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Bories vom Berg
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Bewertungen

Insgesamt 904 Bewertungen
Bewertung vom 08.05.2025
Liquidation
Kertesz, Imre

Liquidation


gut

Schicksalslosigkeit nach Auschwitz

Zum Auschwitz-Zyklus des Literatur-Nobelpreisträgers Imre Kertèsz gehört auch der Roman «Liquidation», der sich thematisch damit auseinandersetzt, wie in Ungarn nach der Wende, und der damit einher gehenden, politischen Liberalisierung, die junge Generation sich schwertut, mit dem historischen Erbe angemessen umzugehen. Als ungarischer Schriftsteller war Kertèsz geprägt durch seine Deportation nach Auschwitz und anschließend ebenso durch seine zeitweilige Arbeit als Gefängniswärter. Dabei fand er sich plötzlich auf der Gegenseite wieder, in der «Situation des Henkers, des Täters», wie er erklärt hat.

Im vierten der unter dem Namen «Tetralogie der Schicksalslosigkeit» bekannt gewordenen Romane dient dem Autor in «Liquidation» ein total desillusionierter Lektor namens Keserü als Protagonist. Und, nomen est omen, ‹keserü› bedeutet auf Deutsch ‹bitter›, wobei dieses Adjektiv auch für die verbitterte Stimmung gilt, die im gesamten Roman vorherrscht. Der beste Freund von Keserü war der Schriftsteller B., der 1944 in Auschwitz geboren wurde. Man tätowierte dem Säugling die Lagernummer auf den Oberschenkel, weil seine Ärmchen dafür zu klein waren. Er überlebte Auschwitz wie durch ein Wunder, was aus seiner Mutter geworden war, wusste er nicht. Seine resignative Grundthese, die er immer und überall zum Ausdruck brachte, lautete: «Das Lebensprinzip ist das Böse». Im Jahre1990 hat er sich dann schließlich überraschend durch eine Überdosis Morphium umgebracht. Aufgefunden hat ihn Sára, seine mit einem Kollegen verheiratete Geliebte, die einen Schlüssel zu B.s Wohnung hat und für die er einen lapidar kurze Nachricht hinterließ: «Sei mir nicht böse! Gute Nacht!». In ihrer Aufregung ruft sie zuerst Keserü an, der sofort in die Wohnung eilt. Er will Manuskripte seines Freundes retten, bevor die Polizei kommt und sie beschlagnahmt. Insbesondere sucht er nach einem noch nicht veröffentlichten Roman, von dessen mutmaßlich geheim gehaltener Existenz er fest überzeugt ist. Aber er findet nichts dergleichen!

Allerdings stößt er unter anderem auf das Manuskript eines Theaterstücks mit dem Namen «Liquidation». In dem Stück wird geradezu beängstigend prophetisch genau das wiedergegeben, was nach seiner Auffindung dann auch tatsächlich passiert. Denn Keserü fahndet unbeirrt weiter nach dem vermeintlichen Roman-Manuskript, wobei er zunächst Sára verdächtigt, dass sie es an sich genommen habe. Als sie das vehement verneint, wendet er sich schließlich an Judith, die Exfrau von B., die sich vor fünf Jahren von ihm hat scheiden lassen. Sie ist Ärztin und gesteht Keserü nach langem Insistieren, dass B. ihr das Roman-Manuskript tatsächlich übergeben habe und dass sie es war, die ihren rauschgiftsüchtigen Ex-Mann mit dem Morphium versorgt hat, mit dem er sich dann umbrachte. Er hatte ihr das Versprechen abgenommen, unmittelbar nach seinem Suizid das Manuskript seines großen Auschwitz-Romans zu verbrennen, was sie dann auch getan habe.

In dem komplexen Roman stellt Imre Kertèsz seinem Protagonisten und Alter Ego Keserü mit dessen von ihm grenzenlos bewundertem Freund B. spiegelbildlich eine Figur gegenüber, alle drei Existenzen verschmelzen zunehmend ineinander. Zu den Gründen für B.s Suizid heißt es lapidar: «Seine Geschichte war zu Ende, ihn selbst aber gab es noch, und das war ein Problem». Auch für Kertèsz gilt das Diktum von Adorno als ein unauflösliches Paradoxon. Der Vergangenheit, so sein Credo, kann man zwar nicht entkommen, aber doch seiner ebenso sinnlosen wie selbstzerstörerischen Wiederholung! Die komplexe narrative Struktur dieses Romans ergibt sich allein schon aus der Tatsache, dass hier zwei Romane und ein Theaterstück, oft kaum unterscheidbar, erzählerisch ineinander verschachtelt sind. Auch die Perspektiven, aus denen da erzählt wird, wechseln häufig schwer erkennbar, von unterschiedlichen Ich-Erzählern bis hin zu einem nicht identifizierbaren auktorialen Erzähler. Hohe Kunst ist das ohne Zweifel, - aber schwer lesbar ist das natürlich auch!

Bewertung vom 03.05.2025
Halbinsel
Bilkau, Kristine

Halbinsel


sehr gut

Feminine Sinnkrisen

Für ihren neuen Roman mit dem Titel «Halbinsel» wurde Kristine Bilkau kürzlich der Preis der Leipziger Buchmesse für Belletristik verliehen, sehr zur Überraschung mancher Kritiker. Vor dem Hintergrund der zunehmend bedrohlicher werdenden Klimakatastrophe schreibt die Autorin «mit feinem Einfühlungs-Vermögen über eine vielfache Entfremdung, über Einsamkeit des Alterns und die Hoffnung auf Versöhnung», so die Jury. Mit dieser Thematik hat sie in den unruhigen Zeiten unserer Gegenwart offenbar zielsicher einen Nerv getroffen. Vor allem aber hat sie damit auch dem erklärten Selbstverständnis der Leipziger Jury entsprochen, mit literarischen Mitteln auf die schwierigen existentiellen Fragen unserer Zeit Antworten zu finden.

Annett, die 49jährige Protagonistin des Romans, lebt allein in einem bescheidenen Haus auf einer Halbinsel im Wattenmeer Nordfrieslands nahe Husum. Nach dem plötzlichen, frühen Tod von Johan, ihrem Mann, hat die Bibliothekarin ihre inzwischen 25jährige Tochter allein großgezogen. Linn hat Umweltökonomie studiert, Praktika in den Wäldern Schwedens und Rumäniens absolviert und arbeitet bei einer Beratungsfirma für Klimaschutz in Berlin. Als sie bei einem Vortrag in einem Tagungshotel einen Schwächeanfall erleidet, holt ihre Mutter sie nach einem kurzen Krankenhaus-Aufenthalt zur Erholung für eine Woche zu sich. Linn ist apathisch geworden, redet kaum ein Wort mit der Mutter und ist plötzlich völlig antriebslos. Es bleibt nicht bei der einen Woche, sie kündigt ihren Job, will ihre Wohnung in Berlin auflösen und bei der Mutter wohnen bleiben. Und sie nimmt auch noch, beruflich völlig unter ihrem Niveau, plötzlich sogar eine Stelle als Verkäuferin in der örtlichen Bäckerei an.

Dieser Sommer mit Linn, wie die Ich-Erzählerin sinniert, «diese Wochen zwischen Ende Mai und Mitte September», würden für etwas stehen, sie wären eine Zeit, nach der sie sich später mal zurück sehnen würde. Die Autorin beleuchtet sehr überzeugend den Generationen-Konflikt zwischen der Mutter kurz vor Beginn des Klimakteriums und der gerade erwachsen gewordenen Tochter. Während Linn einen Blackout erleidet und in eine tiefe Sinnkrise stürzt, bildet Annett sich ein, daran schuld zu sein, als allein erziehende Mutter versagt zu haben, weil Linn nun alles hinschmeißt. Annett kann den Tag nicht vergessen, als ihr Mann beim Joggen an einem Herzschlag gestorben ist. Für sie ist und bleibt es der Tag, an dem Johan «nicht zurückgekommen ist», denn wenn sie davon spricht, sagt sie niemals «gestorben ist». Sein Tod ist und bleibt ein Trauma für sie, und sie kann sich auch kaum trennen von Sachen, die ihm einst gehört haben. Was Linn ihr vorwirft als unnötige Geste nach so vielen Jahren, sie lebe deshalb am wahren Leben vorbei.

In weiten Teilen ist diese Geschichte als innerer Monolog erzählt, und immer wieder kommt darin ihr Mann vor, «hörte ich Johan sagen» heißt es da, jeweils kursiv gedruckt. Mit dem Titel spielt die Autorin darauf an, dass sie und ihre Tochter gesellschaftlich nicht abgeschottet auf einer Insel leben, ihre soziale «Halbinsel» ist nicht losgelöst von den gesellschaftlichen Konventionen. Mit zwei Wanderungen durch das Watt zu einer Hallig, der Extremform einer Insel, werden außerdem auch Bezüge zu der mental labilen Situation der beiden Frauen hergestellt. Sei es, dass Anett auf der ersten Wanderung im Watt einen Ziegelstein findet als Zeugnis einer einst im Meer versunkenen Stadt, eine Metapher für die Vergänglichkeit alles Irdischen, Oder dass, mitten im Watt, ein Pferd wegläuft, aber nicht instinktiv Richtung Ufer, sondern Richtung Meer, Metapher für die Desorientierung der beiden Frauen. Die aufkeimenden Konflikte zwischen ihnen haben ihre Ursache im Verdrängten, was die Autorin knapp, aber prägnant, ohne ein Wort zuviel, aber auch ohne eins zu wenig schildert. Ihr betont ruhiger, angenehm lesbarer Stil ist stimmig, der Plot bleibt jederzeit nachvollziehbar, und ihre Botschaft im Hinblick auf den Klimaschutz kommt gottlob ganz ohne den erhobenen Zeigefinger aus!

Bewertung vom 01.05.2025
Die Bagage
Helfer, Monika

Die Bagage


gut

Kuckuckskind

Mit dem Titel «Baggage» spielt Monika Helfer in ihrem autofiktionalen Roman auf die deutsche Bedeutung des französischen Wortes als Last an, im übertragenen Sinne sind abwertend aber auch zwielichtige Gestalten gemeint. Beides trifft hier zu, einerseits ist die Belastung gemeint, die ein nie gelüftetes, allen peinliches Geheimnis über Generationen hinweg innerhalb der Familie bedeutet, anderseits steht Baggage auch für die Außenseiterrolle, die eine allen lästige, prekäre Familie spielt. Die Autorin erzählt in dem schmalen Band ihre Familiengeschichte, beginnend mit ihrer Großmutter beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs bis hin zu ihren eigenen, späten Versuchen als bereits erwachsene Frau, herauszufinden, was denn nun wirklich damals geschehen ist in einem kleinen Dorf am Vorarlberg. War ihre Mutter ein Kuckuckskind?

Am äußersten Rand dieses Dorfes leben Josef und Maria Moosbrugger mit ihren Kindern in äußerst bescheidenen Verhältnissen. Maria ist die schönste Frau weit und breit, alle Männer beneiden Josef deshalb sehr, die Frauen aber sind neidisch und eifersüchtig zugleich. Josef ist Bauer, und als er zum Krieg eingezogen wird, bittet er seinen besten Freund, den Bürgermeister des Orts, mit dem er heimlich dubiose Geschäfte macht, auf Maria achtzugeben. Seither unterstützt der die Familie so gut er kann mit Lebensmitteln, Maria und die Kinder leiden ständig an Hunger, der kleine Hof wirft einfach zu wenig ab, und zudem fehlen jetzt auch die lukrativen ‹Geschäfte› von Josef. Aber auch der Bürgermeister ist nur ein Mann, er kann den Reizen von Maria kaum widerstehen und versucht es bei ihr, wird aber immer wieder abgewiesen.

Auf einen Volksfest lernt Maria Georg kenne, einen Deutschen aus Hannover, der für wenige Tage im Dorf ist, um etwas zu erledigen. Am nächsten Tag taucht er unerwartet bei ihr auf, er hat sich erkundigt, wo sie wohnt. Georg ist ein Traummann in Marias Augen, er findet schnell Kontakt zu ihren vier Kindern und besucht die Familie auch die nächsten zwei Tage. Bei seinem letzten Besuch vor der Abreise wird er von einem Dorfbewohner beim Verlassen des einsam gelegenen Hauses gesehen. Als er für immer fort ist, trinkt Maria verzweifelt eine ganze Flasche Schnaps leer und stirbt fast daran. Überraschend schnell kommt Josef schon bald zu einem ersten Heimaturlaub zurück, auch beim Militär macht er offensichtlich seine ‹Geschäfte›, er bringt nämlich Geld mit. Allerdings kann er nur vier Tage bleiben, das Zusammensein mit seiner attraktiven Frau genießt er in vollen Zügen. Aber es ist gerade diese Attraktivität, die Maria dann zum Verhängnis wird. Sie wird bald darauf schwanger, und es werden sofort wilde Berechnungen angestellt, ob denn Josef überhaupt der Vater sein kann. Als Margarete, die von allen nur Grete genannte Mutter der Erzählerin, schließlich als fünftes Kind auf die Welt kommt, hört auch Josef von diesen Gerüchten. Trotz der Beteuerungen des Bürgermeisters, dass Maria sich nichts hat zu Schulden kommen lassen, nagen bei Josef fortan die Zweifel. Er spricht nie ein Wort mit Grete und schaut sie auch nicht an, so als gäbe es sie nicht.

Der Roman zeichnet das archaische Bild einer engstirnigen Dorfgemeinschaft vor mehr als hundert Jahren, in der die Missgunst stärker ist als die Vernunft und die Eifersucht stärker als das Vertrauen. Auch die Sehnsucht nach Liebe hat darin ihren Platz, und so, wie Maria ihre Zufalls-Bekanntschaft sieht, ist Eheglück das eine und die einmalige, die große Liebe das andere Geschenk im Leben. Die Sehnsucht ist seither ihr ständiger Begleiter. Erzählt wird diese berührende Geschichte in knapper, dem dörflichen Idiom stimmig angepasster Sprache mit vielerlei Zeitsprüngen. Bei diesem komplexen Familien-Porträt bleiben einige Leerstellen, nicht geklärte Fragen zu dem emotionalen Ballast, der einem hier aber nicht aufgedrängt wird, sondern vollständig der eigenen Phantasie überlassen bleibt. Diese feinsinnig, zuweilen lakonisch erzählte Geschichte setzt ihre eigenen, ganz besonderen Akzente im Genre der Dorfromane!

Bewertung vom 28.04.2025
Treue Seele
Freeman, Castle

Treue Seele


gut

Eine Hochzeit, mit der niemand gerechnet hat

Der amerikanische Schriftsteller Castle Freeman schreibt auch in seinem neuesten Roman wieder eine Geschichte, die im ländlichen Neuengland spielt. Und auch eine seiner Figuren taucht hier wieder auf, der County-Sheriff Lucian Wing, über den er sogar eine eigene Trilogie geschrieben hat. Dessen besonnene Art trifft allerdings nicht immer auf verständnisvolle Mitmenschen, man hält ihn in den kleinen Kaff im Bundesstaat Vermont für zu träge, und faul sei er außerdem.

Der dreiteilige Roman mit Prolog und Epilog ist in dreißig Kapitel aufgeteilt und deckt einen Zeitraum von mehr als zwanzig Jahren ab, beginnend im Jahre 1990. Schon im Epilog wird klar, worum es geht in diesem Roman, um eine Hochzeit nämlich, und zwar um eine ganz besondere, auch das wird deutlich, eine späte und eine mit Hindernissen. Unter dem Titel «Die Zählung des Volkes» wird geschildert, wie Porter Conway, der Erfahrungen als Volkszähler auch schon aus anderen, weit entfernten Bundesstaaten hat, mit seinem alten Pick-up vor dem Sägewerk von Arthur Bennet hält. Ein Mastiff tobt laut bellend in seinem Zwinger herum, aber es dauert eine ganze Weile, bis sich endlich die Haustür öffnet und ein Mädchen heraustritt, etwa vierzehn, fünfzehn Jahre alt, - blond und atemberaubend schön. Lucy Bennets Vater erweist sich als Ekel, er beschimpft Porter unflätig und weigert sich, irgendwelche Fragen zu beantworten. Verpiss dich, du Schnüffler, schnauzt er Porter an und verschwindet wieder in seinem Haus. Auch Lucy, der er beim Wegfahren den Fragebogen zum Ausfüllen herausreicht, knüllt ihn zusammen und wirft ihn wütend in den Pick-up zurück.

Port, wie Porter Conway fast überall genannt wird, ist neu zugezogen. Er ist ein ausgesprochener Eigenbrötler mit einer weltläufigen Vergangenheit, die Ich-Erzählerin Connie, die mit Cliff Copeland verheiratet ist, kann ihn nicht leiden, obwohl ihr Mann mit ihm eng befreundet ist. Sie ist die Halbschwester von Lucy Bennet, die irgendwann bei ihnen einzieht, weil ihr im Hause ihres Vaters Arthur die Verwahrlosung droht. Der wird nämlich altersbedingt zunehmend wunderlicher und ist mit seiner Tochter völlig überfordert. Lucy ist nicht nur so schön, dass die jungen Männer der Ortes nachts wie Kater ums Haus schleichen, sie ist zudem sehr selbstbewusst und hat ihren eigenen Kopf, auch was die Männer angeht. Zehn Jahre später, im zweiten Teil des Romans, steht Port als amtlicher Volkszähler wieder vor der Tür, und wieder vergeblich! Lucy hat zwei längere Affären, zuerst einige Jahre lang mit Dougie, dem als Nerd in der Stadt eine glänzende berufliche Karriere bevorsteht, und anschließend mit Kurt, einem undurchsichtigen Typ, der diverse Vorstrafen hat, nicht arbeitet, oft auf Reisen ist und schlimme Kerle als Freunde hat. Ein absoluter Fehlgriff der selbstbewussten Schönen, das genaue Gegenteil zu dem strebsamen Dougie.

Der Roman wird vom Ehepaar Copeland erzählt, die Beiden wechseln sich als Ich-Erzähler der dreißig Kapitel permanent ab, wodurch das Geschehen aus männlicher wie auch aus weiblicher Sicht geschildert wird. Als wichtigstes narratives Stilmittel erweisen sich die köstlichen Dialoge zwischen den beiden Freunden, bei denen sich Port als unerschöpfliche Quelle von Geschichten aus seinem bewegten Leben erweist, denen der vergleichweise unspektakuläre Cliff nicht entgegen zu setzen hat, er kennt nicht mehr von der Welt als sein ländliches Vermont, das er noch nie verlassen hat. Sie philosophieren auf Teufel komm raus, «Du bist ein richtig guter Küchenpsychologe, was?» sagt Port einmal zu Cliff, und ergänzt: «Du tust immer so, als wärst du ein Hinterwäldler, dabei hast du in Wirklichkeit einen weiten Horizont». Das stilprägende Element dieses äußerst unterhaltsamen Romans ist der lakonische Witz, in dem da erzählt wird. Man kommt aus dem Schmunzeln und Lachen kaum mehr raus beim Lesen. «Eine Hochzeit mit Hindernissen» heißt es auf dem Buchrücken, präziser wäre: «Eine Hochzeit, mit der niemand gerechnet hat», - und genau die sind ja bekanntlich die aufregendsten!

Bewertung vom 24.04.2025
Lichtspiel
Kehlmann, Daniel

Lichtspiel


weniger gut

Wenig nachhaltiges Biopic

Mit seinem neuesten Roman «Lichtspiel» hat Daniel Kehlmann dem in der Weimarer Zeit äußerst erfolgreichen, österreichischen Filmregisseur Georg Wilhelm Pabst literarisch ein Denkmal gesetzt. Nach der auch in anderen seiner Romane bewährten Methode erzählt der Autor eine fiktive Geschichte, die sich um die reale Figur seines heute kaum noch bekannten Protagonisten rankt, wobei die Problematik künstlerischen Schaffens in einer unmenschlichen Diktatur den thematischen Schwerpunkt bildet.

Der dreiteilige Roman beginnt unter dem Titel «Draußen» in der Emigration des Regisseurs, der als «Roter Regisseur» wegen seiner politischen Überzeugungen in Nazi-Deutschland keine Zukunft mehr für sich gesehen hat und nach Hollywood gegangen ist, obwohl er von der «Filmkunst» dort wenig hält. Eines Tages bekommt er überraschend Besuch von einem Abgesandten des Propaganda-Ministers Goebbels, der ihn nach Deutschland zurückholen will und ihm künstlerische Freiheit und beste Arbeitsbedingungen verspricht. Trotz verlockendem Angebot lehnt Pabst empört ab. Als ihn ein Telegramm zu seiner kranken Mutter zurückruft, reist er mit Frau und Sohn für drei Tage nach Österreich, das inzwischen Ostmark heißt, um sie in einem Pflegeheim nahe Wiens unterzubringen. Am Tag nach ihrer Ankunft bricht der lange erwartete Krieg tatsächlich aus, die Grenzen werden geschlossen, er kann nicht mehr zurück in die USA. Bald darauf wird er zu Goebbels gerufen, der ihm unmissverständlich klarmacht, dass seine Verweigerungs-Haltung böse Konsequenzen für ihn haben würde in Anbetracht seiner kommunistischen Gesinnung. Pabst steigt also notgedrungen wieder ein ins Filmgeschäft und dreht einige erfolgreiche Filme. Sein letztes Werk unter dem Titel «Der Fall Molander» über einen virtuosen Geiger wird wegen der ständigen Luftangriffe in Prag gedreht, wobei der Produzent für eine Massen-Szene im Konzertsaal als Publikum auf KZ-Häftlinge zurückgreifen muss, weil fast alle Männer im Krieg sind. Im Publikum meint er, seinen früheren Arzt als abgemergelte Gestalt wieder zu erkennen, verdrängt dies aber entsetzt sofort wieder. In «Danach», dem kurzen dritten Teil des Romans, wird die Nachkriegszeit beleuchtet mit ihren trivialen Produktionen, die das Volk von den Traumata des Krieges erlösen sollen.

Der Recherchefleiß von Daniel Kehlmann ist auch in diesem Roman beachtlich, sehr anschaulich führt er seine Leser in die Problematik des Filmgeschäfts ein, schildert die verschiedenen Aufgaben der Beteiligten, vom Produzenten über Drehbuchautor, Regisseur, Kameramann, Beleuchter, Maskenbildner und all den anderen dienstbaren Geistern, die da tätig sind. Auch die täglichen Pannen, Rückschläge und erforderlich werdenden Improvisationen sind anschaulich beschrieben, alles steht unter Zeit- und Gelddruck, das Chaos ist der Normalzustand. Natürlich trifft man bei der Lektüre des Romans auf die Filmgrößen der damaligen Zeit, so hat Pabst Leni Riefenstahl bei deren Monumentalwerk «Tiefland» unterstützt, hat mit Greta Garbo gedreht und ist unter anderen mit Heinz Rühmann auch privat gut befreundet. Er ist immer noch wer in der Szene und tauscht sich regelmäßig mit Kollegen wie Fritz Lang oder Helmut Käutner aus.

Von den Feuilletons zum Teil euphorisch hochgejubelt, ist dieser Roman des Erfolgsautors über moralisches Versagen - nach «Tyll» vergleichsweise - ziemlich enttäuschend. Slapstickartige Szenen wie die in Goebbels Büro oder der dilettantische Lesekreis der Nazifrauen, an dem Trude Pabst teilnimmt, irritieren eher, als dass sie zum Lesegenuss beitragen. Stilistisch enttäuschend bieder, mit ständig wechselnder Erzählperspektive den Plot regelrecht zerstückelnd, ohne psychologische Tiefenschärfe an der Oberfläche bleibend, ist die Lektüre zwar durchaus interessant, aber alles andere als meisterlich! Sie hinterlässt beim Lesen keine nachhaltigen Spuren, woran auch die schwache Figurenzeichnung Schuld trägt, man hat das Roman-Personal schon vergessen, wenn man das Buch zuschlägt.

Bewertung vom 20.04.2025
Die Stunde der Komödianten
Greene, Graham

Die Stunde der Komödianten


weniger gut

Wohl kaum nobelpreisfähig

Mit «Die Stunde der Komödianten» hat der britische Schriftsteller Graham Greene einen der für ihn typischen Romane vorgelegt, in dem menschliche Eigenschaften wie Glaube, Schuld und Verrat in abenteuerlichen Geschichten thematisiert werden. Seine Romane sind zumeist im Stil von spannenden Kriminal- oder Spionagegeschichten erzählt, enthalten aber auch einige Thriller-Elemente in Stories, die politische Inhalte haben als Grundlage des Erzählstoffs. Der vorliegende Roman erweist sich als Kritik am Kolonialismus und dessen unrühmlichen Folgen. hier explizit am Terrorregime des Diktators François Duvalier, genannt ‹Papa Doc›, der die Macht auf Haiti vor allem durch die paramilitärische Miliz der Tonton Macoute an sich reißen konnte. Trotz der düsteren Atmosphäre, in der auch dieser Roman angesiedelt ist, fehlt es im Erzählten nicht an einer Prise des typischen schwarzen, britischen Humors, worauf ja auch der Buchtitel hinweist.

Und in der Tat, es sind skurrile Figuren, die 1963 auf einem kleinen Schiff von New York nach Haiti reisen. Protagonist des Romans und Ich-Erzähler ist der etwa 50jährige, in Monte Carlo geborene Mr. Brown, der nach drei Monaten in New York wieder nach Haiti zurückkehrt. In Rückblenden erzählt er von seinem Leben, er hatte in Europa einen lukrativen Handel mit gefälschten und falsch signierten Gemälden aufgezogen, die er jeweils einem jungen Maler in Auftrag gab. Mit den Fälschungen in einem Wohnwagen zog er als ambulante Galerie von Ort zu Ort und machte gute Geschäfte mit unwissenden Kunden, bis er irgendwann aufflog! Er floh nach Haiti, wo seine Mutter in Porte aux Prince ein respektables Hotel besaß, das er nach ihrem Tod geerbt hat. Voller Elan stürzte er sich ins Geschäft und brachte das Trianon erfolgreich zu neuem Glanz. Im Spielcasino lernte er Martha, die deutsche Frau eines Botschafters kennen, sie wurde seine Geliebte. Durch das Terrorregime aber kam der Tourismus auf Haiti fast vollständig zum erliegen, niemand wollte sein Hotel kaufen, weil die Touristen schlagartig weggeblieben sind.

Auf der sechstägigen Überfahrt von New York lernte Brown den britischen Major Jones kennen, der mit seinen Kriegs-Abenteuern prahlt, ein äußerst charismatischer, jovialer Mann, den er aber nicht recht durchschauen kann, mit dem er dann auch nach der Ankunft regen Umgang pflegt. Und er trifft auf das etwas seltsame, aber grundanständige Ehepaar Smith aus den USA, wo der Ehemann 1948 Präsidentschafts-Kandidat war für die winzige Partei der Vegetarier. Mr. Smith will ‹Papa Doc›, den haitischen Präsidenten, für den Bau eines Vegetarier-Zentrums in Porte aux Prince gewinnen. Ein, wie sich herausstellt, sinnloses Unterfangen angesichts der wild wuchernden Korruption in diesem maroden Staat. Dass Paar reist ernüchtert ab! Im dritten Teil des Romans gerät Major Jones ins Visier der Tonton Macoute, wird verhaftet, kommt wieder frei, bekommt dann durch den Ich-Erzähler Brown Asyl in der Botschaft von Marthas Ehemann. Ein Eigentor für Brown, denn jetzt ist Jones ständig mit Martha, seiner Geliebten, zusammen, Brown wird eifersüchtig. Jones flüchtet bei Nacht und Nebel aus der Botschaft und schließt sich einer Rebellentruppe an, die den Diktator vom benachbarten Santo Domingo aus stürzen will.

Alles Schall und Rauch, wie sich am Ende herausstellt, die Figuren des Romans sind allesamt Traumtänzer, fast alles ist gelogen. Jones war nie im Krieg, und Browns wilde Pläne enden damit, dass er einen Job als Beerdigungs-Unternehmer antritt. Als Thriller mag dieser in einer klaren, zielgerichteten Sprache erzählte Roman seine Leser gut unterhalten, die politische Absicht, die Verdammung von staatlichem Terror, bleibt dagegen seltsam kraftlos schon im Ansatz stecken. Gauner und Spione interessieren wohl nicht nur im Kino, sondern auch in der Literatur ein breites Publikum. Um nobelpreisfähig zu sein mangelt es hier narrativ aber so ziemlich an allem, sogar an Spannung!

Bewertung vom 16.04.2025
Die Kindheit Jesu
Coetzee, J. M.

Die Kindheit Jesu


sehr gut

Vom Circulus vitiosus des Begehrens

Der Roman «Die Kindheit Jesu» des südafrikanischen Schriftstellers und Nobelpreisträgers J. M. Coetzee erinnert in seiner Thematik unwillkürlich an «Utopia» von Thomas Morus. «Ein», wie es im lateinischen Beitext von 1516 heißt, «wahrhaft goldenes Büchlein, nicht minder heilsam als unterhaltsam», das vor mehr als fünfhundert Jahren den Anstoß zum literarischen Genre der Sozialutopie gab. Auch bei Coetzee geht es um eine ideale Gesellschaft, deren detaillierte Beschreibung den Effekt hat, immer wieder neue philosophische Aspekte aufzugreifen. Der Leser wird in eine bezwingend klare, moralisch nachdenklich machende Gedankenwelt mitgenommen, die auch kafkaeske Züge trägt.

Auf einem Auswanderer-Schiff nimmt sich Simon, ein 54jähriger Mann, dem etwa fünfjährigen David an, der mutterseelenallein unter den Emigranten ist. David hat einen Brief, den er um den Hals bei sich trug und der seine Herkunft hätte klären können, verloren. Über seine Vergangenheit kann er keinerlei Auskünfte geben, nicht einmal seinen richtigen Namen weiß er. Auch Simon ist, wie es im Roman heißt, «reingewaschen von der Vergangenheit», die Einwanderungs-Behörde hat ihnen beiden einen neuen Namen zugewiesen und sorgt auch für eine Unterkunft. Simon hat sich vorgenommen, Davids Mutter zu finden, die vor ihm hierher gekommen sein muss, da ist er sich sicher. Er findet eine Arbeit als Schauermann im Hafen am Pier für Getreide. Über eine steile Leiter und eine schmale Planke muss er die schweren Säcke aus dem Schiffsrumpf an Land tragen, eine mühsame und ungewohnte Arbeit für ihn.

Der Vorarbeiter und die Kollegen sind äußerst nett zu ihm, er wird schnell in ihren Kreis aufgenommen. Als er nach einiger Zeit seinen Vorarbeiter fragt, warum diese schwere Arbeit nicht mit Hilfe eines Krans erledigt wird, löst er großes Erstaunen auch bei den Kollegen aus. Man hält ihm vor, das würde ja viele von ihnen als Arbeitskraft ersetzen, und dann wäre es ihnen ja sehr langweilig. Nach intensiver Diskussion beschließen die Männer gleichwohl, von der Baubehörde einen Kran auszuleihen und ihn probeweise einzusetzen. Aber nach einem anfänglichen Unfall mit herabfallender Ladung kehrt man wieder zur alten Methode zurück. Auch die Tatsache, dass in dem riesigen Getreidespeicher der Stadt eine Rattenplage herrscht, wird als ganz normal hingenommen. Die Bevölkerung ernährt sich fast ausschließlich von Brot und Wasser, höhere Ansprüche hat man nicht. Alle Wohnungen sind kostenlos und werden jedem von einer Behörde zugeteilt, und auch das Busfahren ist umsonst. Den Menschen ist eine leidenschaftslose Gelassenheit zueigen, sie sind absolut anspruchslos und kennen keinerlei Neidgefühle. Simon findet schließlich in einer Tennisspielerin die Mutter für David, und er kann sie tatsächlich überzeugen, diese Rolle anzunehmen. Der Junge erweist sich als hochintelligent, aber auch als sehr störrisch und eigensinnig. Die vielen Passagen seiner - extrem antiautoritären - Erziehung sind entschieden zu lang geraten und beeinträchtigen dadurch leider deutlich spürbar die eigentliche, gesellschafts-kritische Intention des Autors!

Ironisch weist Coetzee mit dem Buchtitel auf die Bibel hin, während er sich in seiner Geschichte dann aber auf Cervantes und den «Don Quichotte» bezieht, dem besten Buch der Welt, wie eine von der Nobelstiftung ausgewählte Jury aus 100 bekannten Schriftstellern im Jahre 2002 befand. Ein zeitloses Werk, das sinnbildlich für einen idealisierenden Heroismus steht. Das Streben nach mehr, so die Botschaft auch von Coetzee, erweist sich als sinnlos, weil hinter der Erfüllung der Wünsche dann gleich wieder ein neues Verlangen wartet, ein Circulus vitiosus also, der symptomatisch verkörpert ist im kapitalistischen System mit seinem Konsumterror. Das Begehren ist den Bewohnern dieses seltsamen Landes nämlich absolut fremd, ihre Bedürfnislosigkeit existiert sogar beim Sex, den es hier eigentlich nur auf Krankenschein gibt. Intellektuell auf hohem Niveau, brennt der Autor geradezu ein Feuerwerk ab an tiefschürfenden philosophischen Diskussionen, die bereichernd sind und oft sogar recht amüsant!

Bewertung vom 14.04.2025
Das geheime Prinzip der Liebe (Restauflage)
Grémillon, Hélène

Das geheime Prinzip der Liebe (Restauflage)


gut

Eine ungewöhnliche Thematik

Der Debütroman der französischen Schriftstellerin Hélène Grémillon befasst sich mit der literarisch seltenen Thematik einer Leihmutterschaft. Er wurde in 19 weitere Sprachen übersetzt und hat trotz seines irreführenden deutschen Titels «Das geheime Prinzip der Liebe» auch hierzulande einen Hype ausgelöst. Erstaunlich, denn es handelt sich eben nicht um einen der auflagenstarken, typisch kitschigen Liebesromane. Ganz im Gegenteil, mit seiner eher ungewöhnlichen Thematik verbinden sich vielmehr komplizierte, vielschichtige psychologische Aspekte, als da sind: Die herzliche Freundschaft zweier ungleicher Frauen, die Liebe zwischen Mann und Frau als schier unerschöpfliches Thema, ferner Eifersucht, aber auch zerstörerisches Misstrauen und letztendlich Hass, der zuletzt düstere Rachegefühle auslöst. Le Confident, so der Originaltitel, bedeutet wörtlich ‹Der Vertraute› oder Mitwisser, und genau darum geht es auch in diesem Roman. Die streng geheim gehaltene Leihmutterschaft mündet hier in einen erbitterten Krieg der beiden beteiligten Frauen um das Kind, das auf diesem unkonventionellen Wege entstanden ist.

Der Roman beginnt mit dem vorangestellten Hinweis ‹Paris 1975›: «Eines Tages bekam ich einen Brief. Einen langen Brief ohne Unterschrift.» Die 35jährige Verlegerin Camille findet unter den Beileidsbriefen zum Tode ihrer Mutter Annie einen längeren Text, der sich mit der einstigen Leihmutterschaft ihrer verstorbenen Mutter beschäftigt und mit Louis unterschieben ist. Immer mehr solcher Briefe folgen, sie rätselt, wer der Briefschreiber ist und warum er ihr schreibt. Es geht in diesen Briefen um die junge Malerin Annie, die vor dem Zweiten Weltkrieg aus der Champagne nach Paris gekommen ist, um dort Malerei zu studieren, und die in der zehn Jahre älteren Madame M eine wohlhabende Gönnerin findet. Die schenkt ihr nicht nur immer wieder neue Materialien für ihre Kunst, sondern stellt ihr auch einen Raum in ihrer großzügigen Wohnung als Atelier zur Verfügung und engagiert einen bekannten Künstler als Lehrer für sie. Als Madame M ihr in einem vertraulich en Gespräch ihre Verzweiflung darüber gesteht, dass sie offensichtlich keine Kinder bekommen kann, macht Annie ihr spontan das Angebot, für sie als Leihmutter ein Kind auszutragen. Auch der überraschte Ehemann ist schließlich bereit, seiner Frau auf diesem ziemlich ungewöhnlichen Wege ihren sehnlichen Kinderwunsch zu erfüllen.

Mit «Die Ahnung» ist ein diesem Roman stimmig vorangestelltes Zitat von Frederico Garcia Lorca übertitelt, und tatsächlich ahnt man als Leser im Verlauf der Geschichte sehr schnell, dass die hoffnungsvoll arrangierte, streng geheime Leihmutterschaft wahrscheinlich kläglich scheitern wird. Als Annie schließlich schwanger ist, zieht Madame M mit ihr in ihr einsam gelegenes Ferienhaus und verbirgt sie dort vor allen Leuten. Sie selbst aber beginnt, demonstrativ eine eigene Schwangerschaft vorzutäuschen, und als das Kind von Annie als Hausgeburt ohne Hilfe heimlich auf die Welt kommt, gibt Madame M beim Standesamt das Baby als ihr eigenes Kind aus, - und niemand durchschaut den Schwindel!

Erzählt wird all das und die darauf folgenden, erbitterten Kämpfe um das Kind in einem örtlich und zeitlich vielfach verschachtelten Plot aus ganz verschiedenen Perspektiven. In denen werden die diametral entgegenstehenden Vorstellungen und Ansprüche der einstigen engen Freundinnen an die Mutterschaft in aller Schärfe ausgetragen. Es ist seine extreme stilistische Verschachtelung, die diesen Roman als Lektüre überaus schwierig macht. Nach und nach legt die Autorin in ihrem puzzleartigen Plot ein Handlungs-Teilchen an das andere und schließt so die vielen Leerstellen ihrer Geschichte, die dem Leser dann allmählich verständlicher werden. Um auch jeden Zweifel zu zerstreuen, dass ihr Roman wirklich keine Herz-Schmerz-Liebes-Geschichte ist, lässt die Autorin ihn ganz unversöhnlich in einem harten, tragischen Ende ausklingen, mit dem man so nicht gerechnet hat als Leser.

Bewertung vom 08.04.2025
Der Unberührbare
Banville, John

Der Unberührbare


gut

Sprachgewaltiger Nicht-Thriller

In seinem Roman «Der Unberührbare» erzählt der irische Schriftsteller John Banville die Lebensgeschichte eines Spions und Doppelagenten, der am Ende seiner konspirativen Karriere auffliegt und ins Bodenlose stürzt. Victor Maskell, Sohn eines protestantischen Bischoffs, als promovierter Kunsthistoriker hoch angesehen, Kurator der königlichen Kunstsammlungen mit verwandtschaftlichen Verbindungen zu den Windsors, wird nach seiner Enttarnung von einer jungen Frau aufgesucht, die ein Buch über ihn schreiben will. Der 72Jährige hält den Inhalt ihrer Gespräche schriftlich fest und schreibt damit quasi nebenbei seine Autobiografie, er rekapituliert als plötzlich geächteter und vereinsamter Mann der britischen Oberklasse sein bewegtes Leben. Darin hat er viele Rollen gespielt, ohne je wirklich Empathie entwickelt zu haben, selbst nicht seiner Frau und seinen Kindern gegenüber. Er hat nichts und niemanden an sich heran gelassen, er war stets «Der Unberührbare». Trotz seiner Thematik ist dieser Roman allerdings alles andere als ein Spionagethriller, soviel vorweg!

Der Schwerpunkt der nicht chronologisch angelegten Erzählung liegt im London Ende der wilden ‹Dreißiger Jahre›, wo der Ich-Erzähler als Mitglied der ‹Guten Gesellschaft› ein Leben in Saus und Braus führt. Als Kunstexperte hat Victor Maskell sich einer intellektuellen Szene angeschlossen, in der wilde Diskussionen auch über politische Themen geführt werden. Die kleine Clique, der er angehört, hält den Kommunismus für die bessere Gesellschaftsform und beginnt, dem russischen Geheimdienst Informationen zu liefern und britische Behörden und Institutionen auszukundschaften. Dabei bleibt der Protagonist auffallend distanziert, für ihn ist die Spionage lediglich eine Möglichkeit, etwas Leben in seinen langweiligen Alltag als Wissenschaftler zu bringen. Seine introvertierte Art hilft ihm dabei, später auch als Doppelagent viele Kontakte zu beiden Seiten zu halten, ohne dabei aufzufallen.

Auch privat ist er ein Einzelgänger, der erst spät, als über Zwanzigjähriger, die Schwester seines besten Freundes spontan nachts anruft und sie fragt: «Wollen Sie meine Frau werden?» Nach kurzer Bedenkzeit stimmt Vivienne zu. Er erlebt nach der Hochzeit seine Initiation, denn er hatte bisher noch nie Kontakt zu einer Frau. Aber Vivienne hilft ihm lachend über seine Unbeholfenheit hinweg, sie hatte schon etliche Liebhaber. Seine bisher unterdrückte, latente Homosexualität kommt dann allerdings später umso stärker zum Vorschein. Als Schwuler führt er ein geheimes Leben in den entsprechenden Kreisen, das streng geheim bleiben muss, um ihn nicht zu kompromittieren. Aber auch dabei bleibt er rigoros egoistisch, ohne enge und dauerhafte Bindungen einzugehen. Einzig die Kunst, und dabei speziell der französische Barockmaler Nicolas Poussin, berührt ihn wirklich, ist Balsam für seine Seele.

John Banville zeichnet seinen egoistischen Protagonisten als unberechenbar und kaltherzig, wenn er ihn detailreich davon erzählen lässt, wie er zum Spion wurde. In unendlich vielen, alkohollastigen Gesprächen der unnahbaren Hauptfigur erläutert der Autor kenntnisreich die vielen Querverbindungen und Kontakte der Akteure, die ein dichtes Spionagenetz bilden, in dem kaum noch einer den Durchblick hat, selbst die obersten Chargen nicht. Aber so viel da auch erzählt wird, so wenig erfährt der Leser letztendlich wirklich, alles bleibt im Dunstkreis der Geheimagenten und ihrer chiffrierten Sprache. Sein Held, der als kunstbesessen so gar nicht in die eher profane, politische Welt jener Zeit von vor bis nach dem Zweiten Weltkrieg passt, bleibt auch im Verhältnis zum Leser «unberührbar», er ist und bleibt in seiner emotionslosen Art eine zutiefst unsympathische Figur. So wenig also der Plot selbst zu bieten hat, so kontemplativ ist die Art des Erzählens, stilistisch ein Fest geradezu an intellektuellen Gedankengängen. Die alle nachvollziehen zu können fordert volle Aufmerksamkeit, wirkt anschließend dann aber auch sehr bereichend in seiner imponierenden Sprachgewalt.

Bewertung vom 01.04.2025
Trio
Boyd, William

Trio


sehr gut

Drei Romane in einem

Zum umfangreichen Œuvre des schottischen Schriftstellers, Drehbuchautors und Regisseurs William Boyd gehört mit dem Roman «Trio» ein Alterswerk, das er in der ihm vertrauten Szene des Filmgeschäfts sowie auch im Milieu der Autoren und Verlage angesiedelt hat. In drei parallel laufenden Handlungssträngen schildert er am Beispiel seiner drei Protagonisten die Diskrepanz zwischen Innen- und Außen-Wahrnehmung des Menschen, die er als in der unterhaltenden Kunst besonders gravierend beschreibt. Angesiedelt ist dieser Plot im Jahre der gesellschaftlichen Umbrüche 1968. Deren politische Bedeutung wird im Roman deshalb nicht thematisiert, weil ihre Auswirkungen zum Zeitpunkt der revolutionären Ereignisse, wie sie heute historisch gewertet werden, so noch gar nicht absehbar waren.

Fernab von den studentischen Unruhen in Paris wird im südenglischen Seebad Brighton ein Film mit dem künstlerisch eher skeptisch machenden Titel «Emily Bracegirdles außerordentlich hilfreiche Leiter zum Mond» gedreht. Nacheinander werden die drei Protagonisten im Roman eingeführt, ihre jeweilige Geschichte wird in drei separaten Handlungsebenen erzählt. Da ist zunächst Talbot, der mit allen Wassern gewaschene, clevere Produzent dieses Films, ein Krisenmanager par excellence, der ahnt, dass sein Co-Produzent ihn ausbooten will. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder. Privat betätigt er sich klammheimlich mit der Aktfotografie, wobei Männer und Frauen gegen Honorar für ihn Modell stehen. Seine tief in ihm verborgene, homophile Neigung aber lebt er nicht aus, er verdrängt sie, um einen Skandal zu vermeiden.

Die junge amerikanische Schauspielerin Anny spielt in seinem Film die weibliche Hauptrolle. Sie erträgt den Stress der Publicity als umjubelter Star nur mit diversen Medikamenten und wechselnden Liebhabern, zu denen auch ihr Filmpartner gehört. Ihr Ex-Ehemann ist ein vom FBI gesuchter linker Terrorist, der in den USA drei Sprengstoff-Attentate begangen hat. Ihm ist bei einer Vernehmung die Flucht aus dem Gefängnis gelungen. Nun taucht er überraschend in ihrem Hotel auf und fordert Geld von ihr, damit er in ein möglichst weit entferntes Land fliehen kann.

Die dritte Protagonistin ist die mit dem Regisseur des Films unglücklich verheiratete Schriftstellerin Elfrida. Sie hat nach ihrem erfolgreichen Debütroman eine Schreibblockade, die nun schon zehn Jahre andauert und sie zur Alkoholikerin hat werden lassen. Ihr obsessiv gefasster Vorsatz, nun endlich wieder einen Roman zu schreiben, und zwar über den Suizid von Virginia Woolf, scheitet kläglich.. Mit der hatten die Kritiker sie ja einst bei ihrem Debüt euphorisch verglichen. Dieses Thema aber erweist sich jetzt als Debakel, sie kommt über den ersten Absatz einfach nicht hinaus. Die komplizierten Vorgänge beim Filmdreh und die Probleme und kleinen Katastrophen am Set werden in diesem Roman ebenfalls sehr anschaulich geschildert, man bekommt einen interessanten Einblick in die Usancen einer nach außen hin ja glamourösen Branche. Ähnlich bereichernd sind auch die geschilderten Schwierigkeiten von Elfrida, im Wechselspiel mit Verlagen und Agenten ein neues Romanprojekt zu realisieren.

Der turbulente, klug konstruierte und stets eindeutig nachvollziehbare Plot wartet mit vielen überraschenden Wendungen auf, die permanent für Spannung sorgen. Mit vielen Reflexionen über Innen- und Außen-Wahrnehmung demaskiert der Autor psychologisch tiefgründig die menschlichen Verhaltensweisen zwischen sturer Ignoranz und kleinlauter Selbsterkenntnis. Stilistisch angenehm unmanieriert und flüssig lesbar, erzählt der Autor oft in erlebter Rede, womit er die Distanz zu seinen Figuren aufhebt und ihr Innenleben offenlegt. Sie wirken dadurch besonders glaubhaft und realistisch. Als Leser wird man aber leider in der Erwartung enttäuscht, dass die einzelnen Geschichten am Ende zusammen geführt werden, - ein unnötiges Manko. Man hätte die drei Geschichten nämlich auch, jede für sich, als respektablen Roman veröffentlichen können!