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nessabo

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Insgesamt 200 Bewertungen
Bewertung vom 17.10.2025
Engler, Leon

Botanik des Wahnsinns (MP3-Download)


sehr gut

Stilistisch und sprachlich nicht ganz meins, inhaltlich aber ergreifend

Der Roman hat in meinem Umfeld wirklich viel Begeisterung erfahren, außerdem ist das Cover ein optischer Traum und so war ich sehr neugierig auf das Debüt Leon Englers. Und ich bleibe so fasziniert wie unschlüssig zurück.

Johannes Nussbaum hat das Hörbuch wirklich fantastisch umgesetzt. Ich kannte den Autor bislang gar nicht und hatte doch beim Hören das Gefühl, er liest die Geschichte selbst vor. Ein Perfect Match von Sprecher und meiner Vorstellung der Autorenstimme! Da doch einige Fachbegriffe und spezifische Autor*innen sowie deren Werke referenziert werden, war das Hörverständnis manchmal erschwert. Gleichzeitig bin ich mir sicher, dass ich beim Lesen aus anderen Gründen mehr Schwierigkeiten gehabt hätte, sodass für mich das Hörbuch die richtige Wahl war.

Denn stilistisch und literarisch hat mir „Botanik des Wahnsinns“ weniger gut gefallen. Ich kann objektiv nachvollziehen, warum es dahingehend begeistert, aber ich habe immer meine Schwierigkeiten mit einer eher distanzierten, abgehackten Erzählweise. Die vielen Referenzen zu Philosoph*innen waren mir zu trocken, die geschichtlichen Hintergründe im Bereich Psychiatrie fand ich wiederum äußerst lehrreich.

Rein literarisch wäre es für mich eher ein 3-Sterne-Buch. Doch Leon Engler schreibt, wenn auch distanziert, so greifbar und menschlich über psychische Erkrankungen, dass es mich wirklich ergriffen hat. Der Autor kritisiert subtil, aber doch deutlich das aktuelle Psychiatrie-System, ohne dabei den darin tätigen Menschen die Schuld daran zu geben. Er wirft Fragen zu einer gesellschaftlich markierten Normalität und zu Heilung auf, die mich regelrecht aus der Fassung gebracht haben.

„Es gibt keine Erlösung, keine Vergebung, nur die Akzeptanz dessen, was ist“

Und während mir die vielen zeitlichen Sprünge und der wechselnde Fokus auf verschiedene Familienmitglieder zu wild waren, blitzt doch immer wieder durch, mit wie viel Respekt Engler diese Personen ansieht. Das zeigt sich auch in seinen Gesprächen mit Patient*innen und ich wünsche mir mehr Therapeut*innen wie ihn. Das Buch erscheint mir, nach Lektüre seiner Biografie, mindestens autofiktional. An sich ist das auch egal, aber es lässt mich wirklich den Hut ziehen vor diesem Autor. Diese Sezierung vererbter Traumata und Erkrankungen ist mutig, anders kann ich es nicht sagen. Und dass Engler dabei so verständnisvoll bleibt, obwohl auch Wut über die eigene Situation angemessen gewesen wäre, beeindruckt mich sehr.

Ein Buch, das mich zwar literarisch nicht so sehr abgeholt, dafür aber emotional trotzdem nachhaltig bewegt hat. Es wirft Fragen auf, die nachhallen und die bestenfalls eine öffentliche Debatte über Psychiatrie und den Umgang mit Erkrankten anstoßen.

Bewertung vom 17.10.2025
Bähr, Julia

Hustle


ausgezeichnet

Genial, unterhaltsam, kritisch

Wow, was habe ich „Hustle“ gern gelesen! Und nicht nur hat mir die Lektüre großen Spaß gemacht, sondern die Autorin ist mir auch noch so sympathisch, dass ich sie nun auf jeden Fall im Blick behalte.

„Hustle“ ist der erste Roman der Autorin, der nicht dem Romance-Genre zuzuordnen ist. Stattdessen geht es hier ganz zentral um solidarische, platonische Beziehungen, die einfach eine echte Seelenwärmerin sind.

Leonie zieht nach München, nachdem sie sich von ihrem ehemaligen Chef mit einer kleinen, aber sehr feinen Racheaktion verabschiedet hat (pssst: Kresse spielt dabei die charmante Hauptrolle). Dort angekommen wird sie mit der Realität des deutschen, innerstädtischen Wohnungsmarktes konfrontiert. Im Falle Münchens natürlich in einem ganz besonders verheerenden Ausmaß. Das völlig unmenschliche Niveau der Lebenshaltungskosten spielt im Roman immer wieder eine Rolle und wird auch klar als Systemproblem benannt.

Um in ihrer immer noch unwürdigen Mini-Wohnung halbwegs über die Runden zu kommen, verwandelt sie ihr kreatives Talent für Racheaktionen in einen Side-Hustle um, der in starkem Kontrast steht zu ihrem Hauptjob bei der Zoologischen Staatssammlung. Dort bestimmt sie eine schier unendliche Zahl an Insekten-Exponaten. Der Job ist trostlos-speziell, sorgt aber dennoch für einige wichtige Begegnungen.

Um Liebesbeziehungen und Lebensentscheidungen, die das Patriarchat gerade von Frauen fordert, geht es maximal am Rand. Im Zentrum der Handlung steht ein Vierergespann sehr diverser Frauen - alle durch ein mehr oder weniger kriminelles Side-Hustle geeint. Von drei Frauen wird relativ schnell klar, um was es genau geht. Um die vierte ranken sich schwerwiegende Gerüchte, die erst zum Schluss auf äußerst gelungene Art aufgelöst werden.

Die Freund*innenschaften im Buch sind absolut wholesome! Kein Konkurrenzdenken, stattdessen solidarische Kritik und Unterstützung - eben genau, wie viele reale Freundinnenschaften eben sind, auch wenn männlich dominierte Literatur uns gerne das Gegenteil einreden will.

Ich habe eine unglaublich gute Zeit gehabt beim Lesen. Die Kapitel sind kurz, die Figuren interessant und die Gesellschaftskritik deutlich, was dem Unterhaltungswert der Geschichte jedoch nicht abträglich ist. Emotionalität spielt bei den Figuren eine eher untergeordnete Rolle, die Geschichte ist schon primär handlungsgetrieben. Aber ich fand es exakt passend und mochte die unterhaltsam ironische Erzählweise total. Und wenn ich euch sage, dass ihr unter Garantie spätestens nach der Lektüre in ein Rabbit Hole zum Thema Schleimpilz fallen werdet, könnt ihr doch unmöglich Nein sagen zu diesem Roman, oder?!

Bewertung vom 17.10.2025
Handorf, Anne

Es könnte so einfach sein


weniger gut

Nette Idee, zu seichte Umsetzung

Grundsätzlich fand ich die Ausgangssituation und das Versprechen, aus weiblicher Sicht Einblicke in den Literaturbetrieb zu bekommen, reizvoll. Doch schon nach einem Drittel des Buches habe ich gemerkt, wie ich mich fast zur Aufmerksamkeit zwingen musste, weil mir der Inhalt zunehmend belanglos vorkam.

Die Erzählung auf zwei Zeitebenen mochte ich grundlegend, hätte mir zur präziseren Einordnung beim Lesen aber einen visuellen Hinweis gewünscht, etwa eine kleine Abtrennung. Die Kapitel beginnen in der Vergangenheit und gehen dann recht nahtlos auf einmal in die Gegenwart über. Die bloße Trennung über Absätze geht mir da nicht weit genug und ich war wiederholt irritiert.

Die Einblicke in das Leben einer Schriftstellerin sowie den sexistischen Literaturbetrieb erscheinen mir zwar authentisch, aber auch etwas oberflächlich abgehandelt. Gern hätte ich Vera emotional tiefer kennengelernt, doch sie blieb mir eigentlich durch die Bank weg wenig greifbar. Das ein oder andere Thema, das mit etwas Willen als feministisch eingeordnet werden könnte, wurde zwar noch angeschnitten. Doch auch hier fehlte mir eine tiefgehende Systemkritik.

Und dann gibt es noch die Absätze, in denen Vera ihr Buch schreibt und wir parallel sozusagen in ihrem Roman lesen. So interessant das vielleicht hätte sein können, fand ich es doch einfach nur irritierend und ehrlicherweise recht uninteressant. Es sind zwar insgesamt gesehen umfängliche Passagen aus der Geschichte in die Haupthandlung eingebettet, aber logischerweise nicht einmal ansatzweise so umfänglich wie in einem echten Buch. Und das lässt diese Nebenerzählung für mich ziemlich irrelevant wirken.

Zum Ende hin fiel mir die Lektüre leider zunehmend schwer. Das liegt nicht so sehr am Erzählstil, denn grundsätzlich wurde hier auf eine zugängliche Sprache gesetzt. Aber es blieb für meinen Geschmack zu oberflächlich, zu sehr seichte Unterhaltung. Da ist das Buch meinem Anspruch nicht gerecht geworden. Ich könnte mir aber auch vorstellen, dass ich nicht ganz die passende Zielgruppe bin, da ich mich alterstechnisch der Protagonistin oft fern gefühlt habe. Immerhin liegen auch 2 Generationen zwischen uns.

2,5 ⭐️

Bewertung vom 16.10.2025
Schoeters, Gaea

Das Geschenk


ausgezeichnet

Unglaublich effizient geschriebene Gesellschaftssatire

An den Anfang meiner Rezension stellen möchte ich meine absolute Genervtheit angesichts des Covers. KI-generierte Cover sind meiner Meinung nach ein Albtraum für die Literaturlandschaft, künstliche Intelligenz hat in diesem Feld mal so gar nichts verloren - auch nicht bei der künstlerischen Gestaltung eines Buches. Das k*tzt mich also sowieso schon an, in Kontrast zum gesellschaftskritischen Ton des Textes ist die Wahl des deutschen Verlags aber noch einmal besonders absurd. Einen halben Stern ziehe ich dafür ab.

Nun aber zum Buch: Es war mein erstes von Gaea Schoeters und sicher nicht das letzte! Die Autorin hat mich enorm begeistert mit ihrer präzisen Sprache, die doch gleichzeitig so viel Raum für Doppeldeutigkeiten lässt.

Ich möchte eigentlich gar nicht so viel zum Inhalt sagen, denn mit seinen 140 Seiten ist das Werk meines Erachtens eines, bei dem mensch nicht wirklich etwas falsch machen kann. Wir befinden uns stets an der Seite von Bundeskanzler Winkler und damit mitten in einem Machtzentrum. Entsprechende Dynamiken sowie Diplomatie finde ich sehr authentisch und zugleich unkompliziert herausgearbeitet. Ich hing einfach an Schoeters Worten, anders kann ich es nicht sagen.

Die Doppeldeutigkeiten nehmen auch kein Ende. Klar, es geht hier um 20.000 Elefanten, mit denen Deutschland nun zu leben lernen muss. Ich sehe hier sehr viel Spielraum für eigene Interpretationen und sicher ist das von der Autorin auch so gewollt. Ich habe z. B. einige Parallelen zum Umgang mit Geflüchteten gesehen. Das Ganze lässt sich aber problemlos auch übertragen auf einen allgemeinen Umgang sogenannter westlicher Staaten mit globalen Krisen: immer schön wegreden und symptomatisch bekämpfen. Welche Tragweite eine kleine Entscheidung heute in der Zukunft haben kann, wird hier mehr als deutlich.

Ich bin begeistert von Schoeters intelligentem Schreiben, ihrem Gespür für Komplexität und der gleichzeitigen Gabe, diese Dinge verständlich zu formulieren. Die Antagonistin unseres Protagonisten ist eine wirklich toll geschriebene Person, die mich beeindruckt und ermutigt hat.

„Das Geschenk“ ist inhaltlich kein Buch, das ich als leicht bezeichnen würde. Es ist ein Paukenschlag, der jedoch mit einem guten Maß an Humor und einer enormen Sogkraft daherkommt. Der Roman lässt sich zwar super leicht weglesen, hallt aber definitiv nach und zwingt uns dazu, uns mit unserer globalen Verantwortung auseinanderzusetzen. Eine Satire, die alles andere als platt ist und deren Lektüre ich allen dringend ans Herz lege.

4,5 ⭐️

Bewertung vom 01.10.2025
Hart, Emilia

Unbeugsam wie die See (MP3-Download)


sehr gut

Ein würdiger Nachfolger des Debüts

Zum Hörbuch: Dass hier wirklich auch drei verschiedene Sprecherinnen engagiert wurden, finde ich toll! Die Stimmen hätten gern noch etwas verschiedener sein können, damit sie besser auseinandergehalten werden können. Und trotz der wechselnden Sprecherinnen hätte ich mir am Kapitelanfang die Nennung der erzählenden Figur gewünscht (wie es im Buch ja auch umgesetzt ist). Denn ich brauchte so immer eine Weile, um zu verstehen, wem ich da gerade folge. Ansonsten ist die Geschichte aber sehr lebhaft und stimmungsvoll eingesprochen worden.

Zum Buch selbst: Ich mochte das Debüt von Emilia Hart unglaublich gerne. Magischer Realismus, Hexen und weibliche Wut sind Elemente, die ich sehr zu schätzen weiß. In ihrem neuen Roman greift die Autorin auf vieles davon zurück und schafft es, einen würdigen Nachfolger zu schreiben, der aber doch nicht ganz mit der Stärke ihres Erstlings mithalten kann.

Was ich bei Hart wirklich sehr mag, ist ihre spannungsvolle und leicht lesbare Art zu schreiben. Mit den schon aus „Die Unbändigen“ bekannten mehreren Zeitebenen und Erzählperspektiven, die im weiteren Verlauf ineinanderfließen, gelingt ihr auch dieses Mal ein packendes und vor allem vielschichtiges Werk. Die Protagonistinnen der Vergangenheit und Gegenwart sind stets authentisch geschrieben.

Das neue Buch hat einen etwas anderen Fokus, der mir persönlich einfach weniger gut gefällt. In meiner Erinnerung ist das Debüt getrieben von den verschiedenen und doch geteilten Gewalterfahrungen der Frauen sowie deren Widerstand. Diese Elemente prägen die Handlung dieses Mal deutlich weniger. Patriarchale Gewalt ist auf jeden Fall auch hier Thema, aber die Auseinandersetzung mit der Familiengeschichte sowie der eigenen Andersartigkeit steht deutlich mehr im Zentrum. Dadurch ist der Aufbau etwas länger, auch wenn ich ihn keinesfalls als zäh bezeichnen würde.

Im Mittelteil gelingt es Hart dann wirklich hervorragend, ihre Lesenden in die Handlung einzusaugen. Lucys Recherche, begleitet von Jess’ Tagebuch, ist präzise und total spannend geschrieben. Manche Twists der Geschichte konnte ich erahnen, bei anderen ist mir buchstäblich die Kinnlade heruntergeklappt. Hart hat wirklich ein Händchen für Details!

Was mich weniger überzeugt hat, war die gewählte Ausgestaltung des magischen Realismus. Hier bekommt eher etwas Monsterhaftes Raum, während es im Debüt mehr um die Verbindung zu unserer pflanzlichen und tierischen Mitwelt ging. Der englische Originaltitel („The Sirens“) gibt einen deutlicheren Hinweis auf den Inhalt als der deutsche. Wer sich für diese mythische Figur interessiert, wird begeistert sein. Meins ist es nicht zu 100 % und doch fand ich die Geschichte bildhaft und packend geschrieben.

Emilia Hart ist eine sympathische Autorin, die sehr talentiert darin ist, vielschichtige und fantasievolle Geschichten mit viel Liebe zum Detail zu schreiben. Dabei bezieht sie auch immer klar Stellung zu feministischen und antikolonialen Kämpfen, besonders letztere sind in ihrem aktuellen Buch von Bedeutung. Hier fließen nämlich die Kolonisierungsgeschichten Irlands und Australiens zusammen. Für ihre Sensibilität, die sich schon im Vorwort des Romans zeigt, schätze ich die Autorin wirklich sehr.

„Unbeugsam wie die See“ ist mystischer und dunkler als sein Vorgänger, doch nicht weniger emotional greifbar. Ich persönlich fand das Debüt stärker und würde es auch für den Einstieg empfehlen. Wer Hart schon kennt und mag, macht mit ihrem aktuellen Buch definitiv nichts falsch. Weibliche Solidarität und Kraft über die Jahrhunderte hinweg findet sich in beiden Werken.

4,5 ⭐️

Bewertung vom 01.10.2025
Brickley, Holly

Deep Cuts


weniger gut

Leider eine sehr ernüchternde Lektüre

Ich fand das Cover dieses Romans sehr besonders und seine Idee innovativ. Deshalb bin ich neugierig in die Lektüre gestartet, wurde aber relativ schnell auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt.

Holly Brickley hat sich sicherlich zu einem gewissen Maß selbst in ihren Roman eingeschrieben. Umso schwerer finde ich es, ihn zu kritisieren. Aber doch finde ich leider wenig Positives in dieser Geschichte, was teilweise an ihr selbst und teilweise an mir als Zielgruppenperson liegt.

Das Buch lässt sich okay flüssig lesen. Es ist sprachlich für mich nichts besonderes, phasenweise war das Eintauchen in Musikanalyse aber recht interessant. Manche Elemente waren humorvoll, andere angenehm gesellschaftskritisch. Woran es für mich jedoch klar scheitert, ist die Figurenzeichnung. Percy als Protagonistin bleibt mir bis auf ihre Liebe zu Musik und ihr Händchen für Musikanalyse bis zum Ende fremd. Ich kann ihre Verlorenheit und ihre Emotionen einfach nicht greifen. Und was bei ihr schon nicht zufriedenstellend geschrieben ist, trifft auf die Nebenfiguren erst recht zu. Da wäre meiner Meinung nach so viel mehr Tiefe möglich gewesen, doch aus irgendeinem Grund hat die Autorin darauf verzichtet.

Dann geht es für mich weiter mit der Liebesgeschichte, mit welcher das Buch schließlich beworben wird. Die habe ich von Beginn an so gar nicht gefühlt und das hat sich auch bis zum Ende nicht verändert. Ich fand diese Beziehung eher ziemlich toxisch und bin mit dem Schluss völlig unzufrieden. Weder erscheint er mir logisch bei allem, was davor passiert ist, noch finde ich ihn für Percy als Figur zufriedenstellen. Sie beginnt innerhalb der Handlung nämlich, sich von einigen ungesunden Mustern zu befreien, was ich gern gelesen habe. Doch so richtig zu Ende gedacht fand ich die Entwicklung dann nicht.

Und nicht zuletzt hatte ich riesige Schwierigkeiten mit der Musik. Ich bin Anfang der 90er geboren und dachte, dass ich einigen bekannten Stücken begegnen werde, denn zumindest die 00er haben mich dahingehend sehr geprägt. Dem war überhaupt nicht so! Ich kannte vielleicht 2-3 Lieder und viele sind auch einfach deutlich älter. Auch das „Lebensgefühl der 2000er Jahre“ begrenzt sich schon sehr auf die USA oder noch konkreter New York. Für Menschen, die zu dieser Zeit dort gelebt haben, ist das Buch vielleicht auch deutlich greifbarer. Mir wiederum war fast alles fremd, sodass ich zunehmend genervt war beim Lesen.

Grundlegend fand ich die Musikanalyse reizvoll und phasenweise war sie interessant beschrieben. Viel zu oft habe ich mich aber der Handlung und dem generellen Vibe fremd gefühlt. Wenn dazu noch die Figuren oberflächlich und unpersönlich bleiben, ist die Geschichte für mich leider verloren. An einigen Stellen hätte ich lieber abgebrochen, wollte dann aber den Ausgang schon noch lesen. Rückblickend hätte ich es lieber gelassen, denn die zunehmend zusammenhangslosen Schnipsel haben mich wirklich frustriert.

1,5 ⭐️

Bewertung vom 27.09.2025
Nawrath, Bianca

Schöne Scham


sehr gut

Spannende Ausgangslage, insgesamt aber zu seicht

Der Klappentext dieses Romans hat mich richtig neugierig gemacht. Das Aufeinandertreffen verschiedener Personen mit so unterschiedlichen Weltansichten versprach mir ein unterhaltsames Spektakel mit klar feministischem Ton. Dieses Versprechen konnte das Buch für mich nur bedingt halten.

Bianca Nawrath ist mir vorher noch nicht begegnet. Die Autorin hat eine zugängliche Art zu schreiben und hält ihre Leser*innen damit dicht an den Figuren. Dank schneller Perspektivwechsel und kurzer Kapitel entsteht ein schöner Lesefluss.

Wirklich fein herausgearbeitet fand ich das zentrale Thema manipulativer und gewaltvoller Beziehungen. Dass Christian lange so zuvorkommend und liebevoll wirkt (in den Augen der anderen, aber auch seiner Partnerin), ist so präzise wie beklemmend dargestellt. Nach und nach verdichten sich die Hinweise auch für uns als Lesende, wobei die Wahrnehmung seiner Freund*innen durchaus variiert. Ola ist als deutlich feministisch geprägte Neue in der Runde scheinbar die einzige, die diese Signale frühzeitig zu erkennen vermag.

Darüber hinaus muss ich jedoch sagen, dass ich den Roman zwar unterhaltsam fand, mir die angekündigte Reibung aber zu wenig Raum eingenommen hat. Themen, zu denen besonders Ola und Christian hätten aneinander geraten können, wurden eher nur angeschnitten oder traten gar nicht so zahlreich auf wie erwartet.

Auch auf Figurenebene passte es für mich nicht so recht. Ich habe mir viel tiefere Figuren erhofft, hatte aber oft das Gefühl, dass die Charaktere eher oberflächlich gezeichnet wurden. Sicherlich haben dazu auch die schnellen Perspektivwechsel beigetragen, aber für einen feministischen Roman war es mir doch überwiegend zu seicht bzw. der große Knall wiederum zu extrem. Außerdem wurde mir persönlich einfach zu viel ausformuliert. Es gab etliche Stellen, an denen mich eine Andeutung viel mehr gereizt und zum Mitdenken animiert hätte. Der Roman fordert seine Lesenden irgendwie nicht so richtig heraus, was ich doch recht schade finde.

Eine Geschichte, die problemlos gelesen werden kann und dabei durchaus unterhält. Im Bereich feministischer Literatur zu toxischen Beziehungen gibt es meiner Meinung nach aber deutlich schlagkräftigere Werke. Wer literarisch anspruchsvolle Lektüre sucht, ist hier eher nicht an der richtigen Stelle. Ein unterhaltsamer Roman mit wichtigem Thema ist es aber in jedem Fall - wer sich das wünscht, kann sorglos zu „Schöne Scham“ greifen.

3,5 ⭐️

Bewertung vom 17.09.2025
Kuhn, Yuko

Onigiri


ausgezeichnet

Das fragmentarische, sensible Porträt eines Lebens zwischen den Welten

Während ich mit japanischer Literatur bislang eher nicht komplett gematcht habe, gab es aus dem deutsch-japanischen Autor*innenfeld schon das ein oder andere Highlight. „Onigiri“ reiht sich für mich im positiven Sinne ein.

Yuko Kuhn hat einen leisen Roman geschrieben, der sich doch gleichermaßen eindringlich mit einem Leben zwischen zwei Welten befasst. In ihm reist Protagonistin Aki mit ihrer dementen Mutter Keiko ein letztes Mal nach Japan und reflektiert parallel dazu nicht nur über den Werdegang ebenjener, sondern auch über ihre eigenen Kindheitserinnerungen und Schlüsselmomente.

Besonders geschickt finde ich die Struktur der Erzählung. Denn obwohl sie auch zu einer gewissen Kompliziertheit beiträgt, spiegelt sie in sich die innere Zerrissenheit Akis wider. Jedes Kapitel teilt sich in den Gegenwartsstrang, also den Besuch in Japan, und einen Erinnerungsteil. Letzterer ist dabei immer stark familienbezogen, dahingehend aber sehr divers gehalten. Mal geht es um die Großeltern, mal den Vater und dann wieder um Akis Bruder. Die beiden Teile sind strukturell nur sehr dezent voneinander getrennt und ich verstehe, dass dies das Leseverständnis hemmen kann. Ich konnte mich nach einer kurzen Gewöhnungsphase glücklicherweise sehr gut drauf einlassen und denke auch, dass es bei diesem Werk genau darauf ankommt.

Die vermittelten Gefühle sind unheimlich vielschichtig, manchmal richtiggehend widersprüchlich. Besonders die Mutter-Tochter-Beziehung steht logischerweise im Zentrum der Geschichte und wird begleitet von nahen wie distanzierten Momenten. Kuhn schafft es eindrücklich, einen dichten Text zu schreiben, ohne ins Abwertende oder Pathetische abzuschweifen. Vielleicht trägt ihre eigene Biografie dazu bei, in jedem Fall finde ich die Selbstreflexion von Protagonistin und Autorin bemerkenswert.

Ganz nebenbei thematisiert Kuhn alltäglichen Rassismus, der trotz ihrer nüchternen Schreibweise unter die Haut geht. Auch kulturelle Unterschiede werden am Beispiel ihrer deutschen bzw. japanischen Familie messerscharf verhandelt. So sammelt dieser Roman eine schiere Fülle an Erfahrungen und fügt sie zu einem Mosaik zusammen.

Demenz ist in der Literatur nun wirklich nicht selten Thema, aber die sensible, leise und gleichzeitig aufwühlende Schilderung der Autorin ist eine ganz besondere. Teilweise genügte ein Satz, eine Frage der Mutter, um in mir alles zum Stocken zu bringen. Aki gilt für ihren Umgang mit dieser furchtbaren Erkrankung meine absolute Bewunderung, gleichzeitig war aber auch ihre Trauer für mich deutlich spürbar.

Die Autorin baut auf sehr viele japanische Begriffe und Wendungen, was ich ja immer ambivalent bewerte. Sehr authentisch und passend auf der einen Seite, störend für meinen Lesefluss auf der anderen. Das Glossar ist ganz toll, lässt sich im eBook aber nur unpraktisch nutzen. Abgesehen davon kann ich aber wirklich maximal nur an der ein oder anderen langatmigeren Stelle mäkeln.

Ein Buch für alle, die sich für kulturelle Unterschiede sowie Identitätssuche interessieren und die sich von leisen, fragmentarisch erzählten Romanen mit einigen Zeitsprüngen nicht abschrecken lassen.

4,5 ⭐️

Bewertung vom 17.09.2025
Fonthes, Christina

Wohin du auch gehst


ausgezeichnet

Ein fein erzähltes und emotional unglaublich starkes Debüt

Das war ein sehr unerwartetes Highlight! Geschichten, die über mehrere Zeitebenen hinweg und aus verschiedenen Perspektiven heraus erzählt werden, gefallen mir generell sehr gut. Und doch bin ich ohne besondere Erwartungen in die Lektüre gegangen.

Was gleich zu Beginn und auch im Verlauf immer wieder deutlich wird: Christina Fonthes hat eine ganz besondere Stimme, die mich gleichermaßen gepackt wie berührt hat. Sie schreibt sprachlich zugänglich und authentisch, behält sich aber stets eine angenehme Sensibilität bei. Außerdem hat sie ein echtes Händchen für kleine Hints, die nicht zu viel von der Handlung vorwegnehmen und später makellos wieder eingefangen werden.

Auch thematisch ist dieser Roman meisterinnenhaft! Ganz zentral geht es um familiären Druck, Religion, Kultur, Identität und Queerness. Fonthes erzählt ehrlich und echt, schafft es aber auch, Schmerzhaftes nur so weit auszuerzählen, dass es sich beim Lesen nicht traumatisch anfühlt. Emotional hat mich die Geschichte trotzdem an so vielen Stellen tief berührt und manchmal regelrecht zerrissen!

An den Figuren gibt es ebenso nichts auszusetzen! Sowohl Bijoux als auch ihre Tante Mira sind vielschichtige Figuren mit einer komplexen Geschichte und einer ebenso komplexen Beziehung zueinander. Besonders der Umgang von Eltern mit ihren Kindern ist in diesem Roman oft unglaublich schmerzhaft! Gleichzeitig verpasst es die Autorin nicht, ihren Lesenden auch heilsame Elemente zu schenken - ganz besonders in Form weiblicher Solidarität und Stärke.

Ich konnte wirklich einige Geschehnisse der Erzählung erahnen und doch war ich zutiefst bewegt, wenn sie dann entsprechend aufgeklärt wurden. Das spricht in meinen Augen für Fonthes’ großes Talent! Die Autorin schreibt so gut, dass sie auf überflüssige Spannungselemente getrost verzichten kann. Durch das geschickte Vermitteln kongolesischer Geschichte habe ich auch wirklich viel über die Demokratische Republik Kongo, früher Zaire, gelernt.

Der einzige Punkt, den ich zumindest ambivalent sehe, ist die Verwendung verschiedener Lingala-Begriffe und -Sätze. Einerseits trägt sie extrem zur Authentizität der Geschichte bei und die Kursivschreibung sowie das angeschlossene Glossar sind hilfreiche Tools. Andererseits konnte ich mir die Übersetzungen trotzdem so schlecht merken, dass ich ständig noch einmal nachsehen musste, was meinen Lesefluss behindert hat.

Ich bin aber viel zu begeistert von diesem bemerkenswerten Debüt, als dass ich irgendetwas von der Wertung abziehen würde. Es ist in vielerlei Hinsicht eine Geschichte über Befreiung und ihr Schluss einfach nur ein Paukenschlag. Lest unbedingt diesen spannenden, feinfühligen und auch schmerzhaften Roman!

Bewertung vom 17.09.2025
Wahl, Caroline

Die Assistentin


sehr gut

Neuer Stil mit viel Meta-Ebene

Zum Hörbuch: Die Autorin erfährt ja unglaublich viel Kritik für ihre Lesung. Stimmen werden von Menschen unterschiedlich empfunden, daher ist hier eine legitime Meinungsäußerung auch völlig okay. Was teilweise an ableistischer, sexistischer Abwertung passiert, ist selbstredend absolut daneben. Ich empfand ihre Stimme bei Standardgeschwindigkeit auch nicht als angenehm, aber ich höre sowieso nie auf dieser Stufe, weil mir das immer absurd verlangsamt vorkommt. Auf 1.5x oder 1.75x fand ich die Autorin ehrlicherweise sehr passend, zumal es einen netten Touch hat durch all die Meta-Einordnungen ihrerseits. Dass sie keine professionelle Sprecherin ist, merkt mensch allerdings schon an einigen Stellen (kleine Stocker, unterschiedliches Tempo, unnatürliche Pausen). Ich bin daher hin- und hergerissen, was die Lesung angeht. Ich fand sie nicht optimal, aber auch keineswegs so schlimm wie andere.

Zum Buch selbst: Die Erzählerin (Autorin?) begleitet die Protagonistin und gibt durchweg auf Meta-Ebene Kommentare zur Gestaltung der Handlung ab. Ich persönlich mochte diese stilistische Form gern, auch das sehr häufige und wiederholte Foreshadowing hat mir gut gefallen. Das ist aber generell ein Element, das ich schätze. Die Autorin lässt meiner Meinung nach noch genug Raum für Überraschung und außerdem denke ich, dass es vielmehr um die Botschaften zwischen den Zeilen geht als um die Handlung selbst.

Gleichzeitig ist Wahl in ihren Botschaften auch nicht extrem deutlich. Sie hat ihre Protagonistin nicht unbedingt super sympathisch geschrieben und nur mit Spuren von Selbstreflexion, die dann aber auch quasi nie in ein entsprechend angepasstes Verhalten resultieren. Die Autorin seziert ein sich verschlimmerndes Machtverhältnis, die völlige Ausbeutung in der Verlagsbranche und konkurrenzgeprägte Arbeitsumfelder im Allgemeinen. Durch das oben erwähnte Foreshadowing hat sie bei mir angenehmerweise dafür gesorgt, dass ich weniger beklemmt war. Ich verstehe aber auch, dass das von anderen als zu repetitiv und vorwegnehmend empfunden wird.

Als Hörbuch fand ich den Roman durchaus unterhaltsam, kann aber entsprechend nicht sagen, ob er mir in geschriebener Form nicht zu langweilig gewesen wäre. Insgesamt gesehen passiert schon recht wenig auf den 280 Seiten, da hätte mir ein geringerer Umfang auch gereicht.

Nichtsdestotrotz habe ich Charlotte gern begleitet, auch wenn ich sie nicht lieb gewonnen habe. Doch darum sollte es bei der grundlegenden Kritik auch nicht gehen, die besteht unabhängig von Sympathien. Und gleichzeitig hatte ich nicht den Eindruck, dass Wahl ihre Protagonistin kritiklos betrachtet. Denn diese opfert für ihren eigenen Erfolg auch durchaus Kolleginnen und sehnt sich gleichzeitig nach (weiblicher) Solidarität. Diese Ambivalenz fand ich auf Figurenebene pointiert dargestellt.

Caroline Wahl hat sich hier an etwas für sie literarisch Neues gewagt und ich empfinde den Versuch als gut gelungen. Da es eine durchaus gewagte Erzählform ist, wird der Roman sicherlich weiter polarisieren. Sie wird nicht zu meiner Lieblingsautorin werden (schon aus anderen Gründen nicht) und es gibt auch deutlich bessere Romane über Machtmissbrauch, aber mich hat die etwas skurrile Meta-Ebene abgeholt.