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MarcoL
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Füssen

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Insgesamt 263 Bewertungen
Bewertung vom 05.10.2025
Güntner, Verena

Medulla


ausgezeichnet

My body, my choice – unterhaltsam in einem tollen Roman untergebracht

Berlin. Drei Paare. Drei Frauen, drei Männer. Sie kennen einander, verbringen manchmal etwas Zeit zusammen. Und sie sind einfach verschieden, so wie sich eben die Menschen unterscheiden. Doch eines verbindet die Paare – im Speziellen die Frauen. Sie sind schwanger. Und die Männer? Die glauben immer noch, über den Körper ihrer Partnerinnen bestimmen zu können.
Siv und Jan leben eine offene Beziehung. Besonders Siv scheint ein ausschweifendes Sexualleben zu haben, und berichtet Jan, 50, immer davon. Sie genießen beide die Freiheiten und Annehmlichkeiten, die das Leben zu bieten hat. Und Siv möchte das nicht aufgeben, auch wenn Jan es anders sieht und glaubt, ein Mitspracherecht zu haben und auch durchsetzen zu können
Leyla und David ereilt Ähnliches, auch wenn deren Leben anders strukturiert ist. Ihnen geht ein langer, unerfüllter Kinderwunsch voraus. Als es dann unverhofft dann doch noch passiert, ändert sich Leylas Einstellung dazu. Und auch hier sieht es David anders. Und dann sind noch Esther und Jacob. Esther unterscheidet sich in einem Punkt von Siv und Leyla, aber auch sie möchte das heranwachsende Kind in ihrem Leib nicht, während Jacob sich schon auf seine Vaterrolle vorbereitet.
Verena Güntner beschreibt ihre Protagonist*innen sehr genau, lässt sie aus den Zeilen springen als wären sie die Nachbarn, die man Tag wie Nacht um sich hat.
Die Sprache ist direkt, ohne Umschweife und Schnörkel kommt sie auf den Punkt.
Grundthema ist der scheinbar fix im patriarchalischen Denkmuster verankerte Ansatz, dass die Männer/Partner über den Körper ihrer Frauen/Partnerinnen entscheiden können. Was mit solchen Beziehungen passieren kann, wenn sich die Frauen dagegenstellen und ihre eigenen Entscheidungen fällen, erzählt dieser Roman sehr genau. Und es kann eine wahre Freude sein, dabei stiller Beobachter zu sein.
Das Buch ist ein wunderbarer Roman über das Thema 'My body, my choice' – über etwas, das in unserer Gesellschaft nach wie vor in großem Stil tabuisiert wird, und besonders die y-Chromosomenträger glauben, in gewissen Dingen den Frauen jegliches Recht absprechen zu können.
PS: Medulla ist laut Wikipedia der unterste Teil des Gehirns, der sich aus dem Embryonalstadium entwickelt, und den Übergang zum Rückenmark bildet. Und nun ja, in gewissen Situationen scheinen Männer tatsächlich nur rückenmarkgesteuerte Zombies zu sein.
Große Leseempfehlung für diesen glasklaren, fingerzeigenden und unterhaltenden Roman aus der Feder von Verena Güntner.

Bewertung vom 02.10.2025
Stevenson, Robert Louis

Reise mit einer Eselin durch die Cevennen


sehr gut

Reiseliteratur der besonderen und auch poetischen Art.

Den Autor kennen wir ja hauptsächlich von seinen berühmten Werken. Vor seinem schriftstellerischen Erfolg allerdings verfasste er unter anderem diesen Reisebericht.
1878 machte er sich auf, zu Fuß durch die Cevennen zu wandern. Bei einem Bauern kaufte er eine kleine Eselin, die ihn begleiten und sein Gepäck tragen soll. Er taufte sie Modestine. Anfangs, wie sollte es auch anders sein, bediente sich das Tier vom Klischee, welches ihm anhaftet, und versuchte, seinen eigenen Willen die Reisegeschwindigkeit betreffend, durchzusetzen. Irgendwann, und mit teilweise unschönen Maßnahmen erzwungen, die den Lesegenuss trüben, zeigte sich dann, dass die Klügere nachgibt und sich dem Willen ihres „Herren“ beugt.
Stevenson berichtet von seinen vielen Stationen und Begegnungen während seiner Reise. Vor allem Land und Leute stehen im Fokus, aber auch immer wieder finden sich Bezugspunkte, um in der Historie des Landstriches in die Vergangenheit zu blicken. Da gab es Aufstände und partielle Kriege. Und eines zieht sich durch den Roman wie ein roter Faden: die Diskrepanz zwischen Protestanten und Katholiken. Der Autor, als Schotte selbst der protestantischen Kirche zugehörig, sowie der ganze Landstrich mit wenigen Ausnahmen sich der gleichen religiösen Gesinnung unterworfen hat, kommt nicht umhin, die Differenzen öfter mal breit zu schlagen.
Neben all der Historie und Religion kommen aber auch andere Begegnungen und Naturbeschreibungen nicht zu kurz, sowie sein wahrer Faible für das Reisen und nächtigen unter freiem Himmel.
S.104: „Unter einem Dach ist die Nacht tot und eintönig, aber im Freien vergeht sie rasch mit Sternen, Tau und Duft, und die Veränderungen im Antlitz der Natur markieren die Stunden.“
Alles in allem habe ich das Buch trotz ein paar Abstriche gerne gelesen. Ist es doch immer wieder erstaunlich und interessant, welches „Mindset“ die Gemüter im Jahr 1878 beherrschte.
Somit gebe ich gerne eine Leseempfehlung für alle Interessierten.

Bewertung vom 30.09.2025
Derennes, Charles

Ungeheuer am Nordpol


ausgezeichnet

Köstliches Abenteuer ganz im Stile von Jules Verne

Dieses Buch hat mich köstlich unterhalten. 1907 im Original erschienen, darf der Roman nun die deutschsprachige Leserschaft begeistern. Ganz im Stile eines H.G. Wells oder des Großmeister der frühen SF – Jules Verne – bekommen wir den Reisebericht des wagemutigen Abenteurers Jean-Louis de Vénasque zu lesen. Als Kind wohlbehütet und eingesperrt drängt es ihn, kaum das Erwachsenenalter erreicht, in die große Welt hinaus.
S.27: „Sehen was menschliche Augen noch nie gesehen haben! Das wurde mir zur fixen Idee und in jeder Sekunde zur Qual.“
Mit einem stattlichen Erbe im Gepäck und von Langeweile geplagt, trifft er auf Jacques Ceintras, der seine glühende Begeisterung für die erwachende Avionik nicht verbergen kann. Schnell waren sie sich einig. Geld war vorhanden, und so planten sie, als erste Menschen der Welt den Nordpol mit einem Lenkballon zu erreichen.
Kurzum: es gelang. Die Wesen und deren kleine Welt rund um den Pol, auf die sie dabei stießen, traf sie völlig unvorbereitet. Man könnte das Volk im weitesten Sinne als Echsenmenschen bezeichnen. Abgeschirmt vom Eis der Arktis haben sich diese Wesen ihren eigenen kleinen Kosmos geschaffen, mit eigenen Regeln, und, man staune, einer eigenen Technik. In manchen Dingen schienen sie den Menschen voraus zu sein, in anderen Sachen wiederum weit hinterher zu hinken.
Als Leser dürfen wir diese fiktive Welt mit entdecken – mit allen Herausforderungen und Gefahren. Und mit all den vielen Gedanken und Emotionen der zwei Abenteurer. Gekonnt vermittelt der Autor die Eindrücke der beiden Reisenden, und lässt uns mit deren Sinne die Geschehnisse wahrnehmen. Er zeichnet auch ein kritisches Bild der Menschheit – denn was würde/könnte denn passieren, wenn der Rest der Menschheit von dieser Enklave erfahren würde (sehr fortschrittlich für die damalige Zeit, in der der Kolonialismus immer noch salonfähig war).
Die Übersetzung finde ich genial – spiegelt sie doch sehr den Sprachgebrauch der damaligen Zeit wider, ohne zu sehr darin zu verhaften, wie es zum Beispiel bei den Übersetzungen von Jules Verne war.
Fazit: ein wunderbarer Science-Fiction Roman aus dem Jahre 1907, und richtiggehend verschlungen. Ein informatives Nachwort des Übersetzers rundet dieses Buch perfekt ab.
Große Leseempfehlung für alle Freunde dieses Genres und die es noch werden möchten.

Bewertung vom 28.09.2025
Ebrahimi, Nava

Und Federn überall


ausgezeichnet

Sechs Schicksale, ein Ort. Wunderbar erzählt. Literatur vom Feinsten.

Sechs Menschen, sechs Charaktere, sechs Schicksal – und doch die ein oder andere Gemeinsamkeit. Zumindest der Ort im Emsland, in dem sie leben, dominiert von der großen Hühnerfabrik, verbindet sie unweigerlich miteinander.
Der Firmenchef ist bigott, erzkatholisch – macht auch keinen Hehl daraus, und schlachtet und verarbeitet dennoch jeden Tag abertausende Lebewesen.
Anna, eine Prozessoptimiererin, soll Wege finden, um die Leistungsfähigkeit der Anlagen zu steigern – um letztendlich Personal einzusparen, welches akribisch Sekunde für Sekunde die Hühnerbrüste abtastet und auf die „wooden breast“ kontrolliert. Verhärtungen, die das „Produkt“ unbrauchbar machen. Sonja ist eine dieser Arbeiterinnen, die von einer Beförderung in die Verwaltung träumt und sich auf ein Bewerbungsgespräch vorbereitet. Allenerziehend, mit einer pubertierenden Tochter, wird auch ihr Alltag immer öfter zu einer übermenschlichen Herausforderung.
Merkhausen sitzt in der Firma in der Führungsetage, muss Härte und Dominanz demonstrieren, und zeigt privat doch ganz andere Eigenschaften. Er hat obsessive Vorliebe für polnischsprachige – oder stämmige Frauen, erinnern sie ihn doch an seine Großmutter, an die er mit Wehmut zurückdenkt. Datingportale sollen ihm dabei helfen, und er findet Justyna, die selbst in ein besseres Leben flüchten möchte. Kurzerhand schlägt sie Merkhausen einen Deal vor.
Nassim, ein geflüchteter Afghane mit Aufenthaltsstatus, ist Dichter, und setzt auch darin seine Hoffnungen auf den gewährten Asylantrag. Er ist stark sehbehindert, und ein Unfall beschert ihm größere Aufmerksamkeit, als ihm lieb ist. Und ausgerechnet der Firmenchaf möchte ihn in einer presseinszenierten Darbietung finanziell etwas unterstützen. Achja – und er unterhält eine Beziehung mit seiner Nachbarin Justyna.
Und schließlich erzählt Roshi, eine deutsch-iranische Schriftstellerin, als einzige der handelnden Personen aus der Ich-Perspektive. Sie wird von Nassim gebeten, seine Gedichte ins Deutsche zu übersetzen – und reist nach anfänglichem Widerstand von Köln ins Emsland.
Und soviel sei noch verraten: der Showdown verspricht sehr interessant zu werden.
Nava Ebrahimi beschreibt ihre Figuren liebevoll, sehr authentisch und plastisch. Jede*r Protagonist*in ist mitten aus dem Leben gegriffen, könnte ein*e Bekannte*r sein, ein*e Nachbar*in; einfach lebensecht.
Sie packt viele Themen in diesen literarisch hochwertig verfassten Roman, spricht vieles von dem an, was in unserer Gesellschaft auf menschlicher Basis schief läuft. Sie lässt die Menschen leiden, hoffen und bangen – und gibt jeder und jedem sein ganz eigenes Setting. Und Federn überall – wir alle müssen „Federn lassen“, (nicht nur die Hühner), im täglichen Kampf, was nicht selten zu Verhärtungen führt.
Sehr gerne gelesen, und eine große Leseempfehlung für diesen Roman von Nava Ebrahimi, der es auf die Longlist zum Deutschen Buchpreis geschafft hat.

Bewertung vom 27.09.2025
Olkusz, Gesa

Die Sprache meines Bruders (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Still und leise mit einem enormen Tiefgang

Bei einer Nominierung für den Deutschen Buchpreis geht man mit einer gewissen Erwartungshaltung an die Lektüre. Meine Erfahrungen haben bisher gezeigt: entweder man verschlingt die Seiten, oder man empfindet es als unlesbar.
Nun, in diesem Fall entwickelt der Roman von der ersten Seite an einen Sog, dem man sich nicht verwehren kann, und schon gar nicht verwehren will. Und das trotz einer Art von Handlungsarmut und einer Trostlosigkeit, die für die Geschichte Programm zu sein scheint. Diese Stimmungen mit wenigen, aber dafür sehr gewählten Worten auszudrücken, ist ganz große Erzählkunst. Die Grundthemen wie Heimat, Selbstfindung oder der eigene Platz im Leben und der Welt, Wünsche und Sehnsüchte sind bereits in so mannigfaltiger Weise in der Welt der Literatur verankert, dass man meinen könnte, dieses Thema sei ausgewrungen wie ein nasser Lappen. Weit gefehlt, denn die Herangehensweise der Autorin finde ich tatsächlich einzigartig und grandios.
Kasimir und Parker „vegetieren“ gemeinsam in einem Haus in Seattle dahin. Die Brüder kommunizieren nach dem Tod ihrer Mutter kaum miteinander, und scheinen auch keine großen Ansprüche an das Leben zu stellen. Damals waren sie mit ihrer Mutter aus Polen in die USA gezogen. Fragen nach dem Verbleib des Vaters blieben unbeantwortet – er komme später mal nach, so die lapidare Antwort der Mutter.
„Kasimir konnte nur denken, nicht sprechen, deshalb hatte er keine Chance gegen seinen Bruder.“
Parker verdient sich das wenige Geld, das für den Unterhalt der beiden nicht reicht, als Fahrer. Kasimir träumt vom Verkauf des Hauses, das nach und nach verfällt und dahin bröckelt wie die Lebenslust der beiden, und davon, was er mit dem Geld alles anstellen könnte. Aber er verlässt das Haus nicht, bleibt ein Gefangener seiner Sozialphobie, deren Ursache in seinen jungen Jahren mit der Mutter, die sich selbst einsperrte, zu suchen ist.
Mitten hinein in dieses Duo platzt Luzia, die Freundin von Parker und wohnt bei den beiden für ein Jahr, um dann einfach ohne ein Wort zu sagen nach Panama zu verschwinden.
Parker macht zur selben Zeit eine ausgedehnte Fahrt über einige Tage mit einem Kunden, bleibt danach lange vom Haus fern. Zurück bleibt wieder einmal mehr Kasimir, der einen Ausbruch in ein Abenteuer wagt. Doch es entwickelt sich anders als vielleicht vermutet …
Die Sprache der Autorin spielt viel mit den Begriffen von „Verlust“. Damit meint sie nicht nur den geographischen Raum, sondern auch die Sprache, den Lebensmut oder ganz einfach ausgedrückt: Verlust von Perspektiven, die das Leben bieten kann.
Die Protagonist*innen sind äußerst feinfühlig gezeichnet, präsentieren sich den Leser*innen wie Figuren aus Glas: durchsichtig und zerbrechlich. Man weiß selbst immer ein wenig mehr als die handelnden Personen. Oft ist man versucht die Handlung aufzuhalten und hinein zu schreien – und so spielt Gesa Olkusz sehr geschickt mit unseren Emotionen, drückt unseren Brustkorb zusammen und impliziert uns mit den programmierten Ausweglosigkeiten der Situation.
Still und leise kommen die Zeilen daher, eigentlich total unspektakulär und mit einem Nachhall eines Donners in den Bergen.
Ganz große Leseempfehlung für dieses literarische Kleinod.

Bewertung vom 23.09.2025
Bruno, Weinhals

Die Nacherzählung


ausgezeichnet

Intensive und ergreifende Schilderungen der unmittelbaren Nachkriegszeit

Jahre nach ihrer Odyssee im Jahr 1945, kurz nach dem Krieg, erzählt die Mutter des Autors ihm von ihren Erlebnissen. Es wird mehr als eine pure Nacherzählung – und weit mehr als ein Erlebnisbericht.
Ihre Eltern und Brüder hat der Krieg gefressen, sie wollte aus Nordbayern zu ihrer Schwester nach Wien reisen. Wenn nötig zu Fuß, – was auch die meiste Zeit den Tatsachen entsprach, und wenn es gar nicht mehr anders ging auch ohne Schuhe. Die Not im Land war groß, dennoch gab es immer wieder hilfsbereite Menschen, die ihr ein Notlager für die Nacht zur Verfügung stellten. Oftmals war sie allein, manchmal in einer kleinen Gruppe unterwegs. Der Drang, die Hoffnung trieb sie vorwärts.
In die bitteren Reiseerlebnisse fließen vom Autor viele Geschichten über die Herkunft und ehemalige Familie seiner Mutter mit ein. Seine leibliche Großmutter mütterlicherseits starb früh. Sein Großvater, von der harten Arbeit im Bergwerk ausgelaugt, krank und von dessen zweiten Frau aus egoistischen Gründen verlassen, musste ohne Fürsorge im Krankenbett verhungern. Es waren brutale, harte Zeiten – nicht nur an der Front.
Ungeschönt und ungeschminkt kommen die Berichte daher, wie etwas, das offensichtlich und unausweichlich war, die Menschen dennoch quälte und verbitterte. Auch die sogenannte „Entnazifizierung“, die, wie wir alle wissen, eh nicht stattfand und nichts anderes als eine Schmierenkomödie war, spiegelt sich in den Erfahrungen der Frau wider.
Besatzungen und gut geschützte Grenzen taten das ihrige, um alles nur noch schlimmer zu machen und den Weg oftmals in einer Sackgasse enden zu lassen.
Es ist ein kleines Büchlein, das man schnell gelesen hat. Aber es ist derart intensiv, dass man die Eindrücke der armen Frau nicht mehr vergessen kann. Mit diesem Werk hat der Autor (1954-2006) ein kleines Stück Zeitgeschichte verfasst – und blickt auf eine Gruppe von Menschen, die in der Literatur wenig Beachtung gefunden haben.
Und gerade in diesen Zeiten der Migration und Not der Flüchtlinge besitzt das Büchlein eine Aktualität, die niemand verleugnen soll. Ganz große Leseempfehlung.

Nachworte der Herausgeber Brigitte Dalinger und Helut Neundlinger runden das Werk perfekt ab.

Bewertung vom 21.09.2025
Sassi, Islème

Von jenen, die jagen (eBook, ePUB)


sehr gut

Knappe und prägnante Story über einen Cold Case. Gerne gelesen.

Ein abgelegenes Haus an einem See – eigener Zugang mit Steg versteht sich, herrliche Ruhe, das Dorf klein, gerade mal ein Greislerladen und eine Kneipe, die Menschen nett, von Touristen keine Spur. Ein Paradies, in dem sich Isabel für einige Wochen niederlässt. Schnell nimmt sie Kontakt zu den Dorfbewohnern auf, wird in deren Reihen aufgenommen. Bald kann sie im kleinen Laden anschreiben, wenn sie mal ihr Geld vergessen hat, die Wirtin der kleinen Gaststube spendiert ihr sehr bald bereitwillig den ein oder anderen Schnaps, und die Beziehung mit Léanne, der Tochter ihres Vermieters, fließt äußerst schnell über den Rand einer Freundschaft zu weit mehr.
Die Frage, warum Isabel sich dort scheinbar eine Auszeit nimmt, drängt sich immer mehr nach vorne. Beziehungsprobleme, etwas Abstand – das sind willkommene Antworten.
Auf der anderen Seite passieren komische Dinge rund um das gemietete Haus. Es hat eine dunkle Vergangenheit, und scheinbar will jemand Isabel vertreiben oder Hinweise geben. Léannes Mutter starb auf mysteriöse Weise, kurz darauf verschwand ihr Bruder Leander spurlos. Vater Toni schloss das Kurhaus, und keine zahlungskräftigen Touristen strömten mehr ins Dorf. Nach und nach erschließt sich uns der Kreis, in dem alle irgendwie gefangen zu sein scheinen, Wahrheiten durchstoßen den Nebel der Gerüchte.
Wie sich das ganze Knäuel dann auflöst, und welche Rolle Isabel darin spielt verrate ich natürlich nicht – als bitte selber lesen.
Die Grundidee des Romans ist wirklich toll, ein wunderbares Setting und ein durchaus spannender Aufbau. Was mir nicht zu hundert Prozent gefallen hat sind der relativ einfache Schreibstil und für mein Verständnis eine etwas zu naive oder plumpe Herangehensweise an das Kernthema oder auch bei den zwischenmenschlichen Aspekten. Aber nichtsdestotrotz ist der Roman ein herrlicher Ausflug und wunderbarer Zeitvertreib, wenn man sich mal für ein paar Stunden in eine Lektüre verlieren will. Man wird dabei gut unterhalten mit diesem Mix aus Gesellschaft, Krimi, ColdCase.

Bewertung vom 19.09.2025
Solà, Irene

Ich gab dir Augen, und du blicktest in die Finsternis


sehr gut

Reich an Bildern, manchmal wirr und sehr komplex. Katalanische Märchenwelt

Irene Solà (Singe ich, tanzen die Berge) nimmt uns mit diesem Roman auf eine wirre und wilde Reise durch die Welt der katalanischen Sagen, Märchen und Mythologie. Wer sich damit nicht auskennt, der dürfte, so wie ich, mit der Lektüre überfordert sein. Und dennoch haben die Worte und Zeilen durchaus ihren besonderen Reiz, vor allem das Rundherum um die reale Welt, die sich am Totenbett von Bernadeta abspielt. Obwohl, auch hier tauchen die Geister der Vergangenheit auf, längst verstorbene Ahninnen der greisen Frau. Ihre Lebensgeschichten entpuppen sich zu einem Hexenreigen, der die Grenzen zu Realität und Fiktion, gelebtem Leben und die pralle Welt der Märchen auf innige Weise im Tanz verstricken.
Auf der einen Seite macht es Spaß, wenn die Toten am Sterbebett lungern, ihre Geschichten preis geben, anprangern und huldigen, geduldig wartend, die Sterbende im Reich der Toten aufzunehmen.
Der Roman ist aufgeteilt in die Abschnitte des Tages – Morgen, Vormittag, Mittag, Nachmittag, Abend, Nacht – bis schließlich zum Unausweichlichen, wenn sich die Frauen um das Bett von Bernadeta die Hände reichen. Trotzdem verspielt sich der Inhalt über Jahrhunderte, ist reich an Mythologie, und voll mit Lebensberichten der Frauen. Es fällt mitunter schwer, der Handlung zu folgen, manchmal nicht zu wissen, wann und wo man sich gerade befindet, ob in der Gegenwart, oder gerade im Bürgerkrieg, der auch nicht zu kurz kommt.
Genauso wild ist die Sprachführung – meist ein atemloser Ritt, selten direkt, oftmals verspielt und verträumt voller Poesie – man könnte manchmal meinen, es ist nur ein Sammelsurium von schön gewählten Worten, wahllos aneinander gereiht, die auf den zweiten Blick durchaus Sinn ergeben.
Wie gesagt, ich fühlte mich überfordert, ziehe dennoch meinen (imaginären) Hut vor dieser literarischen Herausforderung und Leistung der Autorin.
Mit einer Leseempfehlung tue ich mich schwer, dazu ist das Werk zu komplex.

Bewertung vom 18.09.2025
Trabucco Zerán, Alia

Mein Name ist Estela


ausgezeichnet

Eine intensive und bewegende Geschichte aus Chile

Gleich zu Beginn wissen wir folgendes: ein siebenjähriges Mädchen ist gestorben, die Hintergründe erfahren wir im Laufe des Romans. Und: die Ich-Erzählerin wird verdächtig, sitzt irgendwo eingesperrt und erzählt laut ihre Geschichte, in der Vermutung, dass sich hinter ihrem Gefängnis Empfänger*innen für ihre Worte befinden.
Estela zieht von zu Hause weg in die große Stadt, und nimmt einen Job als Haushaltshilfe an. Ihre Arbeitgeber gehören der gehobenen Schicht an, und führen einen dementsprechenden Umgang mit ihr. Was Estela beim knapp geführten Einstellungsgespräch nicht wusste war der der Umstand, dass sie sehr bald neben Haushaltshilfe auch noch Kindermädchen für die Tochter des Hauses sein wird.
Estela , zwar ohne Erfahrung in solchen Dingen, nimmt es stoisch an, lernt und gibt ihr Bestes. Sie arbeitet und tut, was von ihr verlangt wird, wird zu einer Art gefühllosem Zombie.
Die Herrschaften behandeln sie meistens korrekt, die Distanz zwischen ihnen bleibt dennoch eine undurchbrechbare Mauer. Die Erziehung des heranwachsenden Mädchens muss meistens Estela übernehmen, es entwickelt sich im Laufe der Jahre eine poröse Beziehung innerhalb der vier Personen, eingepfercht in Familie und Pflichtbewusstsein.
Estela spart ihr Geld, möchte eines Tages das Haus ihrer Mutter, in welches sie irgendwann zu ziehen gedenkt, renovieren. Doch die Verwandtschaft sieht das anders, angelockt von Estelas Ersparnissen werden Gründe gefunden, diese anzuzapfen. So wird sie auf zwei Seiten ausgeblutet, wird zur Marionette zwischen ihren reichen Arbeitgebern und der Armut im Rest des Landes.
Die Sprache ist sehr bildhaft, poetisch und von einer eindringlichen Wucht beseelt. Man fühlt mit der Erzählerin mit, leidet, und neigt dazu, den Senor, die Senora und vor allem das kleine Mädchen, das sich manchmal zu einer gemeinen Göre entwickelt, zu verdammen. Und dennoch scheinen alle handelnden Personen in diesem sehr außergewöhnlichen Roman auf ihre eigene Art zu leiden.
Die Ehe scheint trist und emotionslos, die kleine Julia nur die Frucht der Verpflichtung um Nachwuchs in einem gehobenen Haus. Die gesamte Stimmung im Roman bleibt trist und grau, ohne erhellende Szenen. Ein latentes Laken verdeckt den Blick auf die Sterne, die eine bessere Zukunft verheißen könnten.
Die Unterschicht arbeitet sich auf ohne nennenswerte Verdienste, und bleibt das, was sie ist, nämlich arm. Und im Zweifelsfall nie das Opfer.
Wer letztendlich die Schuld am Tod des Kindes trägt – bitte selber lesen in diesem kleinen Gesellschaftsepos aus Chile.
Sehr gerne gelesen bleibt die Erinnerung an die Zeilen sicherlich lange präsent.
Leseempfehlung.

Bewertung vom 15.09.2025
Fischer Schulthess, Andrea

Noch fünf Tage


ausgezeichnet

Feinfühlig und sehr spannend.

Amanda mag ihr Leben nicht. Und ihre Familie, ihre Herkunft verknüpft sie nur mit sehr wenigen angenehmen Momenten. Großmutter und Mutter schieden freiwillig aus ihrer Welt. Auch ihre Gedanken an ihren einziger Lichtblick im Leben – ihr Sohn Benjamin, der nun 18 Jahre alt ist, das Abi geschafft hat – vermag sie nicht mehr davon abhalten, in fünf Tagen Suizid zu begehen. Lange und ausführlich hat sie überlegt, sich in entsprechenden Foren umgesehen, und die für sie passende Methode gewählt.
Die Teile des Buches zählen hinunter – noch vier Tage – dann irgendwann nur mehr ein Tag bis zum entscheidenden Tag. Und dazwischen tritt das Leben mit voller Wucht auf sie ein. Die Vergangenheit ihrer Familie prallt auf ihre Todessehnsucht, beginnt an den Mauern zu rütteln, reißt Löcher in ihre Fassade und ermöglicht ihr neue Blicke. Als letztendlich ihr bettlägriger Großvater Alois noch für ein paar Tage in ihrem (wirklich tollen) Haus aufgenommen werden muss, bleibt kaum ein Stein auf dem anderen; bis auf den Wunsch, mit dem alles nichts mehr zu tun haben zu wollen. Aber die Watte, die all ihre Gefühle gedämpft und verschluckt hat, wird durchlässiger ...
Der Inhalt ist komplex – und jedes Detail wäre jetzt ein Spoiler, der das Lesevergnügen trüben würde. Nur so viel: Alois entpuppt sich als Ekelpaket allererster Güte, ein wahrer Psychopath. Ihr Partner Jan, liebevoll, aber immer auf Dienstreise, tja … man bekommt im Laufe des Buches so seine Vorahnungen.
Der Schreibstil ist direkt, beinahe unspektakulär, treibt aber die Geschichte wunderbar voran. Amanda fällt dabei nie in die zu bemitleidende Opferrolle, auch wenn sie im Prinzip das Opfer ist. Die chaotische Welt zwischen völliger Aufgabe, Alkohol und Zigaretten sind ihre Dämonen, die sie bereitwillig füttert und dennoch immer wieder versucht, auf Distanz zu halten, denn die Vergangenheit hat auch noch ein Wörtchen mitzureden.
Der Autorin gelingt das sehr gut zu beschreiben, und baut dabei einen pageturnermäßigen Spannungsbogen auf, der einen durch die Seiten fliegen lässt.
Sehr gerne gelesen, man kann den Roman durchaus als Psychothriller bezeichnen, auch wenn er sich erst auf den letzten Metern als solches wirklich entfaltet. Ganz große Erzählkunst und somit eine absolute Leseempfehlung.