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Magda
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Köln

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Insgesamt 302 Bewertungen
Bewertung vom 25.09.2025
Schwenk, Lina

Blinde Geister


sehr gut

Blinde Geister von Lina Schwenk steht auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2025. Das mit knapp 200 Seiten nicht sehr umfangreiche Buch lässt mich etwas ratlos zurück.
Karl und Rita haben zwei Töchter: Olivia und Martha. Die Mädchen werden irgendwann in den 1950er Jahren geboren. Seit dem Krieg hat Karl Angst vor Bombardierungen, regelmäßig packt er einen Koffer, nimmt Vorräte mit und zieht mit Frau und Töchtern in den Keller. Irgendwann weigert sich Martha, ihre Eltern und die Schwester in den Keller zu begleiten.
„Es ist ständig irgendwo Krieg. Bloß stört das die meisten nicht. Für uns hieß das Familienzeit, die Füße in dicken Strümpfen, ohne Tageslicht zusammenhocken, nächtelang.“
Als junge Frau ist Olivia eine Zeitlang in der Psychiatrie. Sie heiratet Paul, der aus einer deutsch-norwegischen Familie stammt. Über Martha und Olivias Tochter Ava erfahren wir nur wenig.
Der Roman besteht aus Momentaufnahmen aus Olivias Leben, ihrer Kindheit, Jugend, ihrem Berufsleben als Krankenschwester bis hin zum Ruhestand. Die großen Zeitsprünge lassen zu viele Fragen offen, Jahresangaben fehlen, so dass ich oft nicht wusste, in welchem Jahr die Handlung gerade spielt. Cover und Schreibstil gefallen mir sehr. Es ist kein Buch, das man in einem Rutsch durchliest, es regt zum Innehalten und Nachdenken an. Es lässt mich bedrückt zurück, das einzig Schöne im Buch ist die tiefe Liebe zwischen Karl und Rita.

Bewertung vom 23.09.2025
Moyes, Jojo

Ein ganz besonderer Ort


ausgezeichnet

Von Jojo Moyes habe ich schon viele Bücher gelesen, ich mag ihren Sprachstil sehr. Auch Ein ganz besonderer Ort hat mir gut gefallen. Aus dem Englischen von Karoline Fell.

1963: Gutsbesitzer Douglas Fairley-Hulme ist schon immer Vivis große Liebe gewesen. Auf einem Fest, das die beiden zusammen besuchen, verliebt Douglas sich in Athene Forster, das Enfant terrible der britischen Oberschicht. Die beiden heiraten, doch es dauert nicht lange, bis Vivi eine zweite Chance bei Douglas bekommt.

Mehr als dreißig Jahre später sind Vivis und Douglas‘ drei Kinder Suzanna, Lucy und Ben erwachsen. Suzanna sieht ihrer Mutter Athene sehr ähnlich, sie kennt sie nur von dem Gemälde in der Ahnengalerie des Familienanwesens. Obwohl Vivi sie genauso liebevoll behandelt wie ihre eigenen Kinder, fühlt sich Suzanna als Athenes Tochter ihren Geschwistern unterlegen.

Suzanna eröffnet in ihrer Heimatstadt Dere Hampton das „Peacock Emporium“ einen kleinen Laden mit Dekoartikeln, in dem sie auch Getränke anbietet. Der Laden findet zunächst nur wenig Zuspruch, doch dann kommt Jessie: Die junge Frau wirbelt den Laden auf, sie kennt alle Dorfbewohner und hält mit jedem ein Schwätzchen, das Peacock Emporium boomt!

Einer der Stammkunden im Laden ist der argentinische Geburtshelfer Alejandro. Wir erfahren einiges über Argentinien und Alejandros Familie. Sowohl Suzanna als auch Jessie freunden sich mit dem sympathischen Ale an, die drei verbringen viel Zeit miteinander. Doch da gibt es noch Jessies Ehemann Jason, der krankhaft eifersüchtig und cholerisch veranlagt ist. Als er Jessie und Alejandro zusammen sieht, brennen bei ihm alle Sicherungen durch.

Ich habe das Buch sehr gern gelesen. Besonders Vivi und Alejandro habe ich ins Herz geschlossen. Witzig fand ich die Anekdoten mit Vivis schwerhöriger Schwiegermutter Rosemary und ihrem betagten Kater. Ich lese gern Bücher Mütter und Töchter und dieses hat mir nicht viel Konzentration, dafür aber das eine oder andere Schmunzeln und auch mal ein Tränchen abverlangt. Ich mochte die Liebesgeschichte und fand es spannend zu erfahren, was damals mit Athene und Suzanna passiert ist. Von mir ⭐⭐⭐⭐⭐ und eine Leseempfehlung.

Bewertung vom 22.09.2025
Wünsche, Christiane

Es bleibt doch in der Familie (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Christiane Wünsche zählt zu meinen Lieblingsautorinnen, ich habe alle ihre Familienromane sehr gern gelesen und auch mit dem neuesten Es bleibt doch in der Familie hat sie meine Erwartungen erfüllt. Es geht um eine Erbengemeinschaft und deren Umgang mit dem Erbe nach dem Tod ihrer Tante Klara.
Klara lebte seit ihrer Heirat in den 1950er Jahren auf der Rheininsel Hohenwerth. Die Insel ist vom Festland aus nur mit dem Boot erreichbar, Klara lebte dort seit dem frühen Tod ihres Mannes ganz alleine. Bis zu einem Vorfall in den Achtziger Jahren lud sie ihre beiden Schwestern und deren Kinder jeden Sommer zu sich auf die Insel ein. Sie hat ihr Erbe zu gleichen Teilen den sechs Kindern ihrer Schwestern und einer unbekannten siebten Person vermacht, die sie in ihrem Testament als ihre große Liebe bezeichnet.
Klaras älteste Nichte Marlene hat den meisten Kontakt zu ihrer Tante. Sie lebt allein und arbeitet als Klavierlehrerin. Klaras Klavier ist das einzige, an dem sie vom Erbe ihrer Tante interessiert ist. Sie ist traurig darüber, dass Klara ihr nie von ihrer großen Liebe erzählt hatte.
Der Roman ist aus der Perspektive der drei Schwestern Marlene, Esther und Nicky geschrieben. Esther ist verheiratet, hat zwei Söhne und wird bald Oma. Nicky ist geschieden und hat eine erwachsene Tochter, ihr Zwillingsbruder Andy lebt mit seinem Mann in Australien.
Bei der Testamentseröffnung gibt es neben der Enthüllung der Identität von Klaras großer Liebe eine weitere Überraschung für die Familie. Ihnen wird eine Frist von vier Wochen eingeräumt, um zu entscheiden, wie sie mit dem Erbe verfahren wollen, Klaras einzige Bedingung ist, dass die Entscheidung einmütig getroffen wird.
Marlene ist mein Lieblingscharakter in dem Roman, sie ist meiner Meinung nach die Einzige unter Klaras Neffen und Nichten, die das Erbe verdient hatte. „Ihr wurde schmerzlich bewusst, dass sie ihr bisheriges Leben lang auf der Suche gewesen war, was sie als Frau eigentlich ausmachte. In früheren Zeiten hätte man sie vielleicht als alte Jungfer eingestuft, als kinderlose unverheiratete Frau ohne Aussicht, eine eigene Familie zu gründen und damit in der Mitte der Gesellschaft anzukommen. Doch obwohl es sie schmerzte, kein Kind zu haben, war sie zu keiner Zeit gesellschaftlich geächtet oder wegen ihres Singledaseins angefeindet worden.“ Ganz im Gegensatz zu ihrem Bruder Andi, der aufgrund seiner Homosexualität oft angefeindet wurde.
Marlene findet Antworten auf ihre Fragen in Peters Tagebüchern, doch was damals wirklich passiert ist, erfahren wir erst am Ende des Romans.
Ich habe das Buch in kurzer Zeit verschlungen, da immer wieder neue Fragen aufgetaucht sind, auf die ich Antworten haben wollte, allen voran: Wer war Klaras große Liebe und war Peters Tod wirklich ein Unfall? Besonders gut gefallen hat mir die Entwicklung von Michael, der seine ignorante und arrogante Einstellung zu Menschen, die in seinen Augen nicht „normal“ sind, überdacht hatte. Als Familienmensch habe ich mich auch sehr darüber gefreut, dass sich die sechs Cousins und Cousinen im Zuge der Erbangelegenheit wieder angenähert hatten. Christiane Wünsche hat erneut einen spannenden und interessanten Roman geschrieben, den ich sehr gern weiterempfehle.

Bewertung vom 06.09.2025
Ahrens, Henning

Jahre zwischen Hund und Wolf


ausgezeichnet

Jahre zwischen Hund und Wolf von Henning Ahrens ist das erste Buch, das ich von dem Autor gelesen habe. Sein Buch Mitgift wurde 2021 für den Deutschen Buchpreis nominiert, was mich nicht überrascht. Jahre zwischen Hund und Wolf hat mir sehr gut gefallen.
Hardy ist Comiczeichner. Er kommt ursprünglich aus Kiel, lebt aber seit einigen Jahren in einem kleinen Dorf in der Normandie. Seine Freundin Aîné betreibt den örtlichen Blumenladen.
Zwei Ereignisse erschüttern Hardys ruhiges Leben, erstens: Er findet am Strand die Erkennungsmarke eines deutschen Soldaten. Sein Freund Vincent, der capitaine de police, findet die Enkeltochter des in der Normandie während des Zweiten Weltkriegs gefallenen deutschen Soldaten. Gisela Krause reist in die Normandie, um sich persönlich bei Hardy zu bedanken.
Das zweite wichtige Ereignis ist die Traueranzeige einer Frau, deren Name ihm nichts sagt. Neugierig reist er nach Kiel, um an der Trauerfeier teilzunehmen. Es stellt sich heraus, dass er den betagten Golden Retriever Brahma geerbt hatte. Er nimmt den Hundesenior mit in die Normandie, wo er ihm einen schönen Lebensabend beschert.
Wir begleiten Hardy in seinem Alltag als Comiczeichner. Er arbeitet am 12. Band einer Fantasy-Reihe, würde aber viel lieber eine Graphic Novel über die Zeit der deutschen Besatzung in der Normandie schreiben. Dafür befragt er den betagten Veteranen Jean-Jacques: „Ich habe nicht den Eindruck, dass Sie zu den neuen deutschen Nazi-Wölfen im Schafspelz zählen. Übrigens erschreckend, aber was uns Franzosen betrifft, so haben wir nichts vergessen, und wir werden nie vergessen. Wir bleiben wachsam, Monsieur.“ In der Normandie wird jährlich der D-Day groß gefeiert, der Tag, an dem die Alliierten am Strand gelandet und Frankreich befreit haben. Im ganzen Départment finden sich Gedenk- und Erinnerungsstätten an die meist kanadischen und britischen Befreier.
Sehr berührt hat mich die Beziehung zwischen Hardy und seinem Hund. Als Hundehalterin ist mir bei der gemütlichen Zweisamkeit der beiden das Herz aufgegangen. Sehr gelacht habe ich darüber, wie die Dorfbewohner*innen es geschafft haben, Gisela Krause zu vertreiben.
Auch das Setting Normandie und das Dorf Saint-Lazare-sur-Terrette haben es mir angetan, mich teils berührt und teils zum Lachen gebracht. Der Roman endet mit der Feier zu Hardys 60. Geburtstag, zu der auch seine Tochter Lou aus London und sein Schulfreund Peter aus Frankfurt anreisen, mit dem er nach dem Abitur zum ersten Mal die Normandie bereist hatte.
Alles in allem ein sehr gelungener Normandie-Roman, den ich gerne weiterempfehle.

Bewertung vom 27.08.2025
Georg, Miriam

Die Verlorene


ausgezeichnet

Ich liebe die Hamburg-Dilogien von Miriam Georg und auch Die Verlorene, die teils in Frankfurt und teils in Schlesien spielt, konnte mich begeistern. Es ist die Geschichte der Schwestern Änne und Luise und ihrer Familie.
Frankfurt, 2019: Änne, 93, wird nach einem Sturz bewusstlos ins Krankenhaus eingeliefert. Ihre Enkelin Laura macht sich große Sorgen. In Ännes Haus findet sie Hinweise darauf, dass sie Erlebnisse aus ihrer Kindheit in Schlesien verschwiegen hatte. Lauras Mutter Ellen: „Aber ab und an hatte es Änne gepackt, und sie hatte von Schlesien geredet. Davon, wie sie die Pferde im Fluss baden ließen, wie die Kartoffelfeuer rochen, wie die Pirole in den Baumwipfeln umherhüpften, wie die Pappeln rochen. Nur die Menschen waren in diesen Erzählungen immer so blass geblieben.“
Laura beschließt nach Schlesien zu fahren und dort nach dem Pappelhof zu suchen, der bis zum Jahr 1945 Ännes Familie gehört hatte.
Schlesien, 2019: Der Pappelhof liegt abgelegen zwischen Oppeln und Gleiwitz. Aus dem Haus soll demnächst ein Hotel werden, und Laura ergreift die Chance, im Haus ihrer Vorfahren zu übernachten.
In Rückblenden in die 1930er und 1940er Jahre lernen wir Familie Thomke kennen: Großmutter Jula, Vater Hermann, Mutter Hela und die Kinder Erich und Gabriel, Änne und Luise. Auf dem Pappelhof werden Pferde gezüchtet, die Thomkes beschäftigen viele Arbeiter, um den Hof bewirtschaften zu können.
Änne und Luise, beide Jahrgang 1926, sind als Kinder unzertrennlich und besonders Änne hängt sehr an ihrer Schwester. Ein Leben ohne Luise ist für sie unvorstellbar. Aufgrund einer Erkrankung muss sich Änne vor den Nazis verstecken, sie leidet Höllenquallen als sich Luise verliebt und ihre Zeit lieber mit Karl als mit ihr verbringt.
Schlesien bleibt weitgehend vom Krieg verschont, allerdings werden Erich und Gabriel eingezogen, und dem Pappelhof werden Fremdarbeiter und Kriegsgefangene zugewiesen. Nach der Potsdamer Konferenz wird Schlesien Polen zugeteilt, der Pappelhof wird enteignet, eine polnische Familie zieht ein, die Thomkes haben die Wahl: In den Westen ziehen oder bleiben und in eine Arbeiterwohnung über dem Stall ziehen. Luise will nicht weg, sie wartet auf ihren Geliebten, also bleibt auch Änne. Der Hof wird zuerst von russischen, später von polnischen Soldaten besetzt.
Es ist das persönlichste Buch der Autorin, sie hat es ihrem Großvater Karl Georg gewidmet, der auf der Krim stationiert war und viele Jahre in russischer Gefangenschaft verbracht hatte. Der Krieg hat ihn stark verändert, seine Erinnerungen hat er aufgeschrieben, und die Kapitel im Buch, die aus Karls Perspektive geschrieben sind, sind von seinen Manuskripten inspiriert. Die Geschichte der Vertreibung ist an die Erinnerungen ihrer Großmutter angelehnt.
Im Nachwort schreibt die Autorin, dass sie in diesem Roman die Geschichte ihrer Familie verarbeitet hat und die Frage „wie innere Wunden und Traumata über Generationen hinweg weitergegeben werden. Ich wollte eine Erzählung erschaffen, die die kollektive Erfahrung von Verlust und Identität thematisiert.“
Der Roman ist spannend und berührend, ich konnte ihn kaum aus der Hand legen. Er hat mich zum Nachdenken angeregt, nicht nur über die tragische Geschichte der beiden Schwestern, sondern auch über die verheerenden Folgen von Krieg, Flucht und Vertreibung, die nicht nur die Kriegsgeneration, sondern auch deren Nachfahren betreffen.

Bewertung vom 24.08.2025
Gieselmann, Dirk

Zeit ihres Lebens


ausgezeichnet

Zeit ihres Lebens von Dirk Gieselmann ist eine wunderschöne Liebesgeschichte, die mich tief berührt und deren Ende mich traurig zurückgelassen hatte.
Georg und Frieda, Anfang 40 bzw. Ende Dreißig, lernen sich Anfang der Achtziger Jahre kennen. Georg ist Vertreter für medizinische Geräte. Er ist seit zwölf Jahren mit Anne verheiratet, die beiden haben einen Sohn. Ihre Ehe plätschert vor sich hin, Georg ist im Außendienst tätig, es passt ihm ganz gut, dass er selten zu Hause ist. Frieda ist Grundschullehrerin und ledig. Sie hatte noch nie eine längere Beziehung, da ihr der Richtige noch nicht begegnet ist – das ändert sich, als sie Georg kennenlernt. Die beiden lernen sich an einer Bushaltestelle kennen. Es regnet in Strömen und Georg bietet Frieda seinen Schirm an. Das ist der Beginn ihrer lebenslangen Liebesgeschichte.
Frieda bietet Georg an, sein Familienleben weiterzuführen und gibt sich damit zufrieden, ihn während seiner Geschäftsreisen zu treffen. „Sie vermisste ihn, wenn er nicht bei ihr war, das schon, doch sie litt nicht mehr darunter: Sie wusste sicher, dass er wiederkommen würde, wie auf die Nacht der Morgen folgt, auf die eine Jahreszeit die nächste, dass er bei ihr sein würde, im März, im Juni, im September und Dezember.“
Der Autor erzählt die Geschichte aus beiden Perspektiven, der des Mannes und der Frau. Wir begleiten beide nicht nur während ihrer Treffen, sondern auch in ihrem Leben ohne den bzw. die andere. Frieda geht in ihrem Beruf auf, verbringt oft Zeit mit ihrem Neffen und ihrem Vater. Georg hingegen erledigt seinen Job pflichtbewusst und ohne große Begeisterung, genauso wie die Besuche bei den Schwiegereltern und den monatlichen Beischlaf mit Anne. Der Familienhund Bruno ist der Einzige, der sein Innenleben und seine Gedanken kennt und diese kommentiert.
Georgs Unterhaltungen mit Bruno mochte ich sehr. „Denkst du oft an diese Frieda? Die meiste Zeit. Was ist mit Anne? Sie ist meine Frau. Aber liebst du sie? So gut ich kann. Ist das wenig oder viel? Es ist beides, irgendwie. Ich verstehe. Und bei Frieda ist es viel? Zu viel sogar.“
Es ist eine traurige Liebesgeschichte mit einem traurigen Ende in wunderschöner poetischer Sprache in Worte gefasst. Der Schreibstil erinnert mich an den Ewald Arenz, der zu meinen Lieblingsautoren gehört. Sehr gerne empfehle ich diesen etwas anderen Liebesroman weiter.

Bewertung vom 22.08.2025
Recchia, Roberta

Ciao bis zu den schönen Tagen


ausgezeichnet

Ciao bis zu den schönen Tagen von Roberta Recchia, aus dem Italienischen von Christiane Burkhardt, ist der zweite Roman der Autorin, der wie bereits ihr Debütroman Endlich das ganze Leben mit dem Tod eines jungen Mädchens beginnt. In dem Roman geht es um die Familie des Täters Maurizio Nardulli.
Luca Nardulli, 12, verliebt sich in die 16jährige Betta. Diese verbringt ihre Sommer im Ferienhaus ihrer Eltern in Torre Domizia an der italienischen Küste. Luca schmachtet Betta aus der Ferne an, er ist sich dessen bewusst, dass sie nicht an ihm interessiert ist. Trotzdem schenkt sie ihm Aufmerksamkeit und ab und an wechseln die beiden sogar ein paar Sätze. Als Betta eines Morgens tot am Strand aufgefunden wird, ist Luca am Boden zerstört, er glaubt, sich nie wieder verlieben zu können. Lucas Vater ist Polizist, er ermittelt in Bettas Fall. Die Täter werden erst Jahre später gefunden, einer von ihnen ist Maurzio, Lucas älterer Bruder, zu dem Luca immer aufgeschaut, den er immer bewundert hat.
Luca wird von seiner Mutter in den nächsten Zug nach Bergamo gesetzt, wo sein Onkel Umberto mit seiner Frau Mara und den drei Töchtern Carolina, Caterina und Emilia wohnen. In Bergamo wird Luca von seinem Onkel herzlich empfangen, seine Tante hingegen will ihn so schnell wie möglich wieder loswerden. „Woher willst du wissen, dass er nicht auch so ein Tier ist wie sein Bruder? Dein ach so reizender Neffe. Luca muss gehen“.
Umberto hält zu Luca und zieht mit ihm in die Klosterschule, in der er seit vielen Jahren stellvertretender Schulleiter ist. Bei den Patern geht es Luca gut, allerdings vermisst er seine Eltern und vor allem seine Freundin Flavia. Flavias Eltern verbieten ihr den Kontakt zum Bruder eines Mörders, doch sie tut alles, um Luca wiederzusehen.
„Sein Leben kam ihm vor wie ein Kartenhaus, das er nach jedem Einsturz hartnäckig wieder aufbaute: Doch schon beim kleinsten Windhauch herrschte wieder tabula rasa.“ (S. 124)
Im zweiten Teil gibt es einen Sprung ins Jahr 2002 – Luca ist 36 Jahre alt, verheiratet und Vater einer Tochter. Maurizio wird aus dem Gefängnis entlassen, und die beiden Brüder sehen sich nach zwanzig Jahren wieder. Sie sind nicht mehr dieselben, die sie damals in Torre Domizia waren. Ob Luca seinen Groll überwinden kann und es zu einer Versöhnung kommt?
Das Schicksal der Familie Nardulli hat mich tief berührt. Ich finde es ungewöhnlich, dass eine Frau aus der Sicht eines jungen und eines älteren Mannes schreibt, denn neben Luca dreht sich die Handlung um seinen Onkel Umberto - der seine drei Töchter über alles liebt, sich jedoch immer einen Sohn gewünscht hatte. Ich fand es bewundernswert, wie er sich für Luca einsetzt und alles dafür tut, damit sich dieser in der neuen Stadt und der neuen Schule wohl fühlt.
Ich habe das Buch sehr gern gelesen und werde auch Endlich das ganze Leben noch lesen, in dem es um Bettas Familie geht. Ciao bis zu den schönen Tagen ist ein Buch, das zeigt, wie wichtig der Zusammenhalt in einer Familie ist und dass man nur gemeinsam Schicksalsschläge überwinden und vielleicht sogar wieder ein glückliches Leben führen kann. Von mir eine Leseempfehlung und fünf Sterne.

Bewertung vom 20.08.2025
Abel, Susanne

Du musst meine Hand fester halten, Nr. 104


ausgezeichnet

Du musst meine Hand fester halten, Nr. 104 ist der von mir langersehnte neue Roman von Susanne Abel. Ich habe bereits die Gretchen-Dilogie verschlungen und auch ihr neuer Roman hat mich begeistert und tief berührt.
Susanne Abel stellt das harte, arbeits- und entbehrungsreiche Leben der beiden Heimkinder Hardy und Margret sowie ihrer Urenkelin Emily dar.
Sauerland, 1945: Der kleine Hardy verliert auf der Flucht aus Sopot bei Danzig seine Eltern und die große Schwester. Im Heim wird er auf etwa drei Jahre geschätzt, das Namensschild, das man ihm um den Hals gehängt hat, ist kaum zu entziffern. Mit dem falschen Namen und ohne Geburtsdatum ist es dem Suchdienst des Roten Kreuzes nicht möglich, seine Angehörigen zu finden. So fängt Hardys Leidensweg als Heimkind Nr. 104 an.
Auch die neunjährige Margret verliert im Krieg ihre Eltern und ihren kleinen Bruder Gerhard. Im Heim nimmt sie sich des kleinen Hardy an, der sie an Gerhard erinnert. Als Margret von ihrer Tante gefunden wird und das Heim verlassen darf, bricht für Hardy eine Welt zusammen. Margret tritt jedoch einen weiteren Leidensweg an, der nach einer Vergewaltigung im Magdalenenheim endet.
Im Heim wird Hardy, der sich weigert zu sprechen, als schwachsinnig diagnostiziert und nach einem Vorfall ins Franz Sales Haus in Essen verlegt. Dort werden an ihm, für den sich nach Margrets Weggang niemand mehr einsetzt, Medikamentenversuche gemacht. Er vegetiert nur noch vor sich hin, sabbernd, mit dem Kopf wackelnd, nicht imstande, auf Toilette zu gehen.
Margret verlässt das Heim mit ihrer Volljährigkeit und bekommt eine Anstellung als Pflegerin in dem Heim, in dem sie Hardy komplett verwahrlost wiederbegegnet.
Der Roman spielt auf mehreren Zeitebenen, so lernen wir neben Hardy und Margret ihre Tochter Sabine, Enkelin Julia und Urenkelin Emily kennen. Besonders Emily steht in vielen Kapiteln im Mittelpunkt. Wir begleiten sie von ihrem vierten bis zum fünfzehnten Lebensjahr (2005-2015). Emily lebt bei ihren Urgroßeltern, da ihre Mutter Julia nicht in der Lage ist, sich um sie zu kümmern.
Alle drei Frauen – Margret, Sabine und Julia – haben Depressionen, die sie mit Psychopharmaka behandeln. Margrets nicht verarbeitete Traumata überträgt sie auf ihre Tochter, und auch diese kämpft mit ihren Dämonen.
Im Nachwort erfahren wir, dass die Autorin die Zustände in Heimen in den Sechziger und Siebziger Jahren so beschrieben hat, wie sie laut ihrer Recherche auch tatsächlich waren. Heimkinder wurden misshandelt, nicht selten sexuell missbraucht und dienten als Versuchskaninchen für Medikamente und Impfstoffe. Besonders furchtbar finde ich, wie grausam und gnadenlos sich Nonnen gegenüber den ihnen anvertrauten Kindern verhalten haben. Kein Wunder, dass Hardy und Margret als Erstes aus der Kirche ausgetreten sind. Auch das damalige unmenschliche und herzlose Verhalten von Ärzten ist für mich unbegreiflich.
Das Buch hat mich sehr bewegt, besonders angesichts dessen, dass die beschriebenen Zustände auf Tatsachen basieren. Angesichts all der Tragik habe ich mich sehr über das glückliche Ende für Hardy gefreut. Sein Leben lang hatte er sich nach seinen Eltern gesehnt und sie schmerzlich vermisst, und auch Emilys größter Wunsch ist es, einen Papa zu haben. Susanne Abel hat mir mit ihrem hochemotionalen Roman mein Sommerhighlight beschert!

Bewertung vom 18.08.2025
Rey, Christina

Der Duft der fernen Insel


gut

Der Duft der fernen Insel ist mein erstes Buch von Christina Rey, allerdings habe ich von ihr einige Neuseelandromane gelesen, die sie unter dem Pseudonym Sarah Lark geschrieben hat. Mit ihren Büchern versetzt sie uns in ferne und exotische Länder, in ihrem neuen Roman geht es nach Sansibar.
Die Handlung spielt Mitte des 19. Jahrhunderts. Eve arbeitet in London als Lehrerin in einer Blindenschule. Sie bekommt eine Einladung vom Sultan von Sansibar, seine 9jährige Tochter Nunu in seinem Palast zu unterrichten und vor allem zu erziehen. Nunu kommt zwar mit ihrer Blindheit gut zurecht, aber sie bringt ihre Geschwister und die Haremsdamen mit ihren Streichen und ihrer Wildheit oft zur Verzweiflung. Kurzentschlossen reist Eve nach Sansibar. Der englische Konsul bietet ihr an, seine langjährige Angestellte Fanny als Bedienstete in den Palast mitzunehmen. Eve und Fanny freunden sich an.
Nunu ist sehr an Düften interessiert und ihr größter Wunsch ist es, Parfum herzustellen. Der Sklave Moses baut ihr einen Destillierapparat, und Nunu beglückt schon bald den ganzen Harem mit ihren Parfumkreationen.
Meine Lieblingscharaktere sind Madeleine und ihr Sohn Rudolphe. Die Französin wurde auf einer Afrikareise überfallen und als Sklavin an den Sultan verkauft. Im Palast gebar sie ihren Sohn Rudolphe, der die ersten Jahre bei ihr im Palast leben durfte, mit vier Jahren jedoch an den englischen Konsul übergeben wurde. Mit dem Sultan bekam sie eine Tochter, von der wir gegen Ende des Buches noch einiges erfahren.
Auf den 640 Seiten gibt es einige langatmige Passagen. Die Jahre im Palast werden sehr ausführlich beschrieben – die Autorin hat es anhand des Tagebuchs einer Prinzessin von Sansibar authentisch dargestellt - dafür überschlagen sich danach die Ereignisse.
Im Mittelpunkt des Romans steht nicht Eve, sondern Nunu, der Klappentext weckt falsche Erwartungen: „Eve zieht sich mit Nunu auf eine Gewürzplantage zurück, wo sie Nunus Begabung im Umgang mit Düften und in der Herstellung von Duftkompositionen fördert. Aber die friedliche Zeit endet jäh, als sich die beiden Frauen in denselben Mann verlieben.“ Nunu verliebt sich mehrmals, wird vom Sultan gegen ihren Willen verheiratet und muss viel erleiden, bevor sie schlussendlich fernab der Heimat glücklich wird.
Von Eve erfahren wir kaum noch etwas nach ihrem Auszug aus dem Palast. Dafür begleiten wir Fanny und Moses auf ihrem Weg aus der Sklaverei zu Missionaren.
Leider konnte mich das Buch nicht fesseln, mein Interesse für die Herstellung von Parfum hält sich in Grenzen, diese wird meiner Meinung nach zu detailliert beschrieben. Gerne hätte ich stattdessen mehr über Eve erfahren. Ich lese gerne Wälzer mit 500 Seiten und mehr, wenn sie spannend und fesselnd sind, was hier jedoch nicht der Fall war. Von mir daher 3,5 Sterne und eine Leseempfehlung für alle, die sich für Düfte, Gewürze und die afrikanische Flora interessieren.

Bewertung vom 11.08.2025
Slocombe, Penelope

Sunbirds


ausgezeichnet

Sunbirds ist der Debütroman der britischen Autorin Penelope Slocombe. Sie beschreibt darin die Suche einer Mutter nach ihrem Sohn, der sieben Jahre zuvor nach Indien gegangen ist.
Anne lebt mit ihrem Mann Robert in Schottland, wo sie eine Farm betreiben. Im Alter von achtzehn Jahren beschließt ihr Sohn Torran, nach Indien zu reisen. In den ersten Jahren meldet er sich noch sporadisch von den Orten, die er bereist, doch irgendwann hören sie nichts mehr von ihm.
Anne beschließt, ihren Sohn in Indien zu suchen. Ihr Vorhaben gleicht der Suche nach einer Nadel im Heuhaufen, denn jedes Jahr verschwinden Dutzende ausländische Reisende im nordindischen Distrikt Kullu. Robert hat schon die Hoffnung aufgegeben, er glaubt nicht, dass sein Sohn noch lebt – bis er Besuch von seiner Nichte Esther bekommt.
Esther ist Journalistin, sie hat als Kind bei Anne und Robert gelebt, nachdem ihre Eltern sich getrennt haben. Robert hat die achtjährige Tochter seiner Schwester bei sich aufgenommen. Anne fügte sich, hatte aber genug mit ihrer Schwangerschaft und später mit ihrem Baby zu tun, ihr Interesse für Esther hielt sich in Grenzen. Natürlich ist Annes mangelnde Fürsorge nicht spurlos an Esther vorbeigegangen, sie hielt sich an Robert und verließ im Alter von vierzehn ihre Pflegefamilie, um von da an bei ihrem Vater zu leben.
Kurz nach Torrans Verschwinden hat Esther einen vielbeachteten Artikel geschrieben, in dem sie Anne als eine schlechte Mutter darstellt. Evie liest den Artikel und kontaktiert Esther, sie erzählt ihr, dass sie Torran vor nicht allzu langer Zeit im Sunshine House, einer Art Kommune, kennengelernt hatte. Esther beschließt, nach Indien zu fliegen, um Anne diese Information persönlich zu übermitteln.
Die beiden Frauen machen sich gemeinsam auf den Weg zum Sunshine House. Geführt und begleitet werden sie von einem ortskundigen Bergführer. Es wird eine lange und beschwerliche Reise, auf der die beiden ihre konfliktreiche Beziehung aufarbeiten.
Die Kapitel sind abwechselnd aus Annes und Esthers Sicht geschrieben, in den mit „Früher“ betitelten Kapiteln erinnert sich Anne an ihre erste Begegnung mit Robert, ihr Elternhaus, das sie als 18jährige verlassen hatte, die ersten Jahre mit Torran, der von klein auf mehr mit Robert als mit ihr verbunden war, das Leben mit der unglücklichen Esther, von der sie sich abgelehnt fühlte.
Zu Anne habe ich keinen emotionalen Zugang gefunden, ich habe sie als eher kalt wahrgenommen, Esther hingegen mochte ich sehr. Ich hatte Mitleid mit dem kleinen Mädchen, das von der Mutter verlassen wurde und bei Onkel und Tante leben musste, einer Tante, die sie nicht dahaben wollte.
Das Ende passt gut zu Annes Geschichte. Sie macht auf der Reise eine bewundernswerte Entwicklung durch, auch wenn sie mir bis zuletzt nicht sympathisch geworden ist.
Ich habe Sunbirds sehr gerne gelesen, habe mit Anne und Esther Teile des Himalaya durchquert, fand die Aussteiger, die die beiden kennengelernt haben, sehr interessant und ihre Geschichten berührend. Mein Lieblingscharakter war Robert, der den Verlust seines Sohnes zwar sehr betrauert, aber sein Leben trotzdem stillschweigend weiterlebt.
Ich vergebe fünf Sterne und eine Leseempfehlung für alle, die sich auf die Geschichte einer Frau und Mutter auf der Suche zu sich selbst einlassen möchten.