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Lesereien

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Insgesamt 79 Bewertungen
Bewertung vom 17.01.2023
Belim, Victoria

Rote Sirenen


sehr gut

Victoria Belims autobiographisches Buch „Rote Sirenen“ dokumentiert die Rückkehr der Autorin zur eigenen Kultur und in das Land, in dem sie aufgewachsen ist. Gleichzeitig ist es eine Spurensuche innerhalb der eigenen Familie und eine Reise in die Geschichte der Ukraine.

Victoria Belim wächst als Tochter eines russischen Vaters und einer ukrainischen Mutter in der Ukraine auf. Die weitere Familie ist jedoch durch zahlreiche Kulturen geprägt, was sich in Belims Verständnis von Identität und Kulturzugehörigkeit widerspiegelt. Mit fünfzehn zieht sie mit ihren Eltern in die USA, arbeitet später in Brüssel und kommt erst im Rahmen der Recherchen für das Buch für längere Zeit in die Ukraine zurück.

Sie begibt sich auf die Spuren ihres Urgroßonkels Nikodim, nachdem sie im Tagebuch ihres Urgroßvaters liest, dass dieser in den 1930er verschwand. Zuvor hatte er für die Unabhängigkeit der Ukraine gekämpft.

Belims Reise und das Buch, welches daraus entstanden ist, malen das Bild eines Landes und seiner Menschen zwischen Westen und Osten, zwischen Kulturen, Ideologen und Kriegen. Ein Land, das sich stets im Dazwischen wiedergefunden hat, dem immer eine Schwellenposition zwischen den Welten zugewiesen wurde. Ein Land, das Konflikte oft am härtesten zu spüren bekommen hat, wie auch der aktuelle Krieg wieder zeigt. Oder um an dieser Stelle Belims Großmutter zu zitieren: Ein „Blutland“.

Es ist faszinierend zusammen mit der Autorin zu lernen, zu erfahren und zu entdecken. Sie lässt uns auf authentische, auf glaubhafte Weise an ihrer eigenen Lebensgeschichte und an der ihrer Vorfahren teilhaben. Nie rutscht sie ins Rührselige oder Kitschige ab. Und so entstehen kostbare Einblicke, ein lesenswertes Familiendokument.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 14.01.2023
Köhlmeier, Michael

Frankie


ausgezeichnet

Was passiert mit dem Leben eines Vierzehnjährigen, wenn der Opa nach 18-jähriger Gefängnishaft plötzlich darin auftaucht?

Frankie lebt zusammen mit seiner Mutter in Wien. Die Mutter arbeitet als Schneiderin an der Volksoper. Frankie geht aufs Gymnasium in seinem Viertel. Zu seinem Vater hat er keinen Kontakt mehr.

Es ist ein Mikrokosmos, den sich Mutter und Sohn geschaffen haben. Gemeinsam schauen sie sich abends Tierdokus an, haben bestimmte Tage ausgemacht, an denen der eine für den anderen kocht. Ihr Leben ist beschaulich, verläuft in geregelten Bahnen. Bis zu dem Tag, an dem sie den Großvater aus dem Gefängnis abholen.

Frankie kennt den Großvater nicht, weiß nicht, wie er heißt oder was er verbrochen hat. Aber er übt eine Faszination auf ihn aus und allmählich kommt es zu einer zögerlichen Annäherung zwischen den beiden. Der Großvater bringt ihm das Schachspielen bei und das Rasieren. Frankie vermacht ihm sein Buch über das Weltall. Doch dann läuft in einer Nacht alles aus dem Ruder und ein Roadtrip wird zum dem Punkt, an dem sich alles wendet.

Michael Köhlmeier erzählt aus Frankies Perspektive davon, wie ein Fremdkörper in ein Alltags- und Familienkonstrukt einbricht und das Leben eines Jugendlichen aus der Bahn wirft.

Es ist Köhlmeier gelungen, einen Roman zu schreiben, an dem jedes Wort an seinem Platz sitzt, jeder Satz stimmt. Alles fügt sich ineinander, ergibt ein erzählerisches Kunstwerk. Auf knappen zweihundert Seiten erlaubt es einem Köhlmeier tief in die Geschichte einzutauchen, Teil von Frankies Welt zu werden. Das ist deshalb bemerkenswert, weil sowohl die Perspektive eines Vierzehnjährigen als auch das Aufeinandertreffen von Großvater und Enkel als Elemente einer Geschichte das Potential in sich tragen, ins Unglaubwürdige oder Kitschige abzurutschen. Bei Köhlmeier passiert das jedoch an keiner Stelle. Er bewahrt die Balance, lässt einen Erzählfluss entstehen, dem man sich nicht entziehen möchte.

So sollte gute Literatur sein.

Bewertung vom 22.10.2022
Roffey, Monique

Die Meerjungfrau von Black Conch


sehr gut

Vor Hunderten von Jahren wurde Aycayia von den Frauen ihres Stammes wegen ihrer Schönheit verflucht. Fortan fristet sie ein einsames Leben als Meerjungfrau. Doch dann wird sie durch die Lieder des Fischers David zu dessen Boot gelockt und es entwickelt sich eine Freundschaft. Bis Aycayia während eines Fischerwettbewerbs von zwei Amerikanern gefangen wird. Doch David rettet Aycayia und versteckt sie bei sich Zuhause. Er ahnt nicht, dass weder der Fluch noch die Dorfbewohner die Meerfrau in Ruhe lassen werden.

Monique Roffey erzählt in “Die Meerjungfrau von Black Conch” ausgehend von der fantastischen Figur der Meerjungfrau von Kolonialismus und Unterdrückung. Black Conch, der Ort, an dem die Geschichte spielt, steht dabei stellvertretend für die Länder der Karibik und besonders für Trinidad und Tobago. Die Geschichte des Landes, die Besiedlung, die Ausrottung der Einwohner und die Inbesitznahme durch die Weißen werden im Laufe des Romans nachgezeichnet. Dies geschieht wie nebenbei, entfaltet sich parallel zur Hauptgeschichte und ist gerade deshalb so bemerkenswert.

Auf sprachlicher Ebene gelingt es Roffey diese Themen umzusetzen, das Schicksal der mythischen Figur mit der Geschichte und Gegenwart eines Landes zu verknüpfen. Doch schon vor Beginn der zweiten Hälfte des Romans schleichen sich Längen ein. Die Handlung staut sich dann, driftet in manchen Momenten gar ins Kitschige ab. Das ist schade, besonders nach dem starken Beginn und deshalb fällt diese Rezension insgesamt etwas weniger positiv aus als ich mir es selbst erhofft hatte. Alleine Gesine Schröders großartige Übersetzung hat ein uneingeschränktes Lob verdient.

Bewertung vom 16.10.2022
Roderigo, Rosa

Rosa kocht vegan


sehr gut

Ich bin seit vielen Jahren Veganerin und kaufe mir nur ganz selten Kochbücher. Rosa Roderigos Kochbuch hat mich aber schon auf den ersten Blick angesprochen. Es hat bunt und lebendig auf mich gewirkt. Und das ist es auch! Der Autorin gelingt es, die Vielfalt der veganen Küche abzubilden, ohne dass die Rezepte zu kompliziert werden. Vieles besteht aus nur wenigen Zutaten und lässt sich deshalb leicht nachkochen.

Gleichzeitig lässt sich in diesem Buch für jeden Geschmack und Anlass ein Rezept finden. Egal ob für ein Picknick oder eine Geburtstagsfeier, ob türkische oder chinesische Küche: Es ist wirklich für alle etwas dabei! Ich bin überzeugt, dass das Buch vor allem den Horizont von neuen Veganern und von Vegan-Skeptikern erweitern kann. Spätestens beim Anblick der Fotos des Zupfkuchens oder des Germknödels kriegt man Lust, sofort drauflos zu backen.

“Rosa kocht vegan” ist also ein ansprechendes Kochbuch, das ich gerne empfehle. Mein einziger Kritikpunkt sind die vielen Superlative, Anglizismen und Alliterationen, die manchmal etwas zu gewollt hip wirken. Ich verstehe, dass das Buch auch für ein jüngeres Publikum interessant sein soll, aber beim Lesen und Durchblättern fällt diese etwas künstlich wirkende Sprache doch sehr auf. Da das aber letztlich für mich kein Grund ist, auf neue und richtig leckere vegane Rezepte zu verzichten, tut das meiner Empfehlung keinen Abbruch.

Bewertung vom 04.09.2022
Louis, Édouard

Anleitung ein anderer zu werden


ausgezeichnet

Wenn man bereits Edouard Louis’ Buch „Das Ende von Eddy” sowie die beiden Bücher über seine Eltern gelesen hat, dann könnte man sich fragen, ob man nicht schon alles gehört hat, was dieser junge Autor über sein Leben und über seinen sozialen Aufstieg zu erzählen hat. Die Antwort auf diese Frage lautet ganz klar nein und „Anleitung ein anderer zu werden“ ist der Beweis dafür.

Es ist zusammen mit „Das Ende von Eddy“ sein wohl bis dato mutigstes Buch, weil es so persönlich ist und auf eindrückliche, bewegende Weise aus der eigenen Vergangenheit erzählt. Während „Das Ende von Eddy“ vor allem die Kindheit und Jugend zum Thema hat, also die Zeit vor seiner Flucht nach Amiens, setzt „Anleitung“ genau da an.

Der Wunsch nach einem anderen, einem besseren Leben, das nicht von Armut, Gewalt und Prekarität geprägt ist, in der das Schicksal einer jeden Generation der vorherigen bis ins Detail gleicht und in der sich ein homosexueller Junge nicht verstecken und verstellen muss, sorgt dafür, dass der Wunsch entsteht, ein anderer zu werden. Edouard, damals Eddy, will raus aus dem Dorf, will woanders leben, reich werden. Die Flucht wird zu seinem größten Traum, zu seiner Raison d’Être.

Früh merkt er, dass es die Kunst, das Theater, das Kino, die Literatur und das Wissen sind, die ihm den Aufstieg ermöglichen können. Er trifft auf Menschen, die ihm helfen, die ihn dazu ermutigen, seinen Weg zu gehen. Elena, seine Freundin im Lycée und deren Familie werden die ersten, die er sich zum Vorbild nimmt. Doch als er Didier Eribon kennenlernt, wird ihm auch Amiens zu klein. Er will nach Paris, schafft es sogar, an der prestigereichen École normale supérieure aufgenommen zu werden und beginnt schließlich zu schreiben.

Die Aneignung von Wissen, aber auch seine Hartnäckigkeit und der unbedingte Wunsch, sich von der eigenen Herkunft so weit wie möglich zu entfernen, werden zu treibenden Kräften. Louis ändert seinen Namen, lässt sich die Zähne richten, ändert seine Art zu reden, zu lachen, zu essen, sich zu kleiden und sogar zu gehen. Changer (frz. Originaltitel), sich verändern: davon ist fast alles in seinem Leben betroffen.

Édouard Louis hat ein kraftvolles und beeindruckendes Buch geschrieben. Aus jeder Zeile sprechen Schmerz, aber auch ein ungeheurer Wille, ein Antrieb und es ist genau das, was so sehr beeindruckt. Eine große Empfehlung für dieses Buch, das eines der besten ist, die ich in diesem Jahr bisher gelesen habe.

Bewertung vom 22.08.2022
Chainani, Soman

Es kann nur eine geben / The School for Good and Evil Bd.1


ausgezeichnet

Roman Chainani entführt uns mit “The School for Good and Evil” als Leser in eine Welt, in der Kinder aus dem Ort Gavaldon entführt werden, um später in Märchen- und Geschichtenbüchern aufzutauchen. Sie kommen an zwei Arten von Schulen, der für die Guten und der für die Bösen. Die guten Kinder werden dazu erzogen, Helden und Prinzessinnen zu werden, während den Bösen ein Schicksal als Hexen oder gemeinen Trollen bevorsteht.

In Gavaldon macht man sich darauf gefasst, dass dieses Mal die hübsche Belle für die gute Schule und die grummelige Agathe für die Schule der Bösen abgeholt werden. Doch dann ist da noch Sophie und die setzt alles daran, dass man sie für die Schule der Guten holt. Als es so weit ist, holt man sie tatsächlich und Agathe, ihre Freundin, rennt ihr verzweifelt hinterher, um sie zu retten und wird dadurch selbst mitgenommen. Doch entgegen aller Erwartungen ist es Agathe, die bei den Guten landet und Sophie, die zu den Bösen kommt. Beide sind überzeugt, dass es sich nur um einen Fehler handeln kann und fühlen sich fehl am Platz. Sie wollen die Schulen verlassen. Agathe will zurück in ihr Dorf und Sophie will als Prinzessin ausgebildet werden und ihren Prinzen finden.

Manche der spannendsten Bücher meiner Kindheit und Jugend waren gut geschriebene Fantasy-Romane. Und hätte ich “The School for Good and Evil” damals gelesen, so hätte ich sicherlich auf die Fortsetzung hingefiedert. Doch auch als erwachsener Leser vermochte mich der Roman zu fesseln und ich habe ihn gerne gelesen. Die Idee, die der Geschichte zugrunde liegt, finde ich grandios. Die Charaktere sind nahbar und glaubwürdig und die Welt, die der Autor erschaffen hat, erscheint in reichen und lebendigen Bildern. Insgesamt ist es ein stimmiger Roman, den ich jungen, junggebliebenen und auch allen älteren Lesern sehr empfehlen kann. Fantasy- und Märchenvernarrte werden an ihm sicherlich besonders viel Freude haben.

“The School for Good and Evil” ist ein wunderbares magisches Jugendbuch.

Bewertung vom 15.08.2022
Kitamura, Katie

Intimitäten


ausgezeichnet

Die Protagonistin von Katie Kitamuras Roman “Intimitäten” zieht von New York nach Den Haag, um am Internationalen Gerichtshof als Dolmetscherin zu arbeiten.

“Intimitäten” ist ein Roman, der von Beobachtungen lebt, von seinen Charakteren und deren Innenleben und nicht von einem strikten Handlungsbogen und Spannungsaufbau. Deshalb macht es meiner Meinung nach auch nur wenig Sinn, seinen Inhalt in wenigen Zeilen zu beschreiben. Es ist ein introspektiver Roman, in dem Menschen aufeinandertreffen, die alle unter ganz unterschiedlichen Umständen in diese Stadt kommen, deren Wege sich kreuzen, die Nähe zueinander aufbauen, um sich im nächsten Moment wieder voneinander zu entfernen. Vor dem Hintergrund der Gerichtsprozesse, von menschlicher Grausamkeit und der Frage nach Recht und Unrecht, wird Intimität mit Entwurzelung, Unverständnis und Unmenschlichkeit parallelisiert.

Gleichzeitig kontempliert der Roman die Rolle von Sprache. Er stellt die Frage, was Übersetzung bedeutet und was sie nicht nur mit dem Übersetzer, sondern auch mit dem Übersetzten und dem Zuhörer macht. Wie bringt Sprache Menschen näher? Wann bringt sie sie auseinander? All diesen Fragen geht der Roman vor dem Hintergrund eines Prozesses am Internationalen Gerichtshof auf kluge Weise nach. "Intimitäten" ist ein Roman, der sich lohnt, für den man sich aber auch öffnen muss und den man erst dann richtig wertschätzen kann.

Ich jedenfalls mag diese Art “leiser” Romane, die sich auf ihre Charaktere konzentrieren und die Literatur als eine Wiedergabe des Lebens verstehen, in dem sich Spannung, Dramatik und Wendepunkte nicht ständig aneinanderreihen. Deshalb: Lest “Intimitäten”!

Bewertung vom 25.07.2022
Bervoets, Hanna

Dieser Beitrag wurde entfernt


ausgezeichnet

Dieser Beitrag wurde entfernt. Das ist ein Satz, dem jeder von uns im Internet schon begegnet ist. Aber wissen wir auch, was dahinter steht und wer da was entfernt hat?

Ich bin den „digitalen Aufräumarbeitern“ zum ersten Mal in Form eines Theaterstücks begegnet, das gezeigt hat, was es mit einem Menschen macht, wenn er tagtäglich in die Abgründe des Internets starren muss. Um diese Art der Arbeit wird natürlich ein Mantel des Schweigens gehüllt. Denn das, was darunter zum Vorschein kommt, ist so unmenschlich, dass es nur fassungslos machen kann.

Hanna Bervoets bricht dieses Schweigen in ihrem neuen Roman. Ihre Protagonistin arbeitet für eine Firma, die Beiträge für eine große Plattform prüft. Mindestens fünfhundert Beiträge müssen pro Tag gesichtet werden, Pausen gibt es im Grunde keine und wenn die Genauigkeitsrate eines Mitarbeiters unter 90% Prozent liegt, steigt der Druck auf ihn. Doch diese Arbeitsbedingungen sind nicht das Schlimmste. Das Schlimmste ist der Content, die Videos von Kindern und Teenagern, die sich selbst verletzten, die Tiere, die getötet werden und die ganze Bandbreite der Verschwörungstheorien.

Der Protagonistin des Romans scheint die Arbeit jedoch nichts auszumachen. Während ihre Kollegen psychisch immer mehr leiden und nicht zuletzt beginnen, den Verschwörungstheorien selbst Glauben zu schenken, bleibt Kayleigh scheinbar unbeeindruckt. Oder?

Bervoets Roman ist ein Porträt der Arbeitswelt im digitalen Zeitalter und stellt dabei diejenigen in den Mittelpunkt, die nicht im Silicon Valley arbeiten, die nicht vom Boom des Internets und des Digitalen profitieren, sondern die ganz im Gegenteil in deren Schatten stehen und die Drecksarbeit machen müssen. Dieses Thema ist so wichtig, dass das Buch meines Erachtens nach ruhig hätte länger sein können. Aber auch so bietet es einen starken und eindrücklichen Ausgangspunkt für weitere Gedanken und hoffentlich für eine gesellschaftliche Debatte.

Bewertung vom 25.07.2022
Medel, Elena

Die Wunder


gut

Elena Medels Roman “Die Wunder” folgt den Schicksalen zweier Frauen, María und Alicia, Großmutter und Enkelin. Beide haben mit gesellschaftlichen und patriarchalen Strukturen zu kämpfen und versuchen, sich von Klassenzwängen zu befreien.
María muss nach der Geburt ihrer unehelichen Tochter Carmen ihren Heimatort verlassen und beginnt in Madrid zu arbeiten. Ihre Tochter entgleitet ihr immer mehr, bis sie den Kontakt zu ihr völlig verliert.
Alicia muss als junges Mädchen den Selbstmord ihres Vaters verkraften, der der Familie hohe Schulden hinterlässt. Mit ihrer Großmutter verbindet sie zunächst, dass auch sie ihre Mutter, Carmen, verlässt.

Das Leben beider Frauen gestaltet sich im Folgenden als ein Kampf um Freiheit, nicht zuletzt um finanzielle Unabhängigkeit und um eine Loslösung von gesellschaftlichen und patriarchalen Strukturen sowie von Klassenzwängen.

Wir erfahren aus dem Leben dieser Frauen in Rückblenden, in Form einer Aneinanderreihung von Momenten. Die Autorin gewährt tiefe Einblicke in das Innenleben ihrer Charaktere, indem sie fast ungefiltert, stellenweise einem inneren Monolog ähnlich, denken lässt.
Doch diese Form führt dazu, dass man sich nur schwer in die Geschichte hineinfühlen kann und dass man lange in bestimmten Momenten festgehalten wird. Das ist manchmal etwas ermüdend und vermag nicht so zu fesseln, wie man es sich wünschen würde. Dem Roman mangelt es daher an Bewegung und an Dynamik.

Das ist vor allem deshalb schade, weil er sich so wichtiger Themen annimmt, sie durch die Lebenswege zweier Frauen verkörpern lässt und die Strukturen und Funktionsweisen einer Gesellschaft analysiert, die diesen Frauen zahlreiche Steine auf den Weg legt.

Bewertung vom 10.07.2022
Simons, Martin

Beifang


ausgezeichnet

Als das Haus seiner Eltern, in dem er aufgewachsen ist, verkauft werden soll, begibt sich der Erzähler zurück in seinen Heimatort am Rande des Ruhrgebiets: Selm-Beifang. Dort setzt er sich zum ersten Mal mit der Geschichte seiner Familie und besonders die seines Vaters und Großvaters auseinander. Es ist eine Geschichte, die geprägt ist von Prekarität, Armut und Chancenlosigkeit.

So wurde der Großvater nach dem Krieg zwar Bergmann, aber: „was er [...] überhaupt nicht gern war, war Bergmann. Und das blieb er sein Leben lang.“ Er wäre gerne gereist und hatte auch ein Talent für das Fotografieren, was er nie richtig ausleben konnte. Spätestens dann nicht mehr, als dem Vater des Protagonisten der Blinddarm durchbricht und der Großvater seine Kamera verkauft, um die Behandlung bezahlen zu können.

Auch beim Vater wird die Entscheidung über die Berufswahl durch die Umstände bestimmt. Um Fahrtkosten für Bus und Bahn zu sparen, muss er eine Ausbildung im Fernsehgeschäft machen. Dann ist da noch die Großmutter, die eigentlich Kinderärztin werden wollte und am Ende ihres Lebens sagt: „Ich wollte es doch ganz anders“.

Es sind die Umstände, der Ort, die Lotterie des Lebens, die diese Menschen gefangen halten und die den Vater behaupten lassen, als er vom Sohn das Buch „Die Asche meiner Mutter“ geschenkt kriegt: „Bei uns war es schlimmer“. Fatalismus und oft auch das Zerbrechen am eigenen Schicksal bestimmen über Generationen hinweg das Leben der einzelnen Familienmitglieder.

„Er machte nicht den verbreiteten Fehler, die grundsätzlichen Ungerechtigkeiten des Lebens als etwas Persönliches misszuverstehen.“

Die Lektüre hat mich an Didier Eribon erinnert, an Edouard Louis, an Christian Baron, die bekanntlich auch auf einem literarischen Weg ihre Beziehungen zum Vater reflektieren. Martin Simons Roman reiht sich ein in diese Gruppe von Werken, die sich mit der sozialen Herkunft der eigenen Familie auseinandersetzen und geht in ihr durchaus nicht unter, im Gegenteil.

Das Buch wird deshalb all diejenigen Leser überzeugen können, die das unbeschönigte, glaubhafte Erzählen über das Schicksal einer Arbeiterfamilie zu schätzen wissen und nicht zuletzt auch all diejenigen, die sich für literarische Darstellungen des Lebens im Ruhrgebiet interessieren. Mich jedenfalls hat es vollends überzeugt.