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Betty Literatur

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Insgesamt 91 Bewertungen
Bewertung vom 26.07.2023
Oehmke, Philipp

Schönwald


ausgezeichnet

Schönwald

Philipp Oehmke hat einen wunderbarer Roman über eine komplizierte Familie und ihre fehlende Kommunikation geschrieben.
Die Familie Schönwald hütet Geheimnisse.
Chris, der liberale Linguistik-Professor, in den USA erfolgreich, erhält eine Kündigung der Uni und wechselt ins rechte politische Lager der Trump-Anhänger, die selbst ein Jahr nach der „gestohlenen“ Wahl weiterhin ihre Mythen pflegen und an dem Sieg der nächsten Wahl arbeiten.
Seine Schwester eröffnet in Berlin einen queeren Buchladen. Bei der Eröffnung des Buchladens kommt es zu Angriffen junger Internet-Aktivist:innen, die die Herkunft des Startkapitals für den Buchladen hinterfragen. Ist das Geld des Großvaters „Nazi-Geld“?
Karolins sexuelle Orientierung scheint etwas „unklar“ in der Familie zu sein. Aber es fragt auch niemand nach.
Der Bruder Ben lebt mit Frau (die auch an ihren eigenen Kindheitstraumata als Tochter eines Milliardärs, der sie nicht beachtet hat) und Kindern in Brandenburg. Der hochintelligente Mann, der die Studiengänge Mathematik und Jura gleichzeitig erfolgreich absolviert hat, leidet unter Zwangsstörungen
Die Eltern Ruth und ihr Ehemann Harry haben sich auch nicht mehr viel zu sagen. Ruth blickt auf eine gescheiterte Karriere als Germanistin-Professorin zurück, auf die sie wegen der Kinder verzichtet hat. Sie möchte den Schein einer perfekten Familie wahren und findet nicht, dass man nicht über alles reden muss. Harry möchte gern ergründen, ob sein Leben glücklich verlaufen ist und besucht heimlich eine Therapeutin.
Bei einem Zusammentreffen der Familie anlässlich der Eröffnung des Buchladens in Berlin kommt es zu zahlreichen Komplikationen und einige Geheimnisse werden gelüftet.
Die Charaktere dieses Romans sind unglaublich gut dargestellt, ebenso die aktuellen gesellschaftlichen Strömungen.
Thomas Mann spielt sowohl im wissenschaftlichen Schaffen der Mutter als auch in dem Roman immer wieder eine Rolle, aber auch andere Anspielungen auf Literatur und Kunst zeigen, dass der Autor ein großer Kenner der Literatur- und Kunstszene sowohl in Deutschland als auch in den USA ist. Ich bin ein wenig neidisch auf seine Freundschaft zu Campino von den Toten Hosen.
Die gesellschaftspolitische Zeit der Generationen wird spannend abgebildet (Boomer Generation - Generation X - Millennial Emos) und weckt Erinnerungen an meine eigene Zeit zwischen Boomern und Generation X.
Die personale Erzählperspektive bleibt durchgängig bei allen Familienmitgliedern erhalten und so lernen wir sie alle in ihrer Sichtweise ihrer kleinen, eigenen Sicht der Welt kennen. Hier ist sicher auch der Unterschied zur auktorialen Erzählperspektive eines Thomas Mann zu sehen, es gibt keine Erklärungen oder Belehrungen eines außenstehenden Beobachters, die Zerrissenheit dieser Familie, ihre Sprachlosigkeit werden nicht kommentiert. Da haben die großartigen aktuellen amerikanischen Autoren ihren Einfluss hinterlassen. Und das ist gut so.
Die grandiose Erzählkunst des Autors zeigt sich auch in der detailgenauen Beschreibung zum Beispiel der brandenburgischen Hipster-Bauernhöfe samt ihrer Bewohner (unglaublich satirisch) oder in dem Kapitel „Peshawar“, in dem es über Bennis Versuch der Überquerung des Khyber Passes geht (unglaublich traurig).
Ich bin dankbar für dieses Buch und habe es voller Germanisten-Freude gelesen.

Bewertung vom 18.07.2023
Shalev, Meir

Erzähl's nicht deinem Bruder


sehr gut

Erzähl‘s nicht deinem Bruder
aus dem Hebräischen von Ruth Achlama

Die beiden Brüder Boas und Itamar treffen sich einmal im Jahr in Israel. Itamar, ein sehr gutaussehender Mann, lebt schon lange in den USA. Bei ihren „Brudernächten“ erinnern sie sich an die Zeit mit ihren Eltern und ihre Begegnungen mit Frauen. Mittlerweile sind beide über 60.
Itamar erzählt seinem Bruder von einer Begegnung mit einer Frau, Scharon, mit der er vor 20 Jahren in Israel bei einem seiner Besuche eine aufregende Begegnung hatte. Scharon bringt ihn in ein abgelegenes Haus. Seine Kurzsichtigkeit wird ihm dabei zum Verhängnis, denn sie versteckt seine Brille, damit er die Nacht bei ihr bleibt. Im Laufe des Abends gibt es spannende Entwicklungen.
Das Erzählen der Geschichte dieser Begegnung wird immer wieder durch witzige Dialoge unterbrochen, weil Boas Rückfragen stellt oder Bemerkungen einfließen lässt.
Michal, die frühere Geliebte Itamars spielt ebenfalls eine wichtige Rolle in dem Gespräch.
Die dauernden Unterbrechungen, so unterhaltsam sie auch sind, führen leider dazu, dass die Dramaturgie der eigentlichen Geschichte leidet.
Was aber deutlich wird, ist die große Nähe der Brüder zueinander, die sich am Ende doch alles erzählen, was sie als Geheimnisse mit sich herumgetragen haben.
Shalev ist ein zweifellos ein großartiger Erzähler, die Beschreibung der Kindheit, die Rolle der Eltern, die Spiele, die sie spielen und in die sie ihre Söhne einbinden, sind sehr lesenswert und amüsant.
Ich kann gar nicht genau sagen, warum mich dieser Roman nicht so begeistert. Vielleicht ist es Boas belehrender Ton, der mich stört, seine Eifersucht auf seinen Bruder. Auch Michals Rolle, die so entscheidend für Itamars Leben ist, bleibt mir zu wenig ausgearbeitet.
Trotz allem ein lesenswerter Roman.

Bewertung vom 06.07.2023
Ehrenhauser, Martin

Der Liebende


ausgezeichnet

Ein poetisches, leises, sinnliches Buch.
Ein Mann und eine Frau begegnen sich und finden Interesse aneinander. Das ist zunächst nicht ungewöhnlich.
Für den Seelsorger im Ruhestand Monsieur Haslinger gerät jedoch seine ordentliche, strukturierte Welt ein wenig ins Wanken, als die lebensfrohe Nachbarin Madame Janssen im Nachbarhaus einzieht. Er, der bisher zölibatär gelebt hat, spürt sich zu Madame Janssen hingezogen und lässt sich vorsichtig auf die Nähe zu ihr ein.
Beide verbindet die Freude an Pflanzen. Und diese Pflanzen sind ein wunderbares Symbol für das Leben und die Vergänglichkeit des Lebens.
Ich habe mich ein wenig in Monsieur verliebt. Seine feinfühlige Art und seine Bereitschaft, sich auf ein kleines Abenteuer einzulassen.
In der Er-Erzählperspektive erleben wir die Welt mit den Augen des Monsieur Haslinger. Es ist außergewöhnlich berührend, wie dieser Mann eine Frau bewundert, die Nähe zu ihr und körperliche Berührung zum ersten Mal erlebt.
Madame überredet ihn, nackt zu baden und in der Beschreibung dieses Moments liegt all seine Zerrissenheit. „Er musste ihr einen schnellen Blick zuwerfen. Vorsichtig schaute er an ihr vorbei, gerade so, dass er sie noch sah (…). Er erspähte ihre weiblichen Rundungen, die ihre Unterwäsche straff ausfüllten. Aufregend schön war der Anblick.“
Die beiden werden ein Liebespaar. Doch das Glück währt nur eine kurze Zeit.

Für mich ist es eine der schönsten Liebesgeschichten, die ich bisher gelesen habe. Inhaltlich und sprachlich perfekt.

Bewertung vom 05.07.2023
Daverley, Claire

Vom Ende der Nacht


ausgezeichnet

Rosie und Will begegnen sich als Teenager bei einem Lagerfeuer und seitdem kreisen ihre Gedanken umeinander, auch wenn sie eigentlich in ihrer Unterschiedlichkeit nicht zueinander passen.
Rosie, brav und angepasst, fleißig in der Schule, musikbegeistert und kreativ, leidet unter dem Erwartungsdruck ihrer Mutter und einigen Zwangsstörungen.
Will ist von seiner Mutter verlassen worden und wächst mit seiner jüngeren Schwester bei den Großeltern auf. Er ist eher ein „bad boy“, fällt in der Schule negativ auf, sucht Herausforderungen beim Motorradfahren und hat immer wieder Probleme mit Alkohol. Er träumt davon, die Eintönigkeit des Kleinstadtlebens zu verlassen und die Welt zu erkunden.
Rosie und Will kommen überhaupt nicht dazu, ihre erste Liebe auszuprobieren, denn ein furchtbares Unglück, umwoben mit einem Geheimnis, belastet sie beide so sehr, dass sie auf getrennten Wegen ersuchen, ihre Leben zu gestalten.
Sie begegnen sich immer wieder, müssen weitere Schicksalsschläge gemeinsam meistern.
In dieser besonderen Liebesgeschichte geht es um zwei Menschen, die sich wollen, aber es nicht mitteilen oder umsetzen können, weil die Umstände nicht passen.
Zwei traurige Menschen, die parallel zu einander versuchen, ihre Leben zu leben.
„Sie denken nicht aneinander. Nicht oft. Wirklich nicht.“
Die Er-/Sie Erzählperspektive ermöglicht es, das Leben, die Gedanken und Gefühle beider Protagonisten zu erleben. Die Autorin schafft es, in eindringlicher Sprache, in kurzen, präzisen Sätzen, den Alltag, aber auch die Zerrissenheit der Menschen abzubilden. Rosie und Will kämpfen beide um die Bewältigung der Gespenster ihrer Vergangenheit, sie brauchen einander und lassen doch immer wieder voneinander los. Sie fühlen Nähe, können aber ihre Gefühle nicht aussprechen, sie haben Sehnsucht nacheinander, aber können es sich nicht mitteilen.
Beide arbeiten an sich, versuchen ohne einander zu leben.
Die Geschichte hat eine große Anziehungskraft. Nichts ist, wie es ist, das Leben ist traurig, Menschen sterben. Die Liebe ist da und so nah und doch so kompliziert. Und nirgendwo ist Kitsch, auch nicht, wenn der Himmel in unterschiedlichen Farben erscheint.
Meine Sorge, in eine Young-Adult-Liebesgeschichte hineingeraten zu sein, hat sich nicht bewahrheitet. Es ist vielmehr ein großartiger Entwicklungsroman, zweier junger Menschen, die ihre Ängste überwinden müssen, um zu verstehen, was ihnen im Leben wichtig ist und dann Entscheidungen treffen zu können.
Ein faszinierender Roman, den ich sehr gerne gelesen habe.
aus dem Englischen von Margarita Ruppel

Bewertung vom 05.07.2023
Landsteiner, Anika

Nachts erzähle ich dir alles


sehr gut

„Der Welt bist du egal“ schreibt die 16-jährige Alice in ihr Tagebuch.
Anika Landsteiner, Autorin und Podcasterin hat einen neuen Roman veröffentlicht, der mich sehr beeindruckt hat.
Léa fährt nach Südfrankreich in das Haus ihrer Familie. Sie braucht Abstand zu ihrem bisherigen Leben und der Arbeit in ihrem Café.
Im Garten ihres Hauses begegnet ihr am späten Abend eine Teenagerin namens Alice aus der Nachbarschaft. Am nächsten Tagen erfährt Léa, dass diese junge Frau in der Nacht erstorben ist. Sie ist vermutlich die Letzte, die sie gesehen hat.
Léas Bruder Émile versucht mit ihr gemeinsam die letzten Stunden seiner Schwester zu rekonstruieren. Émile ist ein sehr bekannter Podcaster und beschäftigt sich mit gesellschaftlichen und philosophischen Themen. Er sucht Trost in dem Gespräch mit Léa und gemeinsam versuchen sie die Hintergründe des Todes seiner Schwester herauszufinden.
Zwischen Léa und Émile entwickelt sich eine vertrauensvolle Atmosphäre und
Lea muss sich eingestehen, dass sie, die eine lange Beziehung zu einer Frau hatte, den 10 Jahre jüngeren Mann anziehend findet. Aber passen ihre Leben zueinander?
Parallel schreibt Claire, eine Freundin von Léas Mutter in Frankreich, die sich um das Haus und auch um Léa kümmert, in einem Monolog an Léa, wie sie selber die Zeit als Teenager und die Zeit mit ihrer Mutter erlebt hat.

Dieser Roman ist ein großes Buch über die Liebe. Die Vielfalt der Liebe.
Liebe kann großartig sein. Sie ist viel mehr als die Liebe eines Paares. Liebe fordert keine Gegenliebe, sie ist ein Geschenk.
Aber es ist auch ein politisches Buch über Schwangerschaft und die Entscheidungsfreiheit von Frauen. „Das Private bleibt politisch“, wie die Autorin in ihrem Nachwort betont.

Nebenbei macht das Buch Lust auf Frankreich, der Duft französischen Gebäcks, frittierter Zucchiniblüten, gebratenem Fisch und marinierten Erdbeeren liegt in der Luft.

Bewertung vom 03.07.2023
Thilo

Lenny Hunter - Die magische Sanduhr (Bd.1)


ausgezeichnet

Lenny Hunter, Cleo und Marvin sind beste Freunde und ermitteln in Kriminalfällen. Romolus, Lenny Großvater, ruft um Hilfe, denn eine Verbrecherbande, die Rote Pfote, ist auf der Suche nach der magischen Sanduhr. Mithilfe dieser Uhr kann man Ereignisse rückgängig machen. Das ist natürlich gefährlich in der Hand von Verbrechern.
Die 3 Freunde begeben sich mit Rosty, einem „besonderen“ Flugzeug, auf die Suche nach der Roten Pfote in den Dschungel. Bis es ihnen gelingt, die Sanduhr zu sichern, müssen sie einige Gefahren meistern.
Diese Abenteuergeschichte ist wirklich spannend und unterhaltsam geschrieben, schöne, witzige Dialoge zwischen den Freunden, phantasievolle Namen („Plappageien“) machen diesen Text lesenswert.
Mir gefällt, dass die einzelnen Akteure relativ geschlechtsunspezifisch dargestellt werden.
Das Buch ist sehr ansprechend gestaltet, die Bilder passen toll zum Text. Karten, Briefe, Opas kleines Notizbuch, Steckbriefe der Verbrecher sowie Aufklappseiten ergänzen die Geschichte und unterstützen die Neugierde beim Lesen.
Ich würde das Buch ab 5 Jahren empfehlen. Mir hat es sehr gefallen.
In der Reihe Lenny Hunter gibt es weitere Bücher.
Illustriert von Silvio Neuendorf

Bewertung vom 19.06.2023
Irving, John

Der letzte Sessellift


sehr gut

Erzähler Adam, Kind einer alleinerziehenden Mutter, geboren 1941, fährt nach Aspen in das Hotel, in dem seine Mutter sich häufig aufgehalten hat, er ist auf der Suche nach seinem Vater, den die Mutter ihm verschwiegen hat.
Die Mutter, eine leidenschaftliche Skifahrerin, findet in seiner Kindheit wenig Zeit für Adam, er wird von Großeltern, Tanten und Onkeln großgezogen.
Wir erleben die Familie, die aus dem „sprachlosen“, debilen Großvater, der Großmutter, die die Familie zusammenhält, den beiden „schrecklichen Tanten“ samt ihrer norwegischen Verwandtschaft, der Cousine Nora, die die engste Vertraute des Erzählers ist, dem Cousin Henrik, der ihn gern drangsaliert, besteht.
Die Mutter heiratet, als sie 34 Jahre alt ist, der Erzähler ist 14 Jahre alt, den kleinwüchsigen „Schneeschuhläufer“, der 27 ist.
Die Mutter ist fasziniert von dem winzigen, gutaussehenden Mann, der an der High-School Literatur unterrichtet. „Sie wissen, was Klein mit mir macht“, sagte sie mit ihrer rauchigsten Stimme. Aber die Mutter liebt auch Molly, eine Schneeraupenfahrerin. Die drei Erwachsenen finden ein Arrangement, gemeinsam zu leben und auch ihre sexuellen Bedürfnisse auszuleben und Adam wird Teil dieses Lebens. „Es gibt mehr als nur eine Art zu lieben, Adam“, sagt Molly, als seine Mutter heiratet.
Der Ich-Erzähler berichtet von seinen Bemühungen, Frauen zu finden, die nicht für eine ernsthafte Beziehung geeignet sind. Und er berichtet von seinen Begegnungen mit Gespenstern.
Als er endlich in Aspen ist, wird die Begegnung mit den Gespenstern und seinem Vater real. Auch sprachlich. Der Ich-Erzähler, selber Schriftsteller und Drehbuchautor, wechselt vom Roman zum Drehbuch. Und das ist dann wirklich „noir“.

Irving ist bekannt dafür, dass er gern viel erzählt. Und gern ungewöhnliche Charaktere präsentiert.
Die Dialoge mit den beiden boshaften Tanten sind unglaublich unterhaltsam. Sie haben keinerlei Hemmungen ihre Abneigung gegenüber anderer sexueller Orientierung zum Ausdruck zu bringen: „Homo-Alarm“.
Irving scheut keine unnötigen Details: technische Erörterungen über Schneeraupen,
die perfekte Ski-Abfahrttechnik, Ringer und deren Gewichtsklassen.
Aber er spielt auch damit: „niemanden interessierte es, wo und wann sie die ersten Barlow-Thriller gelesen hatten“.
Der Autor schafft eine wunderbare Situationskomik, wenn gemeinsame Essen der Familie beschrieben werden, und skurrile Charaktere sich begegnen.
Die Liebe zu seiner Mutter ist ein großes Thema, ebenso die Suche nach dem Vater.
Es geht um Themen von Minderheiten, sexuelle Orientierung und Diskriminierung, kleinwüchsige Menschen, Frauenrechte, die politischen Veränderungen in den USA der letzten 60 Jahre. Die Liebe zueinander schweißt diese ungewöhnlichen Menschen zusammen.
Dem Ich-Erzähler begegnen Gespenster aus Vergangenheit und Zukunft, so geht es mir mit diesem Irving-Buch auch. Die autobiographischen Bezüge sind offensichtlich, viele Grundideen und Charaktere kommen einem „bekannt“ vor. Die Anspielungen an frühere Werke schaffen eine Verbindung zum Autor, so ist Irving nun mal.
Die Frage bleibt jedoch, ob das nicht etwas kürzer gegangen wäre. Die Grundidee ist gut, die Entwicklungen interessant, manche Erzählstränge ufern zu sehr aus, einige Gedanken wiederholen sich zu oft. Die unendlichen Exkurse über Ringer und Moby-Dick hätte er uns ersparen können
Aber es ist ein so unterhaltsames, spannendes Buch, so dass es sich lohnt, sich darauf einzulassen. Es braucht halt etwas Zeit bei 1088 Seiten.

Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Anna-Nina Kroll und Peter Torberg

Bewertung vom 06.06.2023
Usami, Rin

Idol in Flammen


gut

„Mein Idol steht in Flammen. Er soll einen Fan geschlagen haben.“
Akari, die junge Ich-Erzählerin, verfolgt den Shitstorm um Masaki, den Sänger einer Band, ihr Idol.
Akari ist seit einem Jahr Fan, hat alles über das Leben ihres Idols recherchiert und betreibt eine Fanseite mit einem Chat. Sie will ihm gerade jetzt treu bleiben.
„Aber diese Welt (das Internet), in der meine Persönlichkeit halb Fiktion ist, ist tolerant. Für uns alle ist es zur Routine geworden, einfach nur unser Idol anzuhimmeln.“
Die Obsession zu ihrem Idol bestimmt ihr Leben, sie arbeitet, um sich Fanartikel (alle, die es gibt!) kaufen zu können und Konzerte von Masaki besuchen zu können. In der Schule kann sie sich nicht mehr konzentrieren. Sie leidet auch körperlich Qualen, wenn es ihrem Idol nicht gut geht. Sie bricht die Schule ab und findet keinen Bezug zum Alltag.
Masaki kündigt seinen Rücktritt aus dem Showgeschäft an (er möchte nicht mehr Star, sondern Mensch sein) und Akari kann sich ein Leben ohne ihn nicht vorstellen.
Dieses Buch zeigt eindringlich und erschreckend, wie Star-Kult ein Leben zerstören kann. Besonders überzeugend wirkt es durch die Erzählperspektive der Ich-Erzählerin, die keinerlei Zweifel an ihrem Handeln hat und einfach nur beschreibt, wie ihr Leben zerbricht.
Ich denke, es kann eine spannende und wichtige Lektüre für Jugendliche sein, mich selber hat es nicht so angesprochen, vielleicht weil ich als „Erwachsene“ innerlich den Kopf schüttele über die Selbstzerstörung dieser jungen Frau.
Die 21-jährige Autorin Rin Usami hat in ihrer Heimat Japan mit ihrem bereits zweiten Buch viel Anerkennung bekommen und wird als „Shooting-Star“ der japanischen Literatur gefeiert.

aus dem Japanischen übersetzt von Luise Steggewentz

Bewertung vom 04.06.2023
Kashiwai, Hisashi

Das Restaurant der verlorenen Rezepte / Die Food Detectives von Kyoto Bd.1


gut

Eine kleine Notiz weist in einem Gourmet-Führer auf ein Restaurant hin, das man in Kyoto tatsächlich suchen muss, aber wenn man es dann gefunden hat, wird man mit wunderbaren japanischen Köstlichkeiten verzaubert.

In vielen einzelnen Geschichten wird von den Menschen erzählt, die zu Nagare, einem ehemaligen Polizisten, und seiner Tochter Koishi ins Restaurant kommen. Sie bekommen das Tagesmenü serviert, werden mit besonderen Gerichten verwöhnt. Was sie jedoch eigentlich an diesen Ort treibt, ist die Suche nach verlorenen Rezepten. Rezepten von Gerichten, mit denen sie besondere Erinnerungen verbinden, oft aus der Kindheit. Nagare ermittelt akribisch, nachdem seinen Tochter von den Gästen die benötigten Informationen über den Geschmack oder das Aussehen des Gerichts erfragt hat. Wenn die Gäste dann in der Regel nach 14 Tagen wiederkommen, schaffen Nagare und seine Tochter eine Atmosphäre, die mit Hilfe des gekochten Gerichts, die Erinnerungen weckt.
Den Preis für das nachgekochte Gericht bestimmen die Gäste selber.
Das Buch bietet einen poetischen Einblick in die japanische Küche, die Besonderheiten der Regionen sowie der Jahreszeiten. Diese liebevoll und aufwändig gekochten Gerichte möchte man wirklich selber probieren.
Die Beziehungen zwischen den Menschen scheinen in Japan sehr traditionell geprägt zu sein. Es liest sich für mich eher ungewöhnlich, dass die verstorbene Frau durch einen Hausaltar geehrt wird, unverheiratete Kinder bei den Eltern wohnen, die Frau für den Haushalt zuständig ist. So detailliert und liebevoll die einzelnen Gerichte beschrieben werden, hätte ich mir auch die Darstellung der Charaktere gewünscht, die doch sehr oberflächlich bleiben.
Die einzelnen Geschichten sind leider sehr ähnlich konstruiert, einzelne Textpassagen wiederholen sich regelmäßig. Vielleicht soll das ein gemeinsamer Rahmen für die Geschichten sein, aber gerade da hätte ich mir mehr Kreativität gewünscht.