit Pferd und Schleppnetzen, weil ihm das Geld für einen motorisierten Trawler fehlt. Der Autor nimmt sich viel Zeit für die die Beschreibung der täglichen Arbeit und des fast partnerschaftlichen Umfangs mit seinem Pferd. Thomas‘ Leben wird bestimmt durch die Gezeiten, und daher nimmt die Beschreibung der Natur einen großen Raum ein. Es sind wunderschöne, ruhige Bilder, die der Autor seinem Leser bietet: Bilder des Meeres, von Ebbe und Flut und vom Nebel, der die Orientierung erschwert und das Meer und die Landschaften ins Unwirkliche hebt. Diese eindringlichen und dichten Bilder sind es, von denen der Roman lebt.
Trotz der Armut und des entbehrungsreichen Lebens hat Thomas seine Träume. Er liebt die Musik und möchte eines Tages auf der Bühne des örtlichen Pubs stehen und seine Lieder singen. Die Begegnung mit dem Filmregisseur Achesome verstärkt seine Träume, und er erkennt, dass hinter seinem Dorf sich ganz andere Welten öffnen und betreten werden können. Der Traum der großen weiten Welt wird platzen, und Thomas wird auf seine eigene kleine Welt zurückgeworfen werden. Er versinkt jedoch nicht in Resignation, sondern richtet seine Sehnsucht wieder auf seinen Lebensraum und das Musizieren im Pub.
Woods erzählt seine Geschichte in einer bestechend schönen Sprache: ohne jedes Pathos, ohne Effekthascherei, immer leise, immer klar und uneitel – und damit so passend für seine Hauptperson! Sprache und Protagonist passen harmonisch und perfekt zusammen. Wie schön, dass sich der Erzähler mit seiner Stimmführung dem ruhigen Erzählton anpasst!
Fazit: Eine leise und ruhig erzählte Geschichte von Sehnsüchten und Resignation, von Selbstbescheidung und von Träumen.

4,5/5*

Bewertung vom 15.08.2025
Hope, Anna

Wo wir uns treffen (eBook, ePUB)


gut

Das Cover zeigt einen bestechend schönen englischen Landsitz, und schon weiß man als Leser, dass es in diesem Roman um eine Familiengeschichte geht, um Reichtum, um Traditionen, Geschichte und auch um Standesbewusstsein.
Auf diesem Landsitz treffen sich die drei Kinder des verstorbenen Patriarchen. Ihr Treffen dient nicht nur der Totenfeier, sondern in erster Linie der Aufarbeitung ihrer konfliktreichen Vergangenheit. Zwei der Geschwister werden dabei zu Gegenspielern: Frannie und Milo. Frannie ist Alleinerbin des Anwesens und der riesigen Ländereien. Sie denkt ökologisch und will das Land renaturieren, um auch den folgenden Generationen ein Leben in einer weitgehend intakten Natur zu ermöglichen. Ihr Bruder Milo dagegen denkt wirtschaftlich: er will neben dem Herrenhaus eine Art Klinik bauen, in der mit psychedelischen Rauschzuständen ein elitäres Klientel behandelt werden soll. Ein „Freizeitpark für solvente Fünfzigplusler“.
Die Konflikte der Geschwister bleiben jedoch blass und oberflächlich. Vermutlich sollten sie durch das Aufdecken eines alten Geheimnisses und einer alten Schuld befeuert werden? Das gelingt jedoch nicht. Die Konflikte werden nicht in der Tiefe ausgelotet, und das alte Geheimnis bringt auch keine neuen Tatsachen ans Licht, sondern besteht lediglich aus bekannten Fakten aus der kolonialen Vergangenheit des Landes. Die Fakten sind bekannt und zudem sehr gut dokumentiert, allerdings stellt sich der britische Großgrundbesitz diesen Fakten mit unterschiedlicher Intensität. Es gelingt der Autorin nicht, diese historischen Tatsachen mit den Geschwister- und sonstigen Konflikten zu einem spannenden und emotional packenden Familienroman zu verflechten.
Dazu tragen auch die oft klischeehaften und rührseligen Szenen bei, die keine Konfliktlösungen bringen. Die Emotionalisierung des Lesers ist der Autorin sichtlich ein besonderes Anliegen, aber sie gibt sich mit Rührseligkeit zufrieden und schafft damit keine emotionale Tiefe, die der Plot jedoch hergegeben hätte. Immer wieder rutscht sie in Trivialität und Kitsch ab, wenn sie z. B. die Braut „die uralte Kirche“ betreten lässt, um „mit ihrem Schicksal vermählt zu werden“, um dann in den „Fluss der Zeit zu tauchen und sich damit zu salben“. Umso erstaunlicher ist es, dass in diesem Roman das Wort „Sch...“ in fast jedermanns Mund ist.
Fazit: Wer einen gefühlvollen Familienroman lesen will und sich von den obigen Mängeln nicht abschrecken lässt, der ist mit diesem Roman gut beraten.

Bewertung vom 04.08.2025
Graham, Caroline

Inspector Barnaby und das Rätsel von Badger's Drift


ausgezeichnet

Badger’s Drift ist ein beschaulicher kleiner Ort auf dem Lande mit dem „Inventar“, das der Leser erwartet: romantische Cottages, ein Herrenhaus, schrullige, aber selbstbewusste alte Damen, ein exzentrischer Maler, Jagdgesellschaften, Teekränzchen, natürlich ein Pub und ein Frauenclub, und auf der Polizeistation arbeitet man noch mit Karteikarten und Hängeregistraturen.Die Damen tragen Hüte mit blumigen Dekor und besuchen Ikebana-Kurse – kurz: die Welt ist in Ordnung. In diese Idylle platzt ein Mord, dem weitere folgen werden, und Inspector Barnaby nimmt seine Ermittlungen auf.
Barnaby ist ein ruhiger Ermittler, der seine Frau und seinen Garten liebt, ein humorvoller Familienmensch. Aber er beobachtet sehr genau und achtet auf seine Intuition. Ihm zur Seite steht der Jungspund Troy, der im Gegensatz zu Barnaby oft vorschnell urteilt. Der Gegensatz dieser beiden Figuren führt zu einigen komischen Situationen, in denen der Leser sich über den sprichwörtlichen britischen Humor der Autorin amüsieren kann.
Schicht für Schicht legt Barnaby die dunklen Seiten der Dorfbewohner frei. Mit Barnaby zusammen sucht auch der Leser nach dem Bösewicht, die Spannung nimmt kontinuierlich zu, aber immer wieder werden Barnaby und sein Leser auf eine falsche Fährte gelockt. Schließlich richtet sich der Fokus immer deutlicher auf eine Figur, aber auch da gelingt der Autorin kurz vor Schluss eine unerwartete Volte, die den Leser überrascht.
Fazit: Ein spannender Cosy-Krimi, der vor allem durch seine Ermittlerfigur besticht.
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