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galaxaura
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Köln

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Insgesamt 98 Bewertungen
Bewertung vom 28.06.2024
Kling, Marc-Uwe

VIEWS


ausgezeichnet

Eine Million Likes für dieses Buch

„Views“ von Marc-Uwe Kling wird, das prognostiziere ich jetzt, in der Mitte des Jahres, ziemlich sicher auch am Ende des Jahres noch in meinen Top Ten Leseerlebnissen 2024 zu finden sein. Das liegt nicht nur an Klings unglaublich guter Schreibe, sondern vor allem an einer bestechenden inhaltlichen Grundidee, die viel zu viel Realität beinhaltet. Doch fangen wir vorn an: Bei der Aufmachung. Views kommt mit festem Pappkartoneinband, einem wirklich schreiend pinken Buchrücken und Innencover und einem Nicht-Bild auf der Front und dem typischen Zeichen für sensible Inhalte, und was soll ich sagen: Ich find das richtig nice! Fasst sich gut an, sieht im Bücherregal Knaller aus und bildet sowohl den Inhalt als auch die Gier nach Aufmerksamkeit und Likes perfekt ab.
Der Inhalt ist schnell geteased: Die 16-jährige Lena Palmer verschwindet und Tage später taucht ein verstörendes Video von ihr auf, das rasant viral geht. BKA-Kommissarin Yasira Saad soll den Fall lösen und gerät in einen Strudel aus Verschwörung, identitärer Gruppierungen, Cyberwelt und KI. Und nicht nur das Ende des Buches zieht der lesenden Person den Boden unter den Füßen weg.
Kling schafft es, in diesem Buch so ziemlich alles unterzubringen, was ihn an unserer Welt gerade stört: Und das ist viel. ABER, und das ist der Hype, das macht ihn so genial: Das trägt überhaupt nicht auf. Alles ist sinnvoll eingebettet, nie entsteht das Gefühl, dass hier Moral oder Wertung reingedrückt wird in eine Handlung. Nein, locker-flockig und immer real rechnet der Autor mit den Möglichkeiten unserer medialen Welt ab und zwingt uns in die Verantwortung, ohne jemals explizit darüber zu reden. Das alles ist eingebunden in eine wahnsinnig spannende Handlung, so dass ich das Buch ohne Absetzen durchlesen musste. Das Buch hat mich relativ verstört zurückgelassen – obwohl ich viel Vorwissen mitgebracht habe. Aber hier noch einmal so glasklar vorgeführt zu bekommen, in was für einer sich radikalisierenden Zeit wir aktuell leben und wie gefährlich deshalb die Möglichkeiten von KI, virtueller Realität und Deepfakes sind: Das lässt einen schon heftig gegen die Wand des gläsernen Menschen rennen.
Ein Must-Read, ein absoluter Volltreffer.
Und noch einmal viel Nachdenken darüber, welche Inhalte wir mit der Welt auf Social Media teilen sollten. Nicht wegschauen, hinschauen.

Bewertung vom 19.06.2024
Konstanze, Breitebner

Tod auf der Unterbühne


schlecht

Leider kein Kassenschlager

Auf „Tod auf der Unterbühne“, ein Sommertheater-Krimi von Konstanze Breitebner, erschienen 2024 im Servus Verlag, hatte ich mich als selbst Theaterschaffende wirklich sehr gefreut. Konstanze Breitebner ist Schauspielerin und Drehbuchautorin - und somit natürlich absolut vom Fach. Nun schreibt sie ihr Krimidebut. Wie oft hatte sie wohl schon Gelüste, einen Regisseur umzubringen? (Und aus der Branche raus betrachtet: Das wäre sehr verständlich!)

Um mit den positiven Faktoren anzufangen: Das Buch kommt in einer Knaller-Optik, auf dem Cover ein eher „klassisches“ Theaterbühnenbild in Schwarzweiß hinschraffiert, dazu dann schreiend rote Krimifarbe in Schrift, Innencover und leuchtendem Farbschnitt. Nicht zu vergessen die putzige kleine Ratte unten links, die für aufmerksame Leser:innen einen kleinen Spoilerfaktor beinhaltet. Es hätte alles so schön sein können.

Der Basisplot ist schnell umrissen: Bei der Generalprobe des Sommernachtstraums einer Sommertheaterinszenierung im schönen Österreich nahe Wien liegt der Regisseur plötzlich tot auf der Unterbühne. Das gesamte Team steht im Verdacht, Hand angelegt zu haben, und die junge und ehrgeizige Kriminalpolizistin Antonia Ranik macht sich auf Spurensuche. Das verbunden mit viel Theaterflair hätte für mich ein Kassenschlager werden können, wenn nicht... Ja, wenn nicht die Autorin eigentlich vor allem ihr Theaterwissen unter die Leser:innen bringen wollte, und das in wirklich endlosen Erklärungen jedes Theaterberufes, jedes Fachbegriffes, ja sogar Peter Brooks „Der leere Raum“ kann sie nicht auslassen – und lässt dabei den Plot vollkommen vor sich hindümpeln. Die Sprache ist hölzern und, es tut mir leid, wirklich langweilig und unelegant. Kein Klischee wird ausgelassen. Und selbst die an den Haaren herbei gezogene Romance lässt Breitebner im Jahr 2024 in ein Dornröschen-Phänomen münden – das macht mich dann doch sehr fassungslos, insbesondere, da sexuelle Nötigung und Übergriffe in Theaterbetrieben seit Jahren Thema sind. Schön, dass metoo erwähnt wird, verstanden ist es nicht: Breitebner meint diesen Moment in ihrem Buch ernsthaft romantisch und problematisiert gar nicht. Schlimm.

Das Drehbuchschreiben merkt man ihr an, die dialogischen Passagen sind durchaus geglückt, vor allem, wenn sie sich in die Mundart begibt. Doch das, was ein Roman dringend noch dazu braucht, nämlich gute, im Krimibereich spannungsgeladene Prosa, das fehlt komplett. Nachdem die Handlung über fast 300 Seiten hingedümpelt ist, gönnt Breitebner uns on top noch ein retardierendes Moment – so gehört es sich für die klassische Tragödie, nur liegt die in diesem Fall leider nicht in der Qualität des Dramas, sondern nur im Schreibakt selbst. Die Figuren sind eindimensional, das Ende ist vorhersehbar. Aber immerhin sind nun alle Fachbegriffe des Theaters erläutert, wenn auch nicht sehr unterhaltsam. Vielleicht bleibt Drehbuchschreiben doch die bessere Option.

Bewertung vom 16.06.2024
Niel, Colin

Darwyne


sehr gut

Zivilisation als Fessel

„Darwyne“, der neue Thriller von Colin Niel, kommt in einer großartigen Aufmachung, das düstere Cover in Grünschwarztönen, Bäume, Amazonaswald und viele Wurzeln, die in 3D-Haptik mit einer glänzenden, rauen Extraschicht versehen sind, darin ein Leguan versteckt, den man erst auf den zweiten Blick entdeckt, exquisites Spiel mit Licht und Schatten. Ein Klappentext, der endlich mal wieder nicht zu viel verrät, sondern genau im richtigen Maß neugierig macht. Colin Niel selbst ein vielgelobter und mehrfach preisgekrönter Thrillerschreiber, der schon zuvor zwei sehr besondere Thriller vorlegte. Da sind die Erwartungen hoch.

Darwyne, und mit Sicherheit erinnert der Name nicht zufällig an Darwin und das Survival of the Fittest, ist ein 10-jähriger Junge, der im Slum Bois Sec allein mit seiner Mutter am Rande des Amazonaswaldes lebt. Er kam mit einer Fehlstellung seiner Füße auf die Welt und auch sonst offenbart sich im Verlauf des Thrillers so manche Fehlstellung – in seinem Leben. Die Mutter hat gerade wieder einen neuen Lover, „Stiefvater Nummer 8“. All seine Vorgänger sind ebenso spurlos verschwunden, wie sie zuvor plötzlich in Darwynes Leben aufgetaucht sind. Das Leben im Slum ist hart und immer wieder für Darwyne von Gewalt geprägt, doch je weiter der Thriller voranschreitet, umso klarer wird, dass nicht die augenscheinliche Gewalt das wirkliche Problem ist.

Niel schreibt dicht und beklemmend, atmosphärisch stark und mit vielen Details, die einen die Menschen, die Hitze, den Dreck und die Kargheit des Lebens physisch erleben lassen. Je mehr die Handlung sich entwickelt, umso tiefer geraten wir in einen Knoten, der den Wurzeln auf dem Cover ähnelt und immer mehr die Luft nimmt. Darwyne ist ein Ausnahmekind, eine Inselbegabung, so unfähig er ist, im Alltagsleben von Slum, Familie und Schule zurechtzukommen, so sehr kommt er im Wald ins Leben. Hier verwandelt er sich in ein vollkommen anderes Wesen, perfekt angepasst an sein Habitat. Ich will nichts von der Handlung vorwegnehmen, gesagt werden kann aber, dass ich lange nichts so Grausames gelesen habe – und hier reden wir überhaupt nicht über Splatter oder explizite Szenen, die Grausamkeit entsteht ganz aus dem tiefsten Abgrund der menschlichen Psyche heraus. Die Genialität von Niel besteht darin, dass all das Unvorstellbare eben doch vorstellbar ist. Weshalb mich Darwyne nicht mehr losgelassen hat, sowohl die Figur als auch der Thriller, den ich in einem Rutsch gelesen habe.

Punktabzug gibt es leider dennoch, das Finale basiert auf einem Handlungsschritt, der aus dem Verhalten der Figuren zuvor einfach komplett unlogisch ist. In keiner möglichen Welt würden sie, so wie sie von Niel konstruiert sind, so handeln. Auch wenn es nachvollziehbar ist, warum sie für den Plot so agieren, hätte hier ein besserer Anlass geschaffen werden müssen.

Insgesamt liegt hier aber ein sehr besonderer Thriller vor, ganz ab vom Mainstream, mit tollen Figuren, einem Kind, dass mir noch lange nachgehen wird und einer Story, die einem gerade auch emotional alles zusammenzieht, atmosphärisch dicht und sprachlich sehr gelungen. Ein rundum beeindruckendes Leseerlebnis.

Bewertung vom 15.06.2024
Mahloudji, Sanam

Die Perserinnen


sehr gut

Schonungsloses und ehrliches Bild von Exil und Iran

„Die Perserinnen“, der erste Roman von Sanam Mahloudji, ist ein Buch, das in vielen Teilen so reich ist, wie die Jahrtausende alte Kultur des Iran. Ein Buch, gewidmet den vielen Frauen, die trotz der immer wieder aufkommenden Revolutions- und Neuerungsbewegungen im Iran noch immer ihre Stimme nur bedroht laut werden lassen können und zum Schweigen gebracht werden. Ein Buch, dass schonungslos und ehrlich ist und viele Skurrilitäten nicht verschweigt. Ein Buch, das ganz nebenbei zeigt, wie auch die Männer Opfer eines Staates werden, der autokratisch regiert wird. Ein Buch, dass den ganzen Wahnsinn unserer Zeit fasst und die richtigen Fragen stellt – und das alles in einer Familiengeschichte, die schräg, wild, oft zynisch, immer komisch und vor allem komplex, begeisternd und voller Liebe zu einem Haufen von Verrückten ist. Dieses Wort ist hier so liebevoll gemeint, wie die Autorin ihre Figuren schildert, die alle nicht gerade konventionell ticken – vielleicht weil das der einzig bleibende Ausweg in eine zumindest empfundene Freiheit ist.
Die Perserinnen, das sind Shirin, Sima, Elizabeth, Bita und Niaz, drei davon sind im Exil in den USA hängengeblieben, ein Exil, dass statt geplanter Monate Jahre andauert und nicht enden wird, zwei harren im Iran aus, nicht unbedingt fest entschieden. Alle schwimmen in ihrem Leben und ihnen gemein ist, dass ihre Position zwischen Heimatliebe und Hass letztlich nicht zu finden ist.
Mahloudji findet viele Worte, Szenen und Bilder für den Konflikt zwischen westlichem Leben und Tradition, an der mensch aber eigentlich doch nicht mehr festhalten darf, weil das Regime nicht tragbar ist. Manchmal zu viele Worte, ein bisschen mehr Kompaktheit hätte dem Roman gut getan. Mahloudji scheut sich dabei nicht, auch die Subkultur zu erzählen und das nicht-integrierende Verhalten im neuen Land, die Figuren sind nicht immer sympathisch, sie haben ihre Fehler und davon einige. Und das ist gut so! Denn hier wird ein ehrliches Bild von Exil und Iran gezeichnet, ein Vielfältiges, eines, dass Gutmenschentum ebenso vorführt wie die Tatsache, dass auch Opfer eines Regimes nicht immer nur nett sind – sie sind Menschen, wie wir alle. Das Buch bietet ein reiches Panorama eingebettet in eine Geschichte von Verhinderungen und beleuchtet ganz nebenbei viele Aspekte der Geschichte des Irans. Immer lebendig, immer lebenszugewandt gibt Mahloudji so den Frauen ihre Stimme und zeigt ihre Stärke. Sie finden immer einen Weg zu leben – und wo nicht mehr, da entscheiden sie selbst, wann und wie sie gehen wollen. Und dennoch spüren sie, wie sehr sie aus dem Verlust leben. „Was für eine Idiotin ich war, wie ich hier versuchte, eine bunte Schleife um einen Haufen Müll zu binden.“, schreibt Mahloudji.
Was wir auch sehen ist eine USA, die alles andere als offene Arme für Einwander:innen hat. Mahloudji macht sichtbar, dass in der Folge auch die Exilant:innen sich verschließen in ihrer Community. Diese Dynamik ist eine, die wir uns auch in Deutschland durchaus anziehen können. Der Prozess ist universell. Wann kann es endlich eine Öffnung geben? Die Autorin äußert durch Niaz: „Ich weiß, es hängt alles von den Frauen ab. Werden sie bereit sein?“ – aber hängt es nicht von den Männern ab? Wer muss sich bewegen, die Töchter oder die Söhne?
Ein starkes Buch, ein ehrliches Buch, eine Leseempfehlung für jeden Menschen, der sich mit der Situation im Iran beschäftigen möchte, ohne ein Geschichtsbuch zu lesen.

Bewertung vom 02.06.2024
Gebhardt, Miriam

Die kurze Stunde der Frauen


schlecht

Aufreger des Jahres

Das Buch „Die kurze Stunde der Frauen“ von Miriam Gebhardt hat schon jetzt, im Juni 2024, große Chancen bei mir, den Pokal „Aufreger des Jahres“ konkurrenzlos abzuräumen. Als historische Analyse getarnt, schreibt Gebhardt uns hier einen extrem tendenziösen, thematisch willkürlich angelegten Langstreckenessay, der bei der lesenden Person die Wut mit jeder Seite mehr steigen ließ. Gebhardt begeht dabei den Grundlagenfehler, weiblich gelesene Personen, denen sie zu Recht abspricht, emanzipiert zu sein oder überhaupt im Zeitalter der Emanzipation aktivistisch gewesen zu sein, unter der Lupe der emanzipierten und privilegierten Frau zu betrachten und mit diesen Maßstäben zu bewerten. Kurz und knapp gesagt: Merkste selber, oder? Dieses Unterfangen kann ja nur schief gehen. Ihre Grundprämisse, mit der sie den Mythos der „Trümmerfrau“ hinterfragen und aufheben möchte, ist dabei, dass eben diese Frauen ihre Aufgaben in der Nachkriegszeit ja nicht freiwillig, bewusst und aktiv absichtlich übernommen hätten, sondern vielmehr vollkommen erschöpft und traumatisiert aus der Notwendigkeit handelnd tätig wurden. So weit so partiell einleuchtend – nur schmälert das die Leistung dieser Generation ja nicht. Gebhardt hebt hervor, dass die Frauen dann auch zunehmend schnell wieder in die zweite Reihe zurückgetreten seien, sich also gar nichts geändert hätte. Nun, das ist natürlich sehr verwunderlich, dass sich eine seit Jahrhunderten patriarchal geprägte Gesellschaft nicht innerhalb von drei Jahren komplett neu strukturiert hat und ihre Wert- und Moralvorstellungen komplett neu entwickelt hat, wo das doch obendrein in allen Staaten drumherum – ach ja, genauso nicht passiert ist.
Grundsätzlich ist der Ansatz, mehr Realität zeigen zu wollen, ein ehrenwerter. Nur warum muss zeitgleich eine ganze Generation von Frauen nicht entmystifiziert, sondern herabgewertet werden? Gebhardt schaut durchgehend durch den Filter einer These, die sie unbedingt beweisen möchte und wählt ihre Argumente zielgenau nur danach aus. Vieles andere lässt sie dann einfach weg. So geht Wissenschaft – nicht. Einer meiner Favoriten hier die Behauptung, dass es im Zuge von Kapitulation und Nachkriegszeit zu so viel sexualisierter Gewalt kam „wie sie sich bis heute und auch anderswo nicht wiederholt hat“. Die Datenbasis hier: Ein Schätzwert von Frau Gebhardt. Quelle: Eines ihrer anderen Bücher, der genaue Abschnitt wird inhaltlich nicht mitgeliefert. Chapeau! Und auch hier gilt: Niemand will kleinreden, dass diese Zeit für Frauen eine höchstgefährliche und traumatisierende war. Aber wenn wir in die vielen Kriege der Neuzeit schauen, mit beispielsweise Massenvergewaltigungslagern im Bosnienkrieg, wenn wir in Europa bleiben wollen, so ist diese These doch sehr fraglich. Sowieso wird sie nur herangezogen, damit Gebhardt zeigen kann, dass die Frau der Nachkriegszeit eben keine Heldin war, sondern eine traumatisierte Person, die nur ihre Überlebenskräfte angezapft hat. Das Kapitel über Gewalt zeigt dabei wunderbar die manipulative Struktur des Buches auf: Gebhardt schreibt darin erst einmal vier Seiten lang fröhlich los über diese Gewalt, um dann mitzuteilen, dass dieses Buch nicht der Ort sei, um über Massenvergewaltigungen zu schreiben – und danach zwölf weitere Seiten bei dem Thema zu bleiben. Die Informationen als solche sind nicht verkehrt, die Zusammenstellung ist jedoch in ihrer Auswahl extrem tendenziös, die Schlussfolgerungen reine Meinung.
Gerne teilt Gebhardt auch Offensichtliches mit. Es gab aufrechte Nazis auch unter Frauen. Es gab Frauen mit Machthunger. Es gab Frauen, die sich am Nationalsozialismus bereichert haben. Wow!!! Das sind brandneue, bahnbrechende Erkenntnisse, gut, dass es endlich mal jemensch schreibt. Worüber sie gar nichts schreibt, nicht ein Wort in dem entsprechenden Kapitel: Wie viele Frauen im Widerstand tätig waren. Muss hier noch mehr gesagt werden?
Im weiteren Verlauf des Buches häufen sich Ungenauigkeiten, falsche Zahlen, Ungereimtheiten, Widersprüche (in Biographien), die Quellenarbeit bleibt durchgehend schlampig, wir wandern immer weiter Richtung Neuzeit und auch die Themenwahl der einzelnen Kapitel geht immer mehr am Hauptthema vorbei, on top ist Vieles lähmend redundant. Vielleicht hätte die Autorin besser ein Buch geschrieben „Frauen vom Kriegsende bis heute“ – oder eine kleinere Seitenzahl aushandeln sollen. Als habilitierte (!) Historikerin ist ihre Methodik einfach erschreckend, nichts gegen Populärwissenschaft, aber sauber arbeiten und schreiben: Darf mensch schon.
Positiv hervorzuheben ist das gut gewählte Bildmaterial, welches einen gelungenen Einblick in die damalige Zeit gibt und sinnvoll eingebettet ist.
Fazit: Idee gut, Ausführung: Ein einziges Ärgernis. Schade um das Papier und die Zeit.

Bewertung vom 02.06.2024
Ohde, Deniz

Ich stelle mich schlafend


ausgezeichnet

Niemand will zu einem Passfoto werden

„Ich stelle mich schlafend“ von Deniz Ohde, erschienen 2024 im Suhrkamp Verlag, ist ein Buch, das mit leiser Stimme eindringlich das Aufwachen einer Gesellschaft einfordert. Auf dem Schutzumschlag in einer Pfütze auf Asphalt, die wahrscheinlich bald verschwinden wird, eine Häuserfassade in Ockertönen – die Erinnerung an ein Leben, das einfach weggerissen werden kann und einem dennoch ein Leben lang den Spiegel vorhält, wie die Spiegelung in der Pfütze. Das Gefühl von Brache, Abrisshalde, welches das erste Kapitel vorgibt, zieht sich durch das ganze Buch, ebenso die Schwere von Asphalt und Beton, die auf dem geschilderten Leben lastet und einfach nicht weggelebt werden kann. In verschiedenen Zeitebenen taumeln wir, schleichen wir, rennen wir, frieren wir ein durch das Leben von Yasemin, einer Frau, die in einer der unendlichen möglichen Varianten erlebt, was noch immer alle Frauen erleben: Ein Aufwachsen und Dasein in der Präsenz von männlicher Gewalt, dem Frauen noch immer qua Sozialisation und fehlender gesellschaftlicher Solidarität viel zu wenig entgegenzusetzen haben.
Ohde findet durchweg starke und schöne Sprachbilder in großen Mengen in diesem Buch. Die Charaktere werden anfangs zunächst bewusst rätselhaft, wie Schemen eingeführt und sind doch schon sehr gut erahnbar, auch ihre Beziehung zueinander deutet sich gut an. Klar wird: Hier ist etwas vorgefallen, und es war nicht gut, es war toxisch – und es beschäftigt noch lange. Im weiteren Verlauf dringen wir lesend langsam tiefer in die Schichten, und die Wahrheit des Geschehens liegt vor allem zwischen den Zeilen und den Gedanken. Ohde schreibt unglaublich dicht, ich konnte kaum Luft holen beim Lesen, jeder Satz ist ein Kosmos und löst Begeisterung aus – und zeitgleich hält sie die Spannung, was nun geschehen wird, bis zum Ende hoch. Über allem schwebt permanent ein Unheil, das wabert über den Menschen, die Stimmung ist durchweg wie vor einem Gewitter, und die erlösende Sintflut will sich nicht einstellen. Es ist erschreckend zu sehen, wie wenig sich Yasemin erlaubt zu leben, dauerhaft und in einer inneren Leere kreist. Sie wirkt wie ein total traumatisierter Mensch, der sich einfach kein Glück erlaubt und sich immer, einfach immer schuldig fühlt.
Der Erzähldruck lässt im letzten Drittel des Buches etwas nach, weil Ohde dringend noch politischen Inhalt unterbringen möchte, aber nicht immer zwingende Erzählanlässe dafür findet, das wirkt manchmal etwas reingepropft. Was sie erzählen will, ist aber wichtig, denn es ist das, was ALLE Frauen kennen: Wie sehr wir in einer grundsätzlichen Angst leben, immer, wie sehr wir als schuldig angesehen werden, immer, wie Täter-Opfer-Umkehr systematisch geschieht, immer, wie oft wir uns entschuldigen, immer. Ich habe kurz davor gerade „Sorry Not Sorry“ von Anika Landsteiner gelesen und kann das in dem Kontext nur jede:m ans Herz legen. „Niemand wollte zu einem Passfoto werden, es war nichts, was man selbst in der Hand hatte.“, ist ein zentraler Satz, den Yasemin denkt, als sie über Vermisstenanzeigen sinniert. Was man dagegen in der Hand hat, ist, ein Leben in der Vermeidung zu leben, wie wir es automatisiert ständig tun, ohne das hinterfragen zu können, weil wir uns nur so schützen können – und das bringen wir auch unseren Töchtern von klein auf bei. Wir kennen es alle: Erzieht nicht eure Töchter, erzieht eure Söhne – dieses Buch ist ein starkes Plädoyer dafür. Und es ist so schlimm, dass sich noch immer so wenig daran tut. Yase hat also überlebt, wie wir schon am Anfang des Buches erfahren, durch Glück, durch Zufall. Und ich ertappe mich selbst dabei, ihr Mitschuld an vielem zu geben, was sie erlebt hat, weil sie so konstant an allen Zeichen vorbeischaut, sich so einfangen lässt, sich so sehr selbst die Grube gräbt. Aber liegt dem allen nicht eine Gesellschaft zugrunde, die Frauen das von Anfang an tun lässt, die sie genau dahin erzieht, die sie noch immer in eine dauerhafte Scham zwingt? Sprachlich bleibt das Buch bis zum Schluss sehr stark. Das angedeutete Happy End hätte ich so nicht gebraucht. Spannender war es, wie Yasemin zunehmend in ihren Körper zurückfindet, der auf so vielen Ebenen versehrt ist. Da sehe ich eher den Weg – wir sollten uns nicht mehr retten lassen. Wir können selbst aufstehen und gehen.
Dieses Buch gewinnt vor allem durch all das, was nicht gesagt ist, es ist ein wortkarges Buch, trotz all der Worte in ihm, und dieses Schweigen bringt die Lesenden emotional fast um. Ein starkes Buch, das ich in einem Rutsch verschlungen habe. Wir dürfen uns nicht mehr schlafend stellen. Unser Frauenleben gehört uns.

Bewertung vom 01.06.2024
Indriðason, Arnaldur

Der König und der Uhrmacher


sehr gut

Indridason kann auch historisch!

„Der König und der Uhrmacher“ von Arnaldur Indridason, erschienen bei Bastei Lübbe, ist ein Buch, das zwischen den Welten reist – einerseits ganz real zwischen Dänemark und Island, andererseits ideell, indem der Roman sich souverän auf der Grenze verschiedener Genres seinen Weg sucht. Indridason kennt mensch primär von seinen einzigartigen Krimis – mit diesem neuen Werk beweist er, dass er auch einen historischen Roman unterhaltsam und fesselnd zu schreiben vermag. Sein Erstling im historischen Genre kommt in einem schön bebilderten Schutzumschlag: Einfach ästhetisch mit dem angedeuteten Ziffernblatt und dem Himmel wie Eis, davor der Palast. Dazu ein schönes atmosphärisches Bild im Innencover, wobei es schade ist, dass es zweimal dasselbe ist. Das orange Hardtop in Leinenoptik greift das Orange der Schrift im Cover auf, ebenso das Lesebändchen – und Lesebändchen lieben wir alle, oder? Optik also 10/10.

In der Handlung trifft der islandstämmige Uhrmacher Jón Sívertsen im Königspalast unverhofft auf König Christian VII, und während Jón, auch eher durch Zufall, den Versuch unternimmt, eine einzigartige astronomische Uhr instand zu setzen, entwickelt sich zwischen diesen zwei Charakteren eine immer intensivere Beziehung. Vom König vorangetrieben erzählt der Uhrmacher von seinem ehemaligen Leben auf Island und den harten Bedingungen, die dort – unter der Macht der dänischen Krone und Christians Vater – herrschten. So entfaltet sich immer mehr in schnellen Wechseln eine Island- und eine Dänemarkhandlung, erst spät im Buch wird offenbar, wie diese zusammenhängen und warum König Christian sich so brennend für Jóns Leben interessiert. Die Beziehung zwischen beiden ist von einigen Ups and Downs und wilden Verwicklungen geprägt. Indridason zeichnet die Charaktere wunderbar sperrig, wie alte Baumwurzeln kommen sie einem vor, und gegensätzlich, der König ist sehr sprunghaft und emotional, Jón der Uhrmacher formt mit seiner Vorsicht und Bedächtigkeit ein gutes Gegenstück. Es ist berührend, mit wie viel Eifer er versucht, die alte Uhr zu restaurieren, obwohl sich niemand für sie interessiert. Eine gute Parabel auf das Leben vielleicht, viele Dinge, die niemand sieht, erhalten Wert, wenn mensch sich um sie kümmert. Auch dem König tut der Kontakt richtig gut. Diese Menschen gehen wie die gesamte Handlung auf reale historische Figuren und ein Stück Zeitgeschichte zurück, es macht viel Freude, sich damit nebenher oder nach dem Buch zu beschäftigen, Indridasons lebendige Phantasie hat sehr neugierig gemacht. Der Schreibstil zwischen den Handlungen variiert zunächst deutlich, sehr märchenhaft in der Palasthandlung und eher wie ein historischer Roman oder ein Bericht in der Islandhandlung – im weiteren Verlauf nähern sich die beiden Ebenen stilistisch immer mehr an. Das Buch lässt sich sehr entspannt und dabei spannend lesen, Indridasons besonderer Stil zeigt sich auch hier, insbesondere findet er wirklich beeindruckend gute Übergänge und Sprachbilder, die die Gegensätze der Welten sehr aktiv unterstreichen. Und auch philosophische Fragen kommen nicht zu kurz. Was ist eigentlich Zeit und wie ist sie entstanden? Haben wir Angst vor dem Tod oder Sehnsucht nach dem Leben? Was ist Wahrheit – und wie geht man mit ihr um? Und wer hat hat mehr Recht – die Ordnung oder die Menschlichkeit?

Insbesondere das letzte Drittel des Romans hat es emotional ganz schön in sich und ist nichts für schwache Nerven. Indridason zeichnet ein sehr nüchtern-wahrhaftiges Bild einer Zeit, in der der einzelne Mensch wenig galt und die Herrschenden Entscheidungen aus der Distanz trafen. Vielleicht insofern auch ein gutes Buch, heute, um sich zu erinnern, dass Demokratie ein kostbares Gut ist. Am Ende schließt sich der Kreis des Romans, indem König Christian genauso wie am Anfang, in exakt gleicher Manier, wieder in der Werkstatt auftaucht. Dass dann fast die Uhr hingerichtet wird und nur die Liebe dieses Schicksal abwenden kann – das ist eine schöne Message. Gut, dass es die Liebe gibt in der Welt! Möge sie uns möglichst oft zu den richtigen Entscheidungen führen und weg von den falschen. Damit die Vergangenheit uns nur an Gutes erinnert. Und es möglichst wenig zu bereuen gibt – das könnte eine mögliche Lehre sein, die dieser Roman uns mitgibt.

Insgesamt hat das Buch mir sehr gut gefallen, toll zu sehen, dass Indridason auch historisch kann! Was den fünften Stern verhindert, ist das Erzähltempo und die zunehmenden Erzähldopplungen in der zweiten Hälfte des Buches, hier findet der Autor keine sinnvollen Erzählanlässe mehr, um die Handlungen direkt zu verbinden, was auf Dauer etwas ermüdend war. Aber dennoch eine klare Leseempfehlung, allein schon, um die Bekanntschaft mit König Christian VII zu machen, lohnt sich diese Lesereise.

Bewertung vom 25.05.2024
Odijk, Patrick van

Der falsche Vermeer


sehr gut

Ein Kunstkrimi, der auch vor den großen Fragen nicht Halt macht

„Der falsche Vermeer“ von Patrick van Odijk entführt uns in die Niederlande zur Nachkriegszeit und erzählt uns von einem der größten Kunstskandale dieser Zeit – soweit die Oberfläche. Das Buch kommt in einem festen weißen Einband und einem sehr schön gestalteten Schutzumschlag. Das Motiv zeigt einen Ausschnitt aus Vermeers wohl bekanntestem Bild "Das Mädchen mit dem Perlenohrring" und ohne dass die Perle zu sehen ist, wird es wohl jede:r sofort erkennen. Dazu ein Lesebändchen, das das Vermeergelb aufgreift und wirklich schönes Papier, eine wunderschöne Gestaltung, die das Leseerlebnis auch haptisch zu einem Highlight macht.
Im Innenleben des Buches kommt die junge Reporterin Meg (Margriet) van Hettema, die während des zweiten Weltkriegs im Widerstand schreibend aktiv war, dem Kunstfälscher Jan van Aelst auf die Spur und wittert ihre Chance, mit einem Scoop der Bedeutungslosigkeit ihres journalistischen Daseins zu entkommen, in dem sie von ihrem Chefredakteur bevorzugt mit „Frauenthemen“ bedacht wird. Stattdessen nun Jan van Aelst, ein schillernder Künstler, den sie noch aus der Kriegszeit kennt und der viele Angriffsflächen bietet, einerseits der Kollaboration mit den Nazis beschuldigt, andererseits entpuppt sich immer mehr, dass er womöglich in der Kriegszeit mehrere Vermeers gefälscht hat, womit er nicht nur der Kunstwelt im Allgemeinen, sondern sogar Göring ein Schnippchen geschlagen hat. Die am Anfang des Buches zunächst fließenden Zeitebenen sind eine kleine Herausforderung beim Lesen, doch je weiter das Buch fortschreitet, desto mehr findet sich auch die Orientierung. Sehr lebendig gelingt van Odijk die Schilderung der Kriegs- und Nachkriegszeit, vor dem inneren Auge laufen sofort Dokumentarfilmbilder ab. Und während der Fall sich immer weiter entwickelt und wir immer tiefer in die Kunstwelt und die gut gezeichneten Charaktere eintauchen, lernen wir zeitgleich wie nebenbei viele Details über diese Zeit und ihre Schicksale – und über den Kunstmarkt und seine Eitelkeiten. Das ist gut gemacht und über weite Strecken spannend und dynamisch geschrieben, verliert sich aber zwischendurch auch immer mal in Weitschweifigkeiten, und das Mittel des Berichts wird dann doch etwas überstrapaziert, hier wäre mehr direkte Handlung ein Gewinn gewesen.
Über die komplexe, auf der realen Geschichte des Han van Meegeren beruhende Handlung soll nicht zu viel verraten werden, es gelingt van Odijk aber in jedem Fall durch multiple Plottwists bei einer scheinbar klaren Ausganglage immer wieder zu überraschen. Dabei bettet er indirekt viele übergeordnete Fragen ein: Darf Kunst unpolitisch sein? Was unterscheidet Kunst von Kunsthandwerk? Kann eine gute Tat eine schlechte aufwiegen? Und können Straftaten gegeneinander ausgespielt werden? Keine Sorge, diese Fragen sind so handlungsimmanent, dass sie den Lesenden nicht entgegenspringen. Hier wird kein Essay geschrieben – und doch hat der Inhalt unter der Oberfläche immer wieder essayistisches Gewicht. Und ist es ein Zufall, dass wir es hier mit einem verhinderten Künstler auf dem Höhepunkt seiner Hybris zu tun haben, der in der Kriegszeit alles getan hat, um der Welt zu beweisen, dass er Geltung verdient hätte – und dass auch Hitler auf der Kunstakademie abgelehnt wurde? Vielleicht ist diese Parallele zu gewagt, dennoch schwang sie immer im Kopf mit beim Lesen, und das hat damit zu tun, dass das Buch unterschwellig den Geist für die großen Themen öffnet, während auf der Oberfläche ein Kunstkrimi erzählt wird, mit vielen Details und tollen Ideen.
Es lohnt sich also, einen Blick in diese verrückte Welt zu riskieren und auf die Reise zu gehen. Und vielleicht mal auf dem eigenen Dachboden nachzuschauen, welche Schätze dort zu finden sind. Egal ob echt oder Replik – nicht nur die Schönheit, auch die Kunst liegt vielleicht doch im Auge der betrachtenden Person.

Bewertung vom 21.05.2024
Landsteiner, Anika

Sorry not sorry


ausgezeichnet

Pflicht für alle

„SORRY NOT SORRY“ von Anika Landsteiner, erschienen bei Rowohlt Polaris, ist eines dieser Bücher, in denen mensch einfach viel zu viele Sätze anstreichen möchte. Es geht um Scham, es geht spezifischer um die Scham von weiblich gelesenen Menschen und eigentlich geht es im Kern vor allem auch um die Frage: Warum schweigen wir? Immernoch?
Das Buch kommt mit einem lärmenden Cover in knalligem Grün und Lila aus dem Bücherregal entgegengesprungen – und das ist gut so. Denn viel zu lange waren weiblich gelesene Menschen und ihre patriarchal gemachte Scham zum Stillsein verdonnert. Um in die Stimme zu kommen und laut zu werden, ist dieses Buch ein wichtiger Beitrag. Denn es muss aufhören, dass weiblich gelesene Menschen sich schämen für Dinge, die andere ihnen antun. Eine Schlüsselstelle, gleich am Anfang des Buches: „Denn ich dachte lange Zeit, dass Scham diejenigen empfinden, denen etwas Peinliches passiert ist. Die sich fehlverhalten haben und daraufhin entblößt werden. Dieser Denkweise nach müssten sich die Täter schämen, nicht jedoch das Opfer.“ (Seite 10) Fun Fact: Dass hier nicht gegendert wird, ist kein Zufall, denn im Verlauf des Buches wird immer klarer: Die Scham ist ein Werkzeug patriarchaler Unterdrückung und kapitalistischer (oder religiöser), männlich regierter Systeme. Landsteiner analysiert die Scham anhand von vielen unterschiedlichen Facetten und unterteilt grundlegend erst einmal in Körperscham, Identitätsscham und Statusscham. Die Freunde der Scham sind Geheimhaltung, Schweigen und Verurteilung. Ihr großer Feind ist Empathie. So weit, so universell. Nicht universell ist die schon im frühkindlichen Alter geschehende Sexualisierung des weiblichen Körpers, die von Kultur und Sozialisierung anerzogenen Gründe für die weibliche Scham und die vielen falschen Glaubenssätze, die dazu führen, dass weiblich gelesene Menschen sich unter anderem nahezu manisch entschuldigen und Fehler zumeist immer erst einmal bei sich suchen. Es ist erschütternd, wie viele Themen und Belege Landsteiner innerhalb dieses, sehr gut und anschaulich zu lesenden und umfassend recherchierten, Buches findet. Körper, Geld und Wertigkeit, Single-Sein und Freiheit, Fernsehen und Kultur, Schwangerschaft, Altern, Periode, Heiraten, generell Paarmodelle, Gewalt – die Liste nimmt kein Ende. Und am Ende steht die Wut, die keine Auflösung findet.
All das ist so zwingend argumentiert und nur an so wenigen Punkten in Frage zu stellen, dass dieses Buch eine Pflichtlektüre für alle Menschen sein sollte. Ja, alle. Denn Sexismus findet überall im Denken statt, Rollenbilder sind in jedem Kopf vorhanden. Auch im weiblichen. Dass selbst Landsteiner davon nicht frei ist, ist einer der wenigen Kritikpunkte am Buch. Auch sie kommt nicht daran vorbei, an vielen Stellen doch nicht ganz frei davon zu sein, eine Partner:innenschaft als heimliches Lebensziel zu haben und dass sie, auch wenn sie Argumente dafür hat, nicht noch weitere marginalisierte Gruppen in ihrem Buch betrachtet, ist für mich ein Manko, das leicht behebbar gewesen wäre, wenn mensch sich mit anderen Autor:innen zusammengetan hätte für ein zusätzliches Kapitel. Guter Feminismus ist multiperspektivisch, darum komme ich nicht daran vorbei, einen halben Stern abzuziehen. Aber geschenkt! Was ist schon ein halber Stern angesichts dieses mutmachenden Buches. Welt, zieh dich an. Die Zeit des Schweigens ist vorbei. Anika Landsteiner spricht mir aus der Seele, wenn sie sagt: „Gegen das System muss angeschrien werden. Meine Wut ist weiblich.“ Bitte alle alle alle lesen.

Bewertung vom 05.05.2024
Cai mogu de sima gonggong

Dao - Der Weg


ausgezeichnet

Ein Manuha der Extraklasse

„Dao - Der Weg“ der chinesischen Tuschemalerin Cai Mogu de Sima Gonggong ist ein Manuha der Extraklasse. Reden wir erst einmal über die Qualität der Optik! DIN A4 Format, schweres Papier, Glanzoptik, komplett zweisprachig, wirkt nahezu wie ein Kunstband, ich bin absolut begeistert, einfach so wertig ausgestattet! Die Zeichnungen und Malereien sind düster in dunklen und Sepia-Farben gehalten, dabei ist jedes einzelne Bild ein Kunstwerk für sich, ich könnte mir sofort vorstellen, diese Bilder in groß an die Wand zu hängen, einen ganzen Palast voll damit, so viel Kunst steckt in diesem Band und in jedem einzelnen Bild, ich bin wirklich beeindruckt. Wie viel Zeit muss da drin stecken. So etwas hatte ich so noch nicht in den Händen. Das Buch richtet sich an Erwachsene und Jugendliche, was zu den darin enthaltenen Märchen gut passt, denn diese sind zugegeben durchaus grausam und gruselig, ein Effekt, der sich durch die perfekte zeichnerische Umsetzung noch steigert.
Aus der deutschen Perspektive heraus betrachtet, ist es spannend, wie viel Assoziationen und Ähnlichkeit mit gängigen Märchen und Erzählungen unserer Kultur vorhanden sind, der Struwelpeter, Wilhelm Busch, Märchen wie Rotkäppchen, Rumpelstilzchen, Hänsel und Gretel und viele mehr drängen sich sofort auf. Das liegt natürlich an der Archetypischen Konstruktion von Märchen, ist hier aber besonders gut sichtbar. Inhaltlich erzählt das Buch alte Legenden und Schauergeschichten aus der Zeit der Qing-Dynastie, die den Kindern erzählt wurden, um sie zu größerem Gehorsam zu erziehen. Interessanterweise interpretiert die lesende Person die Märchen durch die Zeichnungen aber sofort auf die heutige Gesellschaft, Themen wie die Große Chinesische Hungersnot, der Brauthandel, die Ein-Kind-Politik sind sofort im Raum. Besonders großartig neben den 5 Streichen ist die Extrageschichte am Ende des Buches, die nicht umsonst Preise verliehen bekam, unfassbar toll gezeichnet und so viel Raum für die eigene Phantasie. Im hinteren Teil des Buches findet sich auch ein Extrakapitel über die Hauptfiguren: Hier erst erschließt sich mehr über „Die Feen-Fünf“ – ich hätte mir da eine andere Reihenfolge gewünscht, würde das in der deutschen Fassung dem Buch voranstellen. Hier hat mir auf jeden Fall der kulturelle Hintergrund gefehlt, der sich dann durch diese Informationen erst ergibt und ganz viel erklärt. Ich fand es sehr schön, dass es dann quasi noch ein paar Fotos aus dem Familienalbum gibt. Nicht zu vergessen die Selbstdarstellung des Autors – rasend sympathisch und große Schmunzelanfälle verursachend!
Fazit: Dieses extrem hochwertige Manuha gibt einen ganz besonderen Einblick in eine mir fremde Kultur, durch den ich viel gelernt habe und zeitgleich bestens unterhalten wurde. Und gäbe es einen Nobelpreis für Kunst, würde ich den für die einzigartigen Tuschezeichnungen unbedingt verleihen wollen.