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leukam
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Baden-Baden

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Insgesamt 93 Bewertungen
Bewertung vom 28.02.2023
Reider, Katja

Bildergeschichten zum Mitmachen: Hier kommt Finni Fuchs


ausgezeichnet

Geschichten aus dem kindlichen Alltag

Finni Fuchs ist ein aufgeweckter, liebenswerter Fuchs im Kindergartenalter. In fünf Geschichten begleiten wir ihn durch seinen Tag. Es beginnt mit dem Aufwachen am Morgen. Finn ist der Erste in der Familie, der munter ist. Mama darf noch ein bisschen weiterschlafen, während Finn und sein Papa schon mal das Frühstück richten. Im Kindergarten fällt dem kleinen Fuchs der Abschied von seinem Papa noch schwer, doch bald spielt er fröhlich mit seinen Freunden. Nach dem Einkaufen darf Finn seiner Mama beim Kuchenbacken helfen für den Besuch von Oma und Opa. Und am Abend nach der Gutenachtgeschichte fallen dem kleinen Fuchskind die Augen zu.
Mit viel Einfühlungsvermögen und einer Portion Humor werden jede Menge Episoden beschrieben, die kleinen Kindern vertraut sind. Das lädt zur Identifikation ein und zum Gespräch.
Die farbenfrohen Illustrationen sind allerliebst und voller Details zum Entdecken und Benennen. An der Mimik der Figuren lässt sich sehr gut die jeweilige Stimmungslage erkennen. Große ein- oder doppelseitige Bilder wechseln mit kleineren Bildern ab; die Textanordnung passt sich dem an. Die Sprache ist leicht verständlich, aber nicht anspruchslos. Einzelne Zwischenfragen beziehen das zuhörende Kinder mit ein und fordern von ihm Aufmerksamkeit und genaues Hinschauen.
Am Ende gibt es noch eine kleine Finn- Figur zum Herausnehmen und drei Kleidungsvariationen zum Anziehen. Allerdings ist das Papier zu dünn für kleine Kinderhände.
„ Hier kommt Fuchs“ ist ein wunderschönes Bilderbuch zum Vorlesen mit einem Protagonisten, den man gleich ins Herz schließt.

Bewertung vom 21.02.2023
Belim, Victoria

Rote Sirenen


ausgezeichnet

Zeugnis für die Widerstandskraft des ukrainischen Volkes
Victoria Belim ist in der Ukraine geboren und aufgewachsen. Mit 15 Jahren wanderte sie mit ihrer Familie in die USA aus, studierte dort Politikwissenschaften und lebt und arbeitet heute in Belgien. In ihrem Debutroman beschäftigt sie sich mit ihrer eigenen Familiengeschichte.
Als im Jahr 2014 Russland die Krim annektiert und auf dem Maidan in Kiew die Gewalt zwischen Polizisten und Demonstranten eskaliert, beschließt die Journalistin Victoria Belim im fernen Brüssel einen Besuch in der alten Heimat.
Der letzte Auslöser für ihren Entschluss war ein kurzer Vermerk im Notizbuch ihres Urgroßvaters: „ Bruder Nikodim, verschwunden in den 1930ern im Kampf für eine freie Ukraine.“ Seltsam, niemals wurde in der Familie über Nikodim gesprochen.
Die Neugierde war geweckt, Victoria Belim wollte die Wahrheit über diesen unbekannten Urgroßonkel herausfinden.
Sie reist zu ihrer Großmutter Valentina nach Bereh, einem kleinen Ort in der Nähe von Poltawa. Doch diese hält wenig davon, in der Vergangenheit herumzuwühlen. Deshalb verweigert sie ihrer Enkelin irgendwelche Auskünfte und kümmert sich stattdessen wie gewohnt um ihren großen Obst- und Gemüsegarten. Victoria hilft ihr bei der Gartenarbeit, obwohl sie wenig davon versteht. Unter der Anleitung der Großmutter lernt sie die Stämme der zahlreichen Kirschbäume zu kalken, Kartoffeln anzupflanzen und den Garten von Unkraut freizuhalten.
Dazwischen aber begibt sich die Autorin immer wieder auf die Suche nach ihrem verschwundenen Urgroßonkel. Bei ihrer Recherche trifft sie auf viele Menschen, genießt deren Gastfreundschaft und Unterstützung, doch die Hinweise sind dürftig.
Fündig wird Victoria Belim erst im Hahnenhaus in Poltawa. Die titelgebenden Sirenen schmücken dort das Eingangsportal und werden im Volksmund Hähne genannt. Dieses schöne Gebäude war für die Bewohner der Stadt ein Ort des Schreckens. Hierin war zu Sowjetzeiten der berüchtigte Geheimdienst untergebracht. „ Die Bewohner von Poltawa scherzten, das Hahnenhaus sei das höchste Gebäude der Stadt, denn selbst im Keller könne man bis nach Sibirien sehen.“ Im Keller waren die Folterkammern der Tscheka und auf dem Höhepunkt des Großen Terrors, in den Jahren von 1937 bis 1938, wurden hier massenweise Menschen unter den absurdesten Vorwürfen festgehalten, gequält, zur Deportation verurteilt oder gleich ermordet.
Heute sind hier nun die Akten der Opfer des kommunistischen Terrors archiviert und hier endlich löst sich das Rätsel um Nikodim.
Der Leser macht sich gemeinsam mit der Autorin auf die Suche nach der Vergangenheit. Dabei wird deutlich, dass die Familiengeheimnisse eng verknüpft sind mit der leidvollen Geschichte des Landes. Für viele Ukrainer ist es schmerzhaft, sich zu erinnern. Lieber wird das Vergangene verdrängt und man konzentriert sich auf die Bewältigung des Alltags. So wie es Großmutter Valentina macht. Die Arbeit im Garten schenkt ihr Ruhe und Zufriedenheit. Gleichzeitig versorgt er sie mit dem Lebensnotwendigen.
Doch Verdrängen kann keine Lösung sein. Das bekommt auch Victoria zu spüren, die ebenfalls ein familiäres Trauma verarbeiten muss.

Die Verbundenheit der Autorin mit ihrer alten Heimat und die Liebe zum Land sind auf jeder Seite spürbar.
Mit diesem Roman bekommt der Leser einen tiefen Einblick in die Seele der ukrainischen Bevölkerung, ihre Kultur und ihre Traditionen und zugleich jede Menge Informationen über die Historie dieses Landes, unabdingbar, um die aktuelle Lage besser zu verstehen .
Vor dem Hintergrund des jetzigen Krieges gewinnt das Buch eine ungeheure Bedeutung und Aktualität. Im Vor- und Nachwort geht die Autorin auf die neuen Geschehnisse ein und sie stellt dabei die berechtigte Frage, „ ob wir 2022 in diese Situation geraten wären, wenn sich die Welt 2014 mehr um mein Land geschert hätte.“
Mit „ Rote Sirenen“ ist der Autorin eine sehr persönliche und ergreifende Familiengeschichte gelungen, das Zeugnis ablegt von der Widerstandskraft des ukrainischen Volkes.

Bewertung vom 16.02.2023
Despentes, Virginie

Liebes Arschloch


sehr gut

Plädoyer für den Austausch
Gewohnt provokativ beginnt der neue Roman von Virginie Despentes, eine der wichtigsten literarischen Stimmen Frankreichs.
„ Liebes Arschloch, ich habe deinen Beitrag auf Instagram gesehen. Du bist wie eine Taube , die mir im Vorbeifliegen auf die Schulter kackt.“
Der so vulgär Angesprochene ist Oscar Jayack, ein relativ erfolgreicher Schriftsteller Anfang Vierzig. Der hat in einem Post über das Aussehen der berühmten Schauspielerin Rebecca Latté böse gelästert, sie als „ Schlampe“ tituliert, die früher „ göttliche Frau“ sei mittlerweile „ alt… verlebt, …, ein schmuddeliges Weibstück“.
Die wiederum lässt diese Schmähung nicht auf sich sitzen und antwortet mit harten Verwünschungen. Daraus entwickelt sich ein reger Mail- Austausch.
Die beiden kennen sich schon aus ihren Kindheitstagen. Damals war Rebecca mit Oscars älterer Schwester Corinne befreundet.
Dass Oscar nun die immer noch attraktive und erfolgreiche Schauspielerin öffentlich beleidigt, liegt an seiner Wut. Er sieht sich als Opfer eines Metoo- Shitstorms im Netz und schlägt verbal um sich. Eine ehemalige Pressereferentin von Oscar hat ausgepackt; sie schreibt in ihrem Blog darüber, wie sie damals von ihm bedrängt und genötigt wurde. Oscar versteht die ganzen Anschuldigungen nicht. Er war doch nur verliebt in die junge Frau.
Der Briefwechsel geht weiter und die beiden schenken sich nichts. Vor allem Rebecca hat einen gnadenlosen, aber realistischen Blick auf ihre Umwelt. Oscars weinerliche Opferrolle wehrt sie entschieden ab und öffnet ihm die Augen für das, was er der jungen Frau angetan hat.
Diese bekommt die dritte Stimme im Roman. Zoé Katana, Ende Zwanzig, betreibt als junge radikale Feministin einen Blog, in dem sie nicht nur Zustimmung erntet, sondern sich auch zahlreichen Anfeindungen ausgesetzt sieht.
Die dialogische Form des Briefromans passt hier wunderbar, denn sie eignet sich hervorragend für die Diskussion gesellschaftlich aktueller Themen. Der Leser bekommt die unterschiedlichen Positionen serviert, stimmt mal dem einen zu, mal dem andern.
Nicht nur Metoo wird angesprochen, der Feminismus wird aus dem Blickwinkel unterschiedlicher Generationen aufgegriffen.
Einen weitaus größeren Teil nimmt das Thema Drogen im Roman ein. „ Mein ältester Kumpel ist der Alkohol“ sagt Oscar, der seit seiner Jugend trinkt . Der Alkohol und auch andere Drogen sind seine Antwort auf alles. Doch Oscar will davon loskommen, besucht deshalb regelmäßig die „ Narcotic Anonymous“, eine Gegenwelt zu den sozialen Netzwerken. Denn anders als dort, darf man hier offen zu seinen Schwächen stehen, ohne Hohn und Spott zu ernten. Hier findet Oscar Verbündete, Menschen, die sich gegenseitig unterstützen
Rebecca, die seit Jahren harte Drogen konsumiert, will davon nichts wissen.
Sie kann, sagt sie, anders als Oscar, damit umgehen. „ Lieber verrecken als Yoga machen, definitiv.“
Aber so wie Oscar im Verlaufe der Korrespondenz Einsichten gewinnt über sein Fehlverhalten, so muss auch Rebecca lernen, dass sie sich in diesem Fall etwas vorspielt. Virginie Despentes plädiert hier eindeutig für den Entzug, aber ohne moralischen Zeigefinger, sondern so rotzig wie gewohnt.
Nicht nur die Drogen verbinden Oscar und Rebecca, sondern auch ihre Herkunft aus einfachen Verhältnissen. Beide haben es nach oben geschafft, aber beide spüren noch die Kluft, die sie trennt vom großbürgerlichen Milieu. Oscar leidet darunter, Rebecca pfeift darauf.
So greift Virginie Despentes noch viele weitere Themen auf, z.B.
das Älterwerden ( Rebecca bekommt das an mangelnden Rollenangeboten zu spüren )
den Lockdown während Corona ( Oscar genießt die Stille und Rebecca sieht plötzlich viele Dealer, die sich Hunde angeschafft haben, um der Ausgangssperre zu entgehen.)
Mit klarem unbarmherzigen Blick entlarvt die Autorin die Probleme und Macken unserer Zeit. Dabei schreibt sie schnoddrig, aber nicht vulgär ( wie vielleicht der Titel vermuten lässt). Ein paar Längen verzeiht man gern, wenn der Rest so erfrischend und klug daherkommt.
Mögen die Figuren auch nicht sympathisch sein, menschlich sind sie allemal. Und Virginie Despentes spricht sich hier eindeutig für das Gespräch aus. Es lohnt sich, trotz unterschiedlicher Positionen in Austausch zu treten. Ein wichtiges Statement in Zeiten, wo jeder aus seiner eigenen Blase auf den anderen eindrischt.

Bewertung vom 14.02.2023
Mennen, Patricia

Wieso? Weshalb? Warum?, Band 51 - Mutig, stark und selbstbewusst


ausgezeichnet

Ein wichtiges Thema kindgerecht umgesetzt

Alle Eltern wünschen sich starke und selbstbewusste Kinder, denn ein positives Selbstbild stärkt sie für ihr ganzes Leben. Sie begegnen neuen Anforderungen voller Tatendrang und Neugierde, werden aber auch mit Rückschlägen leichter fertig. Selbstbewusstsein ist nicht zu verwechseln mit Egoismus, denn
Menschen, die in sich gefestigt sind, fühlen sich anderen weder überlegen noch stellen sie ständig Vergleiche an.
Eine gute Möglichkeit, Kinder auf ihrem Weg zu mehr innerer Stärke und Selbstbewusstsein zu begleiten, stellt das neue Buch aus der Reihe „ Wieso Weshalb Warum“ dar.
Es geht zuerst um die Einzigartigkeit und Gleichwertigkeit jedes Menschen. Angst, Mut und Vorsicht werden an verschiedenen Beispielen anschaulich gemacht, ebenso Erfolge und Rückschläge. Wann ist Vertrauen angesagt, wo muss ich mich abgrenzen und Nein-sagen ? Die Bedeutung, einer Gemeinschaft anzugehören und das schreckliche Gefühl, ausgeschlossen und ausgegrenzt zu werden, wird ebenfalls thematisiert. Außerdem liefert das Buch konkrete Vorschläge zu mehr Kraft und Selbstbewusstsein.
Die Begleittexte sind leicht verständlich und die farbenfrohen Illustrationen zeigen Szenen aus dem kindlichen Alltag.
Ein rundum gelungenes Buch, das viele Möglichkeiten bietet, mit dem Kind ins Gespräch zu kommen.

Bewertung vom 11.02.2023
Gernhäuser, Susanne

Tiere der Welt / Wieso? Weshalb? Warum? Junior Bd.73


ausgezeichnet

Alle Erwartungen erfüllt
Die Bücher aus der Reihe „ Wieso Weshalb Warum?“ sind aus den Bücherregalen meiner Enkelkinder nicht mehr wegzudenken. Auf jede Neuerscheinung sind wir gespannt.
Der neue Band „ Tiere der Welt“ richtet sich an die Altersgruppe der Zwei-bis Vierjährigen, doch können auch Ältere das Buch mit Gewinn lesen.
Auf insgesamt 16 Seiten werden wilde Tiere aus aller Welt vorgestellt. Eingeteilt nach ihren Lebensbereichen lesen wir z. B. von den Tieren des Regenwaldes oder der afrikanischen Savanne, reisen an den Nordpol oder nach Australien, begeben uns in die Tiefe des Meeres oder auf die höchsten Gebirge der Welt. Realistische Illustrationen veranschaulichen die kurzen kindgerechten Texte. Obwohl auf das Wesentliche beschränkt, bieten diese genügend Informationen und Wissenswertes zum Thema.
Die beliebten Klappen, sowie kleine Aufgaben und kurze Fragen und ein Quiz am Ende beziehen die zuhörenden Kinder aktiv ein.
Der Band „ Tiere der Welt“ hat wieder all unsere Erwartungen erfüllt; ein Muss für alle Kinder, die sich für Tiere und deren Umfeld interessieren.

Bewertung vom 06.02.2023
Geiger, Arno

Das glückliche Geheimnis


ausgezeichnet

Die Entwicklung eines Schriftstellers

Das glückliche Geheimnis des Arno Geiger wird gleich in den ersten Sätzen enthüllt: Ein Vierteljahrhundert machte der Autor Streifzüge durch Wien, anfangs zu Fuß, später erweitert er seinen Radius mit dem Fahrrad. Dabei wühlte er kopfüber in Altpapiercontainern, immer auf der Suche nach Verwertbarem.
Ausgelöst wurde diese Passion durch einen Zufallsfund, fünf große Kartons voller Bücher. Zu dieser Zeit war Arno Geiger ein mittelloser Student mit dem Berufswunsch Schriftsteller. Seine Funde verhalfen ihm zu Zufallslektüren, aber vor allem trugen sie zu seinem Lebensunterhalt bei. Geiger verkaufte seine „ Beute“ auf Flohmärkten und wertvollere Stücke, wie seltene Bücher, Briefmarkensammlungen oder Druckgrafiken, an Auktionshäuser. Ein Bündel lithografierter Postkarten der Wiener Werkstätten brachten ihm einmal ein halbes Jahresgehalt ein.

Arno Geiger beschränkt sich in seiner autobiographischen Erzählung nicht nur darauf, sein Geheimnis zu lüften, sondern er lässt uns auch an seinem Privatleben teilnehmen. Wie in jedem menschlichen Leben spielen Liebesglück und Liebesleid, Krankheit und Tod auch in seinem Leben eine große Rolle.
Wir lesen deshalb von seinen langjährigen Beziehungen zu M. und K. und den diversen Affären dazwischen. Einerseits diskret -er verwendet jeweils den Anfangsbuchstaben als Kürzel- andererseits sehr freimütig und offen schreibt er von Untreue, Streitereien und Beziehungskrisen. Dass seine Ehe mit K., einer Ärztin, heute so stabil und glücklich ist, liegt für den Autor in den gemeinsam durchgestandenen „ schlechten Jahren“. So vermag er auch darin etwas Positives sehen.
Es geht im Buch ebenfalls um das Verhältnis des Autors zu seinen Eltern. Die Demenzerkrankung seines Vaters, die er sehr einfühlsam in seinem Buch „ Der alte König in seinem Exil“ geschildert hat, spielt eine wesentliche Rolle, genauso wie die Beziehung zur Mutter.

Doch „ Das glückliche Geheimnis“ erzählt vor allem vom mühevollen Weg des Schriftstellers Arno Geiger, von Selbstzweifeln und einem Leben in prekären Verhältnissen und von seinen Erfahrungen im Literaturbetrieb. Seine ersten Bücher verkaufen sich schlecht; eine Lesung in Klagenfurt stößt auf wenig Resonanz. Erst mit seinem 2005 erschienenen Roman „ Es geht uns gut“ gelang ihm der Durchbruch. Das Buch erhält den erstmals verliehenen Deutschen Buchpreis. Doch der Erfolg fordert seinen Tribut, ein Burnout ist die Folge. Das „ Vater- Buch“ wird ebenfalls zu einem Bestseller; sein letzter Roman „ Unter der Drachenwand“ gilt vielen als sein bester.
Wesentlich zu seiner Entwicklung als Schriftsteller beigetragen, haben seine Funde aus dem Müll, davon ist Arno Geiger überzeugt. Hat er anfangs überwiegend Verkaufbares aus den Containern gefischt, so suchte er später ganz gezielt nach Tagebüchern und Briefen. Hierin fand Geiger das wirkliche Leben; das habe ihm eine enorme Menschenkenntnis gegeben, ein notwendiges Wissen für einen der, „ vom Leben der Menschen erzählt.“
Aus diesen authentischen Zeugnissen entwickelt Geiger eine Poetologie für sein Schreiben. „ Ein Künstler des Ungekünstelten“ will er sein. Und er habe, wie er überspitzt formuliert, aus Tagebüchern mehr gelernt als aus dem ganzen Proust. Doch ohne Kunst entsteht keine Literatur. Das weiß auch Arno Geiger. „Aber eine Katze, wenn sie auch zehn Kanarienvögel frisst, kann deshalb noch lange nicht singen. Es braucht eine literarische Verwandlung, eine Form, eine Sprache.“

Scham über sein „ Doppelleben“ hat Geiger oftmals empfunden, deshalb wussten davon auch nur wenige. Sein Abtauchen in Altpapiercontainern ließ sich nicht mit seinem „ Selbstbild eines souveränen Künstlers“ vereinbaren. Dass er als gefeierter Autor nie dabei erkannt wurde, verwundert ihn wenig. Wer in Müll wühlt, hat kein Ansehen. „ Und wer kein Ansehen hat, der ist unsichtbar.“

Etwaigen Vorwürfen, dass er durch das Lesen von persönlichen Briefen und Tagebüchern die Privatsphäre anderer verletzt, kommt Arno Geiger zuvor. Durch das Wegwerfen verwandelt sich das Private in Abfall und er macht daraus dann ein Dokument.

Gleichzeitig ist das Buch eine kleine Kulturgeschichte des Abfalls. Im Müll findet sich das kulturelle Gedächtnis. „ Denn in den Müll kommt, was erledigt ist, und in diesem Erledigten gibt eine Gesellschaft Auskunft über sich selbst.“
Im Verlaufe von Arno Geigers Sammlertätigkeit hat sich auch der Inhalt der Papiercontainer verändert. Fanden sich früher vermehrt Liebesromane, so sind heute die Krimis in der Überzahl, statt Zeitungen und Handschriftliches vermehrt Verpackungsmüll, statt Sexhefte Pizza- und Weinkartons.

Arno Geiger hat mit „ Das glückliche Geheimnis“ ein sehr persönliches Buch vorgelegt. Mir gefiel die Mischung aus Privatem und Essayistischem und ich habe diese kluge, unterhaltsame und selbstironische Erzählung sehr genossen. Der Autor wünscht sich, „ dass alle, die das Buch lesen, darin etwas für sie Wichtiges finden.“ Das ist ihm auf jeden Fall gelungen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 03.02.2023
Janesch, Sabrina

Sibir


ausgezeichnet

Wenig bekanntes Kapitel deutsch-russischer Geschichte
War Sabrina Janesch in ihrem meisterhaften Debutroman „ Katzenberge“ auf Spurensuche in der Familiengeschichte ihrer polnischen Mutter, so begibt sie sich in ihrem neuesten Roman zurück in die Vergangenheit ihres Vaters.
Ausgelöst wird die Erinnerungsarbeit durch einen besorgten Anruf der Mutter. Der Vater verliert anscheinend den Verstand und die erwachsene Tochter Leila, die Ich- Erzählerin, kommt zurück nach Hause. „ Die Geister der Vergangenheit, die Dschinn der Steppe“ bedrängen erneut den alten Vater. Und um sie zu bannen, wird die Tochter den Stimmen ihre eigene entgegenhalten, schriftlich sogar.
Der Vater Josef Ambacher wird als Zehnjähriger von der Roten Armee nach Sibirien verschleppt. Seine Familie war im 18. Jahrhundert dem Ruf der österreichischen Kaiserin Maria Theresia gefolgt und hatte sich in Galizien angesiedelt. Doch als 1939 das zu Polen gehörige Galizien von sowjetischen Truppen besetzt wurde, änderte sich das Klima für die ehemaligen deutschen Siedler. Sie zogen deshalb in das nunmehr deutsche Wartheland. Dort wohnten sie in den Höfen vertriebener polnischer Bauern. Nach dem Sieg der Roten Armee gegen Nazi- Deutschland wurden alle zurückgebliebenen Deutschen deportiert. Darunter auch Josef mit seiner Familie. Der kleine Bruder überlebt die wochenlange Reise nicht. Und als der Zug mit den überlebenden Passagieren endlich in der kasachischen Steppe angekommen ist, verschwindet die Mutter in einem entsetzlichen Schneesturm, dem Buran. Josef kann sich lange nicht dem Verlust der Mutter abfinden; wiederholt macht er sich auf die Suche nach der Verschwundenen.
Ansonsten versuchen die Großeltern und die Tante hier zu überleben. Dabei kommt ihnen zugute, dass der Großvater, ein Tischler, handwerklich begabt ist und die Tante mit ihren medizinischen Kenntnissen gebraucht wird. Josef hilft die Freundschaft zu dem gleichaltrigen Kasachenjungen Tachawi .
Sabrina Janesch erzählt ihre Geschichte auf zwei Zeit-und Ortsebenen. Sie wechselt von der Kindheit Josefs im fernen Kasachstan in den Jahren 1945/46 in die frühen 1990er Jahre an den südlichen Rand der Lüneburger Heide zur 10jährigen Leila.
Hierher nach Mühlheide hat es Mitte der Fünfziger Jahre Josef und seine Familie verschlagen. Am Ortsrand haben sich die russischen Zivilgefangenen nach ihrer Ankunft in Deutschland angesiedelt. Und am Rande der Gesellschaft fühlten sie sich auch. Als läge ein Makel auf ihnen, eine Mitschuld an ihrem Schicksal, werden sie von den Einheimischem argwöhnisch betrachtet .
Als nun 1990 die Grenzen offen sind und zahlreiche „Aussiedler“ aus Kasachstan in die niedersächsische Kleinstadt kommen, wird Josef verstärkt mit seiner sibirischen Vergangenheit konfrontiert. Auch wenn er versucht, alte Erinnerungsstücke loszuwerden, zeigt sich doch, wie stark das Vergangene in die Gegenwart hineinwirkt.
Sabrina Janesch beschränkt sich in ihrem Roman auf jeweils einen kurzen Lebensabschnitt und stellt die beiden Kindheiten gegenüber. Obwohl die von Josef wesentlich dramatischer verläuft - und mich auch weitaus mehr gepackt hat - als die seiner Tochter Leila, so gibt es doch einige Parallelen. Z.B. ist für beide Kinder die Freundschaft zu einem Gleichaltrigen wichtig , beide fühlen sich fremd in ihrer Umgebung, werden aufgrund familiärer Hintergründe ausgegrenzt, beide suchen ihren Platz. Dabei zeigt sich, wie Familiengeschichten prägen und weiterwirken.
Die Autorin entwickelt dabei glaubhafte und psychologisch stimmige Figuren. In Erinnerung bleibt z.B., wie Josef deutsche Begriffe auf selbstgefertigte Lehmtäfelchen ritzt, um sie nicht zu vergessen. Deutsch war verboten, darüber wachten die Sowjets. Doch die deutsche Sprache war das, was die Verschleppten mit ihrer Heimat verband. Und für Josef war es das Band zur vermissten Mutter. Im Text finden sich immer wieder bestimmte Schlüsselbegriffe in drei Sprachen : auf Deutsch, dann auf Russisch, der offiziellen Sprache und auf Kasachisch, der Sprache, mit der sich Josef mit seinem Freund verständigt.
Sabrina Janesch gelingen viele eindrückliche Szenen, die lang im Gedächtnis des Lesers bleiben. Sie findet starke Bilder, um die Weite und Unwirtlichkeit, aber auch die Schönheit der kasachischen Steppe zu beschreiben.
Sabrina Janesch beleuchtet mit ihrem neuen Roman ein Stück wenig bekannter deutsch- russischer Geschichte: die Verschleppung deutscher Zivilgefangener in weit entfernte östliche Gebiete. Man geht von 300.000 bis 800.000 deutschen Zivilgefangenen - keine Kriegsgefangenen - aus, die in den Osten der Sowjetunion verschleppt worden sind.
Anhand von Einzelschicksalen zeigt sie eindrücklich, welche verheerenden Auswirkungen die politischen Verwerfungen des 20. Jahrhunderts auf die Menschen hatten. Angesichts aktueller Fluchtgeschichten sind solche Erzählungen umso wichtiger.

Bewertung vom 23.01.2023
Caspari, Anna-Maria

Ginsterhöhe


sehr gut

Fiktion und historische Fakten


1919 kehrt der junge Bauer Alfred Lintermann zurück in sein Heimatdorf Wollseifen in der Eifel. Er hatte Glück, viele Söhne aus dem Ort sind auf dem Schlachtfeld geblieben. Doch Albert ist an Leib und Seele verwundet. Eine Granate hat ihm das halbe Gesicht weggeschossen und sein langjähriger Freund ist neben ihm verblutet. Seine Frau Berta reagiert auf seinen Anblick mit Entsetzen. Dieser so schrecklich entstellte Mann ähnelt so garnicht mehr dem attraktiven Jungbauern, den sie geheiratet hat.
Doch Albert lässt sich nicht unterkriegen. Voller Tatendrang macht er sich daran, den heruntergekommenen Hof wieder aufzubauen. Auch im Dorf verschafft er sich mit seiner zupackenden und freundlichen Art einen Platz. Unterstützung findet er bei seinem Freund, dem italienischstämmigen Dorfwirt und bei Leni, der Verlobten seines gefallenen Freundes.
Das Leben normalisiert sich, auch wenn die Zeiten hart sind. Gemeinsam versucht die Dorfgemeinschaft, den Anschluss an die allgemeine Entwicklung voranzutreiben. Wollseifen wird an das Stromnetz angeschlossen und bekommt eine zentrale Wasserversorgung.
Aber der aufkommende Nationalsozialismus macht auch vor dem kleinen Ort nicht Halt. Ein Mann der ersten Stunde ist Johann Meller, ein dubioser Städter, der hier einen Gutshof gekauft hat und große Sprüche klopft. Bald hat er einige Anhänger um sich geschart.
Mitte der 1930er Jahre beschließen die Nazis aus der nahegelegenen Burg Vogelsang eine riesige Schulungsstätte für ihren Führungskader zu machen und einen Flugplatz zu bauen. Was am Anfang noch für Aufschwung in der Region sorgt, erweist sich während des Krieges als Verhängnis. Denn dadurch wird das Dorf mit seinem Wehrmachtsstützpunkt ein beliebtes Bombardierungsziel.
Anna-Maria Caspari lässt anhand ihrer Figuren eine Dorfgemeinschaft über mehrere Jahrzehnte lebendig werden. Im Mittelpunkt steht der Kriegsheimkehrer Albert. Seine Erfahrungen im Schützengraben machen ihn gefeit gegen jegliche neue Kriegstreiberei. Er möchte nur noch in Frieden leben, sich um seine Familie und seinen Hof kümmern. Die große Politik ist ihm suspekt. Aber sein jüngster Sohn, indoktriniert durch Schule und Hitlerjugend, meldet sich freiwillig zum Kriegsdienst.
Auch an anderen Dorfbewohnern zeigt die Autorin die politischen und gesellschaftlichen Veränderungen. Da gibt es ein behindertes Mädchen, das in ein Heim abgeschoben wird, eine Halbjüdin, die sich verstecken muss.
Immer wieder gibt es Menschen, die sich um andere kümmern und solche, die nur ihren Vorteil sehen und ihre Macht ausnützen. Geschichte wird erfahrbar an persönlichen Schicksalen.
Auch der Alltag, die Sorgen und Nöten eines Bauern, ebenso seine Liebe zu Hof und Vieh nehmen einen breiten Platz ein im Roman.
Das alles beschreibt Anna-Maria Caspari in einem ruhigen und unaufgeregten, fast nüchternen Schreibstil, ohne Kitsch und Pathos. Trotzdem berührt das Schicksal der Menschen den Leser. Mit Spannung verfolgt man den Weitergang der einzelnen Figuren, die glaubwürdig und authentisch rüberkommen.
Die dazwischengeschobenen Tagebuchaufzeichnungen des Dorfschullehrers, datierend vom Februar 1919 bis Dezember 1944, geben einen direkten Einblick in den Alltag und dessen Wandel. Diese Passagen wirken emotionaler als der eher sachlich gehaltene Erzähltext.
„ Ginsterhöhe“ ist ein unterhaltsamer und bewegender Heimatroman, der Fiktives mit historischen Fakten verwebt und so Zeitgeschichte lebendig werden lässt. Da der Roman Teil einer Trilogie sein soll, darf sich der Leser auf weitere spannende und emotionale Lesestunden freuen.
Die in der Eifel lebende Autorin ließ sich von der Geschichte des Dorfes Wollseifen zu ihrem Roman inspirieren. In einem Nachwort erzählt sie davon. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der ganze Komplex der NS- Ordensburg Vogelsang von den britischen Streitkräften übernommen, die im umliegenden Gelände einen Truppenübungsplatz errichteten. Die Einwohner von Wollseifen, die gerade begonnen hatten, ihr in Schutt und Asche liegendes Dorf wieder aufzubauen, mussten ihre Heimat verlassen. Seit der Gründung des Nationalparks Eifel im Jahr 2006 befindet sich dort eine Dauerausstellung, die zeigt, wie vielfältig das Dorfleben damals war.
Lobenswert sind die schön gestalteten Umschlagklappen, die mit einer Karte der Region und alten Photos von Wollseifen die Geschichte noch stärker veranschaulichen.

Bewertung vom 20.01.2023
Borrmann, Mechtild

Feldpost


sehr gut

Historie wird lebendig

Von Mechtild Borrmann kenne ich fast all ihre Bücher, angefangen von ihren Krimis. Für „ Wer das Schweigen bricht“ erhielt sie 2012 den Deutschen Krimipreis.
Ihre weiteren Romane waren allesamt Bestseller. Gekonnt verknüpft sie darin Zeitgeschichte mit einer packenden fiktiven Rahmenhandlung. Führt uns der ebenfalls preisgekrönte Roman „ Der Geiger“ in das Russland der 1940er Jahre, so ist der Ausgangspunkt in „ Die andere Seite der Hoffnung“ die Katastrophe von Tschernobyl. „ Trümmerkind“ und „ Grenzgänger“ spielen in den unruhigen Nachkriegsjahren.
Etwas weiter zurück liegen die dramatischen Geschehnisse von ihrem neuesten Roman „ Feldpost“.
Die Geschichte beginnt allerdings kurz vor Weihnachten 2020. Die Kassler Anwältin Cara Russo sitzt in einem Café und schreibt Weihnachtskarten. Da setzt sich eine fremde Frau zu ihr, verwickelt sie in ein Gespräch über eine vermisste Frau namens Adele und hinterlässt dann einen alten braunen Aktenkoffer. Darin befinden sich einige Feldpost- Briefe aus dem Zweiten Weltkrieg und ein paar beinahe unleserliche Dokumente. Die Neugierde der Anwältin ist geweckt und sie beginnt Nachforschungen anzustellen.
Der zweite Erzählstrang führt zurück ins Jahr 1935. Die beiden Familien Kuhn und Martens sind befreundet, ihre Kinder Albert und Adele sowie Richard und Dietlinde verbringen viel Zeit miteinander. Das Verhältnis beginnt mit dem Aufkommen der Nazis merklich abzukühlen. Während der Apotheker Martens ein Parteigenosse der ersten Stunde ist, hält der Speditionsunternehmer Kuhn nichts von den neuen Machthabern. Er kommt wegen staatsfeindlichen Äußerungen für zwei Jahre ins Gefängnis, sein Geschäft wird beschlagnahmt. Danach flüchtet das Ehepaar ins Ausland . Zuvor verkaufen sie ihre Villa auf Wilhelmshöhe zu einem symbolischen Preis an den früheren Freund Martens, mit dem Recht auf einen späteren Rückkauf.
Die mittlerweile erwachsenen Kinder Adele und Albert bleiben in Deutschland zurück.
Adele ist schon länger verliebt in den Jugendfreund Richard, doch irgendwann muss sie sich eingestehen, dass diese Liebe nie erwidert werden wird. Denn Richard liebt ihren Bruder Albert. Eine Liebe, die verboten ist und die schreckliche Konsequenzen bei ihrer Entdeckung nach sich ziehen wird. Als Albert untertauchen muss, ist Adele die Botin, die die Liebesbriefe Richards von der Front an ihren Bruder weiterleitet.
Mechtild Borrmann entwickelt ihre Geschichte auf zwei Zeitebenen und aus der Perspektive verschiedener Figuren. Abwechselnd begleitet der Leser Cara Russo bei ihren Recherchen, dann wieder geht es zurück in die Vergangenheit. Dabei hält sie gleichbleibend die Spannung.
Für diesen Roman hat die Autorin im Tagebuch- Archiv Emmendingen recherchiert. Briefe und Aufzeichnungen aus der Nazi-Zeit sind die Grundlage für diesen Roman. Dabei ist Mechtild Borrmann eine eindrückliche und glaubhafte Schilderung jener Zeit gelungen. Sie zeigt, wie die aufkommende Nazi- Ideologie Freundschaften zerstört, welche verheerenden Auswirkungen der Nazi- Terror auf alle Anders- Denkenden hatte. Themen wie Homosexualität, Flucht und Vertreibung, Freundschaft und Verrat werden ganz konkret an den Figuren erlebbar gemacht. Die Sprache ist schnörkellos und trotzdem einfühlsam.
Die „ Auflösung“ am Ende hat mich sprachlos zurückgelassen.
Mit „ Feldpost“ hat Mechtild Borrmann erneut ihr Können bewiesen. Wieder ist es ihr gelungen, in einem spannenden und unterhaltsamen Roman Historie lebendig werden zu lassen.

Bewertung vom 29.11.2022
McEwan, Ian

Lektionen


ausgezeichnet

Ein Meisterwerk!
Ian McEwan entfaltet in seinem neuen Roman das Leben eines ganz gewöhnlichen Mannes. Geboren wird Roland Baines 1948 als Sohn eines britischen Offiziers. Seine frühe Kindheit verbringt er in Libyen, wo sein Vater stationiert ist. Mit elf Jahren kommt er nach England in ein Internat. Die Trennung von der Mutter fällt dem sensiblen Jungen schwer, doch das Internatsleben erweist sich als weniger schlimm wie befürchtet. Dagegen wird die Begegnung mit der mehr als zehn Jahre älteren Klavierlehrerin prägend für sein weiteres Leben. Belässt sie es bei dem elfjährigen Jungen noch bei sonderbaren körperlichen Übergriffen, entwickelt sich drei Jahre später daraus eine obsessive sexuelle Beziehung. Erst als Erwachsener wird Roland erkennen, welche seelischen Narben dieser Missbrauch bei ihm hinterlassen .
Nur mit der Flucht von der Schule schafft es Roland, sich aus diesem Verhältnis zu befreien. Doch er wird ruhelos sich durch sein weiteres Leben treiben lassen, wird nichts aus seinen Talenten machen. Kein Dichter, sondern Verfasser von Gebrauchstexten, keine Karriere als klassischer Pianist, sondern nur einen Job als Barpianiist. Auch privat scheitert er.
In der Anfangsszene des Romans befindet sich der Enddreißiger Roland sitzengelassen von seiner Frau Alissa mit dem 7 Monate alten Baby in seiner Londoner Wohnung. Alissa hat ihn verlassen, weil ein Familienleben mit Kleinkind sich nicht mit ihren Vorstellungen eines Schriftstellerlebens vereinbaren ließ. Nun versucht Roland völlig überfordert von seiner neuen Rolle als alleinerziehender Vater, seinen Sohn von der drohenden atomaren Wolke aus dem fernen Tschernobyl zu schützen.
McEwan begleitet seinen Protagonisten bis in sein 7. Jahrzehnt. Sein Anliegen ist es, ein individuelles Leben zu beschreiben und gleichzeitig die politischen Hintergründe und die gesellschaftlichen Entwicklungen in die Biographie einzuarbeiten. So treibt die Angst vor einem dritten Weltkrieg Roland in die offenen Arme seiner Klavierlehrerin. Vom Nachkriegsdeutschland über die Suez- Krise, vom Dissidentenleben in Ostberlin bis zum Fall der Berliner Mauer, vom Brexit bis zum Lockdown in Corona- Zeiten, all das beeinflusst mal mehr, mal weniger das Schicksal seines Protagonisten.
McEwan greift in diesem Roman viele Fragen auf. Was bestimmt unser Leben? Sind es die Prägungen, die man durch Eltern und das soziale Umfeld erlebt? Sind es Zufälle, die ihre Spuren hinterlassen und was entscheidet man dabei selbst? Und wann gilt ein Leben als gelungen und erfolgreich? Wenn man, wie Alissa ein großes literarisches Werk hinterlässt, dafür aber Mann und Kind geopfert hat und nun einsam und krank in der Wohnung sitzt. Oder kann nicht Roland die bessere Lebensbilanz aufweisen, obwohl er nichts aus seinen Talenten gemacht hat, eher planlos durchs Leben gestolpert ist, dafür aber am Ende seinen Frieden gefunden hat und glücklich im Kreis seiner Familie lebt?
McEwan liefert keine eindeutigen Antworten. Es gibt keine direkten Zusammenhänge zwischen Ursache und Wirkung. Dafür zeigt er, wie Vergangenheit in die Gegenwart hineinwirkt, welche Konsequenzen einmal getroffene Entscheidungen haben können.
Das ist dramaturgisch höchst kunstvoll gelöst. McEwan erzählt nicht streng chronologisch, sondern springt vor und zurück in der Handlung. Dabei verbinden sich die verschiedenen Ebenen sehr organisch, die einzelnen Erzählfäden werden immer wieder aufgegriffen. Er erzählt in einer klaren und präzisen Sprache, nüchtern und schnörkellos. Dabei entwickelt das Buch einen Lesesog, dem ich mich kaum entziehen konnte.
Roland Baines ist eine Figur, die mir am Ende richtiggehend ans Herz gewachsen ist. Mag er gesellschaftlich eher auf der Verliererseite stehen, so ist er menschlich gereift.
Aber auch die ganz privaten Themen, die im Leben dieses Anti- Helden eine Rolle spielen, sind von allgemeiner Gültigkeit. Über Kindererziehung, Beziehungsfragen, dem Verhältnis zu den Eltern, über das Alter, Krankheit und Tod macht sich Roland seine Gedanken und der Leser vergleicht mit seinen eigenen Erfahrungen.
Dies ist McEwans umfangreichster Roman, aber auch sein persönlichster. Nicht nur teilen der Autor und seine Hauptfigur dasselbe Geburtsjahr und denselben Geburtsort, es lassen sich zahlreiche weitere Parallelen zu McEwans eigener Biographie finden. Seine Kindheit in Libyen als Sohn eines Offiziers, seine Jahre im Internat, seine Erfahrungen beim Fall der Berliner Mauer fließen in den Roman ein. Auch McEwan erfuhr erst nach dem Tod seiner Mutter, dass es einen älteren Bruder gab, der bei Adoptiveltern aufgewachsen ist. Nur eine solche Klavierlehrerin gab es nicht.
Der Roman ist für mich ein klassisches Alterswerk. McEwan hat hier alles reingepackt, was ihm das Leben als Lektionen erteilt hat. Dazu passt der versöhnliche Ton im Privaten und die Skepsis, was die Weltlage betrifft. Ein Meisterwerk!