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leseleucht
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Alfter

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Insgesamt 205 Bewertungen
Bewertung vom 13.10.2025
Handorf, Anne

Es könnte so einfach sein


ausgezeichnet

Die schönste Zeitverschwendung der Welt
Während der Literaturkritiker und Nachbar der Bestseller-Autorin Vera Albach ihre Romane mit dem Stempel „Zeitverschwendung“ brandmarkt, ist die Lektüre von „Es könnte so einfach sein“ die schönste Zeitverschwendung der Welt sowie die Lektüre all der Bücher, die ihre Leser unterhalten, berühren, sie mit Figuren zusammenführen, die sie gerne in ihr Leben lassen, die ihnen für ein paar Stunden die Möglichkeit bieten, in ein anderes Leben zu schlüpfen. Das alles kann man von „Es könnte so einfach sein“ behaupten. Es ist ein warmherzig, aber bisweilen auch mit beißendem Witz geschriebenes Buch über eine Frau, die man für ihr Leben bewundern, aber nicht immer beneiden kann. Vera Albach beginnt als Sekretärin in einem Verlag unter anderem für Groschenromane. Als sie für den Autor einer Doktor-Reihe einspringen muss, ist dies der erste Schritt auf ihrem Weg zu einer erfolgreichen Autorin oder korrekterweise zu einem erfolgreichen Autor. Denn in der jungen BRD der 60er und 70er Jahre kann eine Frau keine Karriere machen, weder in der Politik noch in der sonstigen Berufswelt und eben auch nicht als Autorin. Also ist sie oder wird vielmehr gezwungen unter männlichem Pseudonym zu veröffentlichen. Für ihre Karriere opfert sie viel, z. B. eigene Kinder. Dafür hat sie einen wundervollen Mann, der ihr den Rücken freihält und akzeptiert, dass sie diejenige ist, die in der Beziehung den Erfolg verbucht und das Geld verdient. Als Ersatzkinder dienen ihr die Töchter ihrer Geschwister, junge Frauen, die in einer Zeit, in der die Möglichkeit besteht, dass eine Frau Bundeskanzlerin werden kann, ihren Mann bzw. ihr Frau zu stehen versuchen.
Mit großartigem Humor, aber auch mit dem nötigen Ernst und mit melancholisch-nachdenklichen Zwischentönen zeichnet der Roman von Anne Handorf ein lebendiges Bild der Mentalitätsgeschichte der jungen Bundesrepublik, die Rückständigkeit der von Männern dominierten Welt, die sich diese nach dem Krieg von den Frauen wieder zurückerobert haben und sie mit eisernem Griff und einer Menge Vorurteile zu verteidigen versuchen. Dabei ist das Buch keineswegs ein feministisches Manifest. Mit leisen und nachdenklichen Worten thematisiert es die Frage nach der Rollenverteilung zwischen Mann und Frau, nach dem Recht der Frau auf Selbstverwirklichung, zu dem auch der Wunsch oder eben Nicht-Wunsch nach Kindern gehört. Vera Albach zeigt uns eine Frau, die ihr ganzes Leben versucht hat, ihren Weg zu gehen, auch wenn er oft im Schatten von Männern lag, nur bezeichnender Weise nicht im Schatten ihres eigenen Mannes. Leo ist ein ganz wundervoller Charakter, bei dem sich nicht nur die Tochter ihrer Nichte fragt, wo man wohl so einen herbekommt. Mit viel Verständnis und noch mehr Fortschrittlichkeit steht er seinen Mann, indem er den starken Mann hinter einer starken Frau darstellt, mit den liebenswerten Schwächen, die er hat.
Der Roman ist ein Buch, in dem man sich gleich zu Hause fühlt. Das Leben mit Vera und Leo Albach lädt den Leser zum Verweilen, Mitfiebern, Mitlachen, Mittrauern und Mitfeiern ein. Für alle Münsteraner bietet es darüber hinaus viel charmantes Lokalkolorit, allerdings mit wesentlich mehr Humor und Witz, als den Münsterländern gewöhnlich zugeschrieben wird.

Bewertung vom 12.10.2025
Page, Libby

Das Jahr voller Bücher und Wunder


ausgezeichnet

Cecilia Ahern trifft Hallmark Channel

Der Anlass ist ein trauriger: Tillys Mann ist vor einem halben Jahr gestorben, als ein Anruf des Buchhändlers Alfie Lane sie in ängstliches Erstaunen versetzt. Ihr Mann hat ihr ein „Jahr voller
Bücher“ hinterlassen, die sie aus ihrer Trauer reißen und ihr dabei helfen sollen, das zu finden, was ihr Leben ausmacht. Dabei helfen der Lesemaus Tilly aber nicht nur die verschiedensten Bücher über Wildcampen, Kreativität, Romane, die in Paris oder der Toskana spielen, sondern auch der zurückhaltende Buchhändler Alfie, der nicht nur mit den Verlusten in seiner Vergangenheit zu kämpfen hat, sondern auch um die Zukunft seiner Buchhandlung.
Ein wenig erinnert sie schon, die Botschaften aus dem Jenseits, hier die Briefe von Tillys Ehemann, die in den Büchern liegen, die er ihr zugedacht hat, an „P.S. – Ich liebe Dich“. Und von der Stimmung fühlt man sich gerade zum Ende hin versetzt in einen Hallmark Weihnachtsfilm. Auch aus den vielen anderen Büchern, die an unterschiedlichsten Stellen des Romans genannt werden oder in der Romanhandlung eine Rolle spielen, fließt viel Inspiration in die stimmungsvollen zwölf Monate, die der Leser an der Seite von Tilly verbringt.
Wer Bücher und Buchhandlungen liebt, wird auch diese Geschichte lieben, denn es ist eine zaubervolle Idee, dieses Jahr voller Bücher. Was die Autorin auf jeden Fall beherrscht, ist das Entwickeln liebenswürdiger, vielseitiger Charaktere und das Inszenieren verschiedener Stimmungen. Das Buch liest sich leicht und flüssig und ist, auch wenn es viele Tränen und melancholische Momente gibt, doch immer von einem heiter-optimistischen Grundton getragen. Es ist inspririerend im Hinblick auf die vielen genannten Titel und macht auf jeden Fall Lust aufs Lesen und Stöbern in Buchhandlung und darauf, sich von den Büchern vielleicht auch einmal dazu anregen zu lassen, dem eigenen Leben etwas mehr Abenteuerlust und Farbenfreude angedeihen zu lassen. Auch wenn es manchmal ein gewissen Hang zum Kitsch und zur Sentimentalität verspürt, bietet das Buch doch für ein paar Stunden Lesefreude und Herzenswärme in verschiedenem, je für sich stimmungsvollen Ambiente. Der Roman bedient gekonnt die Hebel, die Leser:Innen für Augenblicke die Welt um sich herum vergessen lassen und gute Laune machen. Ein Erfolgsrezept, wie es die Cecilia Aherns oder Hallmarks dieser Welt bereits zu vor für sich und die Leser:Innen ihrer Bücher bzw. Zuschauerinnen ihrer Filme zu nutzen wussten.

Bewertung vom 12.10.2025
Lees, Jordan

Whisperwicks - Die Suche nach den Flüsterflammen


ausgezeichnet

Eine Welt voll überbordender Phantasie
Das hat Jordan Lees in seinem Erstlingsroman „Whisperwicks – Die Suche nach den Flüsterflammen“ geschaffen. Benjamiah ist ein ganz normaler Junge, er lebt mit Großmutter und Eltern über ihrem Buchladen. Er liebt Bücher und das Lesen, aber er liest mehr Bücher, über die Welt, wie sie wirklich ist, bis er eines Tages in einer Parallelwelt landet, in der gar nichts wirklich ist. Diese Welt besteht aus einem riesigen Labyrinth, in dessen Mitte das Böse wohnt. Ist es diese finstere Macht, die für das Verschwinden von Elizabellas Zwillingsbruder verantwortlich ist? Gemeinsam mit Benjamiah macht sie sich auf die Suche nach ihm in den undurchdringlichen Wirren des Labyrinths, immer auf der Spur, die ihr Bruder vermutlich gelegt hat, um sie zu ihm zu führen. Oder doch nicht?
Den Einstieg fand ich schwierig, weil man in dieser mysteriösen Welt des Labyrinths zusammen mit dem Zwillingsbruder von Elizabellas auf ein schwer zu definierendes Wesen trifft, das sich aus dem Spalt seiner Zimmerwand schlängelt. Es strahlt pure Bösartigkeit aus. Der Anfang ist zwar spannend, aber gleichzeitig auch schon schaurig-abstoßend. Mit dem Eintreten von Benjamiah wird es leichter, sich in die Handlung fallen zu lassen, weil man mit ihm eine Figur hat, mit der man sich gut identifizieren kann. Und das ist auch nötig in so einer irren und verworrenen Welt, in der Elizabella und ihre Familie wohnen. Aber spätestens mit Benjamiahs Eintritt in diese Welt hat die Handlung des Buches den Leser dann gänzlich gepackt. Die Rätsel, die beide zu lösen haben, sind spannend, die Welt schaurig schön. Mit überbordender Phantasie hat der Autor eine Parallelwelt erschaffen und ihr zwei Charaktere gegeben, mit denen der Leser mitfiebern kann. Der Roman hat alles, was ein Leseabenteuer braucht: eine Phantasiewelt, in der man gänzlich abtauchen kann, packende Spannung, grausige Gegner und zwei Helden, die nicht so heldenhaft sind, das man um sie nicht Angst haben müsste und mit denen man sich gerne in diese Welt begibt, die viel mehr bietet, als nur das, was man sehen und vermessen kann. Immer ist es anders, als es zu sein scheint. Und doch kann man froh sein, in einer Welt zu leben, die überschaubar ist, denn wie furchtbar muss es sein, durch eine Welt zu irren, in der man nach drei Straßen die völlige Orientierung verloren und den Weg nach Hause vergessen hat.
Wer seine Welt und seine Weltsicht erweitern und Abenteuer erleben will, der sollte Bücher wie dieses lesen.

Bewertung vom 12.10.2025
Engler, Michael

Wir zwei - Geschichten zum Einkuscheln


ausgezeichnet

Den Titel kann man wörtlich nehmen
Auch ohne Decke kann man sich in die Geschichten dieses schönen Kinderbuches gemütlich einkuscheln. Es umhüllen einen stimmungsvolle Bilder in beruhigenden Farben, ein poetischer, aber nicht überladener Erzählstil, der von Kindern gut verstanden und dem sie beim (Vor-)lesen gut folgen können, sowie eine niedliche, liebevoll in Wort und Bild gezeichnete kleine Freundesbande. Der verspielte, manchmal ein wenig einfältige Hase und der nachdenkliche, einfühlende Igel sind die Hauptcharaktere der Geschichte. Begleitet werden sie mal von einem Dachs, einem Biber, einer Haselmaus, einem Eichhörnchen oder einem Waschbären. Die kurzen Geschichten, die sich prima zum Einschlafen vorlesen lassen, oder in einer kurzen Pause zwischendurch, drehen sich um die Abenteuer, die die Waldtiere erleben, aber auch um Freundschaft, Teilen, gegenseitige Fürsorge und Hilfe. Dabei steht für mich allerdings nicht das Belehrende im Vordergrund, sondern die jeweilige Stimmung: die Fröhlichkeit beim gemeinsamen Spiel, die Sehnsucht und die Geborgenheit unter Freunden, das Innehalten und Nichtstun, aber auch das Überwinden von Frucht.
Ein rundum gelungenes Buch zum Anschauen, Vorlesen, Selberlesen. Es ist spannend, humorvoll, nachdenklich, beruhigend, wunderschön und liebevoll gemacht!

Bewertung vom 29.09.2025
Thor, Annika

Eine Insel im Meer


ausgezeichnet

Sehr beeindruckend
Auch als erwachsene Leserin, die sich schon viel mit dem Thema der Judenverfolgung beschäftigt hat, ist das Jugendbuch „Eine Insel im Meer“ von Annika Thor ein nachhaltiges Leseerlebnis gewesen. Bewundernswert ist es, wie der Autorin die Anlage der Figur der Steffi gelingt, einem jungen jüdischen Mädchen aus Wien, das im Jahr 1939 mit ihrer kleinen Schwester von den Eltern nach Schweden geschickt wird, um der Verfolgung durch die Nazis zu entgehen. Das Schicksal des Mädchens und auch das, was ihr auf der Insel widerfährt, geht wirklich zu Herzen. Denn sie erwartet kein Idyll, wie man es aus den Romanen von Astrid Lindgren kennt. Sie hat auch auf dieser Insel im Meer nicht nur mit Heimweh zu kämpfen, sondern ihre Erfahrungen reichen vom Unglauben, den man dem Schicksal der Juden in Deutschland und Österreich entgegenbringt, über die Gefühl der Hilflosigkeit und Fremdheit, gepaart mit der Sehnsucht nach der Heimat und den Eltern, bis hin zu Ausgrenzung, Niedertracht und Hass, wie ihn am offensten, wenn auch am unreflektiertesten die Gleichaltrigen äußern. Somit ist die Insel in mehrfacher Hinsicht ein Sinnbild für Isolation. Zum einen zeigt sie, wie gefangen sich Steffi fühlt und wie hilflos sie dem Schicksal ausgeliefert ist, dass die Erwachsenen im Großen (Politischen) wie im Kleinen (Familiären) über sie verhängt haben. Aber auch die Bewohner der Insel sind wie isoliert vom Weltgeschehen. Zwar dringen Schreckensnachrichten vom näher rückenden Krieg an ihre Ohren, aber ein Verständnis gibt es kaum. Sehr gelungen macht die Autorin am Unterschied der beiden Schwestern deutlich, wie anders sich die Erfahrungen in der Fremde gestalten können. Ihrer jüngeren Schwester erscheint alles leicht, ihr fliegen die Herzen zu, sie lernt schnell, sich anzupassen und die Sprache zu sprechen. So schnell, dass sie die Ziehmutter bald Mama nennt und mit Steffi Schwedisch statt Deutsch spricht, weil es für sie schöner klingt. Steffi dagegen tut sich schwer und ihr wird es schwer gemacht. Sie hat die Bürde, auf die kleine Schwester aufzupassen, aber auch das Erbe ihrer Wurzeln zu bewahren. Sie kann und will ihre Identität nicht einfach abstreifen. Sie hat Träume und ein Leben, die sie mit der Flucht noch nicht ganz hinter sich gelassen hat, die zu erreichen aber in weite Ferne gerückt ist. Und das, ohne dass Steffi versteht, warum eigentlich: Was hat sie getan? Was macht sie so anders? Warum hat sie das verdient oder eben gerade nicht verdient? Das Buch hat hoch emotionale Szenen, die dem Leser den Hals zuschnüren und das Herz schwer machen, wenn Steffi sich z. B. über das gefrorene Eis auf den Weg zum Festland macht, weil niemand bereit zu sein scheint, ihre Eltern vor dem zu retten, was ihnen in Österreich blüht, sich aber auf der Insel niemand vorstellen kann. Oder auch wenn in den Erinnerungen der Kinder schreckliche Szenen aus ihrem Alltag in Wien unter den Nazis und der beginnenden Schikane gegen die Juden auftauchen. Dagegen vermag das Buch aber auch das Glück der kleinen Dinge setzen, wie ein Tuschkasten vom guten Onkel Everet, ein Schneelicht, ein Fahrrad oder ein roter Badeanzug mit weißen Punkten. In der Kargheit und Einfachheit dieses Lebens auf der Insel, gerade in der Winterzeit, strömt etwas Beruhigendes aus. Und das ist wie Balsam, der sich auf die Seele legt, wenn sie schmerzlich berührt wird von dem, was Steffi widerfährt. Das Buch zeigt Unmenschliches und Menschliches und ist somit auch für jüngere Leser geeignet, die an ein schwieriges Thema herangeführt, und nicht in Watte gepackt, aber auch nicht allein und ungetröstet gelassen werden.
Zu einem kleinen Schatz lassen auch die wunderbaren Zeichnungen von Sabine Wilharm das Buch werden, die die stimmungsvollsten Momente gekonnt einfangen – im Guten wie im Schlechten. Eine Lektüre, die den Leser nachhaltig beeindruckt, die Erinnerung wach hält und so viel mehr vermittelt als ein Stück Zeitgeschichte: es geht dabei immer um (ein) Menschenleben.

Bewertung vom 26.09.2025
Dische, Irene

Prinzessin Alice


sehr gut

Weiter vom Wahnsinn weg und näher an der Menschlichkeit als viele ihrer Zeitgenossen

In dieser Geschichte verleiht die Autorin Irene Dische die Figur der Alice Buttenberg, Enkelin von Queen Viktoria, Prinzessin von Griechenland und Schwiegermutter von Queen Elisabeth II. eine eigene Stimme. Nach ihrer Flucht aus Griechenland ist sie angewiesen auf die Wohltaten ihrer beiden Schwägerinnen. Diese lassen sie aber auch wegen vermeintlicher Schizophrenie für zwei Jahre in ein Sanatorium wegsperren. Dabei scheint Alice die einzig normale in der Welt des Adels zu sein. Bodenständig und entrückt zugleich führt sie selbst ein bescheidenes Leben, sorgt sich aber um die Belange der weniger Privilegierten und verliert trotz aller Rückschläge und persönlichen sowie öffentlichen Schicksalsschlägen nie ihre bisweilen kindlich anmutende Freude an den kleinen Dingen des Lebens. Sehr liebevoll und mit warmen Worten zeichnet die Autorin ein illustres Porträt eines ungewöhnlichen Lebens. Bis in die Übersetzung hinein vermittelt sich der Schreibstil der Autorin, der genau solch kleine Wunder erzeugt, wie die Protagonistin in ihrem schillernden Leben: „Das Schicksal kann einen genauso schnell mit Glück wie mit Leid überfallen. Ich spürte mein Herz in der Brust glühen, und aus jedem Glückssamen, der je in mein Gehirn gepflanzt worden war, sprossen viele Hundert Triebe hervor und öffneten ihre Knospen, bis ich mich ganz in einen Blumengarten verwandelt fühlte.“ In diesen Worten verdichtet sich nicht nur inhaltlich treffend das Wesen unserer Hauptfigur, sondern diese poetische Sprache voller heller, freudiger Bilder ist auch ganz Ausdruck eben jenes Wesens, wie sie gesprochen und gedacht haben mag.
Ich habe das Buch sehr gerne gelesen und seine Hauptfigur ist mir dabei ans Herz gewachsen. Der einzige Nachteil, der aus der eingeschränkten Sichtweise der Erzählerin entsteht, ist, dass wie alles nur aus der Perspektive ihres subjektiven Erlebens wahrnehmen, was manchmal dazu führt, dass man sich entweder fragt, ob das wirklich gewesen sein kann oder was manches bedeuten mag: Wer ist der geheimnisvolle Fremde, den sie im Sanatorium kennengelernt hat, wer ist die Familie Cohen, die sie ihre Familie am Schluss des Buches nennt? Da muss man dann doch einmal ein wenig über die historische Figur nachlesen, um sich einen Reim darauf zu machen oder zu wissen: Ja, so ist es wirklich gewesen. Aber es ist ja nicht Aufgabe der Literatur, eine objektive Biografie zu scheiben. Sondern ihre Möglichkeit hier ist es, uns eine Frau näherzubringen, die zu ihrer eigenen Zeit häufig nicht für voll genommen oder verkannt wurde. Und das gelingt der Autorin bravourös.

Bewertung vom 25.09.2025
Beser, Daniila;Mackenrodt, Richard

Sonnenvögel


gut

Immer wieder aus dem Lesefluss genommen
Ich mag historische Romane, ich mag Bücher, die auf verschiedenen zeitlichen Ebenen spielen, deren Bezug sich im Laufe der Geschichte entwickelt. Eigentlich gute Voraussetzungen für den Roman „Sonnenvögel“, auf den beides zutrifft. Ich fand auch die Geschichte um den Flößer Franz Ende des 19. Jahrhunderts interessant, die Geschichte des Widerständlers gegen Hitler, Hennig von Tresckow eine geradezu ergreifende und die Geschichte der Ukrainerin Daniila angesichts des Ukraine-Kriegs aktuell und spannend. Am wenigsten noch konnte ich anfangen mit der Geschichte von Viktoria. Sie ist eine nach Kasachstan vertriebene Krimdeutsche. Sie heiratet einen vermeintlich charmanten Mann, der sich aber, gänzlich unvermutet und von daher nicht klar nachvollziehbar in einen prügelnden Sadisten verwandelt. Ohne zu viel verraten zu wollen, führt Victoria ihr weiterer Lebensweg nach Kenia, wo sie als Tierliebhaberin später Jagd auf Großwildjäger macht. Hier zeigt sich für mich schon das Problem, das ich mit dem Buch hatte: alles erscheint mir arg konstruiert. Auch die Erzählzusammenhänge zwischen den einzelnen Geschichten. Da ist die Erklärung von Daniila, sie sei mit Hennig von Tresckow vermutlich über einige Ecken verwandt, wie auch mit Hitler und Jesus und Ghandi und letztlich allen Menschen ein wenig überzeugende Erklärung. Auch finde ich den Vergleich, alle hätten sich widersetzt und dafür viel riskiert, nicht wirklich statthaft. In jeder Geschichte für sich mag das so sein, aber kann man einen Flößerstreik mit der Planung eines Attentats auf einen der greulichsten Diktatoren der Weltgeschichte vergleichen? Oder noch viel mehr das Abknallen von Großwildjägern aus dem Hinterhalt mit dem Widerstand gegen unmenschliche Befehle in einem unmenschlichen Regime? Der abrupte Wechsel zwischen den Geschichten, deren loser Zusammenhang sich erst in der zweiten Hälfte des Buches langsam andeutet, hat für mich den Lesefluss immer wieder unterbrochen, sodass ich mich arg mühen musste, das Buch zu lesen. Immer wenn ich dachte, jetzt wird es spannend, jetzt wird es interessant, sprang die Geschichte in einen Zweig, der mich weniger überzeugen konnte. Außerdem war der Erzählton in allen vier Erzählsträngen gleich, eine häufig eher schlichte bis naive Ausdrucksweise, wie sie vielleicht anfänglich zu einer jungen Victoria passte oder zu einer jugendlichen Daniila, auf lange Sicht aber zudem ein wenig ermüdend wirkte. Mich konnte das Buch leider nicht so ganz in seinen Bann ziehen, obwohl die einzelnen Geschichten für mich viel Potential bieten.

Bewertung vom 24.09.2025
Flitner, Bettina

Meine Mutter


ausgezeichnet

In einem Rutsch
Das Buch „Meine Mutter“ hat mich aus verschiedenen Gründen direkt angesprochen: Da ist der Titel: das Verhältnis von Müttern und Töchtern ist häufig spannungsgeladen, häufig deswegen, weil die Töchter es ihren Müttern immer Recht machen wollen, und doch nicht können. Dann ist da das Coverbild: ein Bild aus den 60er Jahren, eine Zeit, die mich sehr interessiert: Neuaufbruch, Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, Kritik an der Elterngeneration, eine nicht unproblematische Generation an Heranwachsenden. Und letztlich war es dann das Thema, das den Ausschlag gab: eine Reise auf den Spuren der Familie in die Vergangenheit, eine Fluchtgeschichte, ein Trauma, eine Tragödie.
Und meine Erwartungen wurden in keinster Weise enttäuscht: Ich fing an zu lesen und konnte das Buch nicht aus der Hand legen, bis ich es ausgelesen hatte. Da ist die packende, dramatische Familiengeschichte der Autorin, die unter keinem guten Stern steht, sondern vielmehr unter dem Doppelsuizid der Urgroßeltern. Woher kamen sie, diese Stimmungsschwankungen, die auch die Mutter und die Schwester der Autorin leiden ließen? Stehen sie unter dem Eindruck dieses ersten Suizids? Welche Rolle spielen die Erfahrung von Krieg, Gewalt, Grausamkeit, Verlust der Heimat, Entwurzelung, Entrechtung? Da sind die vielen besonderen Familienmitglieder, die die Autorin nicht schont, aber zugleich auf eine liebevoll humorige Art darstellt, sodass der Leser die Figuren wohlwollend betrachtet, bisweilen bestaunt, bisweilen Empathie oder gar Mitleid empfindet, aber nie urteilt oder gar verurteilt. Er begibt sich mit der Autorin auf die Suche. Und da ist der packende Schreibstil der Autorin. Vermeintlich leicht liest sich auch das oft so Schwere, die bedrückenden Erlebnisse sowohl in ihrem Leben als auch im Leben ihrer Vorfahren schildert sie in einer unpathetischen, aber zugleich berührenden Sprache. Dazwischen immer wieder humorige Anekdoten vom Vater, der dänische Liebesfilme lustig synchronisiert, von der schrulligen Großtante mit dem Sprung in der Schüssel und tief Ergreifendes wie der Tod des großen Bruders, der Suizid der Mutter. Der Leser lässt sich gerne ein auf diese persönliche Lebensgeschichte, die zugleich doch auch ein Stück deutscher Geschichte und Mentalitätsgeschichte ist. Es ist eine Geschichte, in der einmal nicht die Frage nach Schuld und Verantwortung im Mittelpunkt steht, sondern der Versuch zu erforschen, kennenlernen, sich annähern und verstehen, den der Leser gut und gerne mitgeht. Ein sehr persönliches Buch und zugleich ein Buch, das einlädt, einem Prozess beizuwohnen und einen Blick in ein Familienleben zu werfen, das schon auch ungewöhnlich ist, zugleich aber auch Sinnbild für den Weg, den viele Familien im letzten Jahrhundert gehen mussten, wenn vielleicht auch nicht immer mit der letzten Konsequenz.

Bewertung vom 12.09.2025
Kelly, Julia R.

Das Geschenk des Meeres (MP3-Download)


sehr gut

Rauh und zart
Schauplatz ist Schottlands Küste im Winter im Jahr 1900. Ein rauher Ort und zugleich von einzigartiger Schönheit. Das Leben dort in dem Dorf am Meer ist beschaulich, aber auch eng und genauso rauh wie die Natur. Das bekommt die Lehrerin Dorothy zu spüren, als sie einst an diesen Ort kam, um die Dorfschule zu führen. Eine unverheiratete Frau, interessant für die Männer in dem Dorf, misstrauisch beäugt von den weiblichen Konkurrentinnen, seien es Nebenbuhlerinnen oder eifersüchtige Schwestern. Und so gestaltet sich ihre zarte Beziehung zu dem Fischer Joseph als fast unmöglich. Als Dorothy einen anderen heiratet und ein Kind bekommt, könnte das ein wenig Frieden bedeuten, doch es kommt anders. Der Junge ertrinkt, der Mann ist schon vorher weg. Und dann wird viele Jahre wieder ein Junge an den Strand gespült, von Joseph gerettet und von Dorothy gepflegt. Ist das ein Ausgleich für den Verlust von einst? Ist Aussöhnung mit dem Schicksal möglich?
In einer überwiegend leisen, eindringlichen Sprache beschreibt die Autorin eindrucks- und stimmungsvoll das Leben in Skerry und sehr feinsinnig die Beziehungen zwischen den Figuren: zwischen Dorothy und den Dorfbewohnerinnen, Dorothy und Joseph, Dorothy und dem Jungen, der ist, wie ihr Junge. Das Leben ist hart, gerade in Winter in der Enge dieses Dorfes, sowohl physisch als auch psychisch. Aber zugleich ist es auch sehr geerdet, reduziert auf die einfachen Dinge, die das Leben ermöglichen und vielleicht ein wenig behaglicher machen. Das kümmern und sorgen, der Haushalt, das Stricken und die Wege durch die Natur. Wie überlebt man, wenn es das Schicksal so schlecht mit einem meint, wie mit Dorothy? Wie verliert man nicht die Hoffnung oder den Verstand? Das Buch zeigt das Leben von seiner grausamen Seite, von seiner harten, aber auch von den schönen Seiten, die nicht viel Materielles oder viel Abwechslung brauchen. Die Geschichte von Dorothy ist sehr berührend, auch wenn man immer wieder den Kopf schüttelt, wie schwer man sich das sowieso nicht leichte Leben noch selbst machen kann, mit Zögern und Zaudern, aufgrund fehlender Kommunikation und Offenheit, falscher Scham, aber auch der Arglist anderer.
Sehr einfühlsam wird es auch gelesen, mit der angenehmen Stimme von Astrid Kohrs, der man gerne und gut zuhören kann.

Bewertung vom 08.09.2025
Rivera Garza, Cristina

Lilianas unvergänglicher Sommer


gut

Ungesühnte Verbrechen
Die Autorin Cristina Rivera Garza begibt sich 29 Jahre später auf die Suche nach dem Mörder ihrer Schwester, deren damaligen Freund, der ungeschoren davon kam. Aus Ermangelung von Prozessakten rekonstruiert sie über Aufzeichnungen und Briefe ihrer Schwester sowie über Aussagen ihrer Freunde und Kommilitonen die Beziehung ihrer Schwester zu ihrem späteren Mörder und sucht nach Hinweisen, die die Tat im Vorfeld angedeutet hätten. Ihr Ziel ist Gerechtigkeit für ihre Schwester in einem Rechtssystem, das gerade im Hinblick auf Gewalt gegenüber Frauen den Tätern zu viele Schlupfwinkel lässt. Dieser Weg ist nicht nur aufgrund der langen Dauer, die das Verbrechen zurückliegt, und der fehlenden Akten ein schwieriges Unterfangen, sondern auch emotional und seelisch.
Mit ihrem Buch thematisiert die Autorin nicht nur das erschütternde Schicksal ihrer Schwester, sondern verleiht allen Opfern eines Femizids, eines Gewaltverbrechens aufgrund der Geschlechtszughörigkeit, eine Stimme. Sind Gewaltverbrechen in Beziehungen auch in Deutschland noch immer ein viel zu sehr totgeschwiegenes Thema, so gilt dies für Mexiko mit seinen machistischen und patriarchalen Strukturen umso mehr. Dort ist das Narrativ vom Opfer, das durch sein Verhalten, seine Kleidung oder was auch immer quasi selbst die Schuld am Verbrechen ihm gegenüber, noch wesentlich gängiger, die Zahl der durch Gewalt „aus Leidenschaft“ getöteten Frauen noch größer und die Strafverfolgung noch nachlässiger. Dies legt die Autorin auf der sachlichen Seite ihrer Darstellung sehr eindrucksvoll nahe.
Ebenso zeichnet sie ein vielstimmiges, beeindruckendes Zeugnis ihrer Schwester als junger Frau, die nicht nur im Hinblick auf ihren Freiheitsdrang und ihr Selbstverständnis als Frau, sondern auch in ihrer Persönlichkeit, ihrem Lebensfrohsinn und ihrer Liebenswürdigkeit exzeptionell erscheint. Auch in diesem Teil ist das Buch sehr beeindruckend.
Schwierig für mich wird die Lektüre in den sehr subjektiven Betrachtungen der Schwester, in ihren häufig metaphorisch umschriebenen Gefühlen sowie auch in den sehr persönlichen Briefen der Schwester, die oft ohne den Kontext nur schwer zu verstehen sind. Bisweilen sind mir die Zusammenhänge mit dem Leben der Familie, der Vater als Doktorand im Ausland, und der Schwester, ihr Feminismus und Kommunenleben, nur sehr locker assoziativ gefügt. Dann entsteht bei mir eine Art der Befremdung und der Lesefluss stockt.
Das allgemeine Thema hinter der subjektiven Geschichte ist aber durchaus bedeutsam, gehört zu werden.