Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Herbert Huber
Wohnort: 
Wasserburg am Inn

Bewertungen

Insgesamt 230 Bewertungen
Bewertung vom 01.01.2022
Letzte Rosen
Beil, Lilo

Letzte Rosen


sehr gut

Die Reihe der Gontard-Krimi (nach dem inzwischen pensionierten Kriminaler Friedrich Gontard) wird mit Letzte Rosen um einen weiteren Fall bereichert. Anna und Friedrich Gontard werden überraschend zum Urlaub nach England eingeladen. Erst am Ende des 7. Kapitels (S. 48) wird der Urlaubs- und Reiseroman zum Krimi. Doch auch nicht so richtig, denn der Tote William Taylor starb nach Arztbefund eines natürlichen Tods. Oder doch nicht?
Die Autorin webt ein weites Verwandten- und Bekanntennetz und legt viele Spuren. Man wartet auf die in der Luft liegende Eskalation oder Explosion. Sie kommt. Die abseitige Nachbarin Gwendolyn Blake wird ermordet aufgefunden. Da sind die Leserinnen schon im 19. Kapitel (S. 107) und der Krimi nimmt an Fahrt auf.
Der komplexe Plot führte mich auf manche falsche Spur, ist aber am Ende durchaus einleuchtend.
Die Autorin versteht es ein schrulliges englisches Landleben an die Leserinnen zu bringen. Dadurch erhält der Krimi seine besondere Atmosphäre. Dass die beiden Gontards und ziemlich viele andere Deutsche oder Leute deutschen Ursprungs sich da einfügen nimmt man gerne ab.
Eine intellektuelle Note bringen viele literarische und künstlerische Bezüge. Trickreich wird dem Ex-Deutschen Sigmund Bloom ein Hang Schiller und Goethe zu zitieren angehängt, Dadurch fließen zahlreiche Zitate als running gag in den Text. Mit einem Kniff gelingt es, Schillerzitate auch ohne Sigmund Bloom unterzubringen. Friedrich Gontard sinniert darüber, was wohl Bloom in einer bestimmten Situation von Schiller anbringen würde. Und flugs, kommt wieder ein Zitat.
Eine zweite intellektuelle Anreicherung wird übertrieben. Viele Personen des Krimis ähneln großen Bekannten, wie Miss Marple, Vincent van Gogh, Alice im Wunderland, Inspektor Japp (von Agatha Christie), … Für mich nimmt das überhand. Obwohl – an Agatha Christie erinnert einiges in diesem Krimi.
Dazu kommen – für den Plot wichtig – die Schriftstellerinnen Virginia Woolf und Vita Sackville-West, aber auch Shakespeare und andere. Neben der Krimilektüre tauchen die Leserinnen gleich ein in die englische Kulturgeschichte.

Bewertung vom 12.04.2019
Mädchen im roten Kleid
Beil, Lilo

Mädchen im roten Kleid


sehr gut

Die Autorin Lilo Beil greift in ihren Krimis meist brisante, aktuelle Themen auf. In Mädchen im roten Kleid sind es gleich mehrere:
* Raubkunst, hier am Fall von geraubten Gemälden aus der NS-Zeit. Ein Thema, das die deutsche Öffentlichkeit immer wieder beschäftigt. Aktuell geht es in Deutschland (und Europa) aber auch um Geraubte Dinge aus der Kolonialzeit.
* Künstler und Intellektuelle im Exil. Es erstaunt immer noch, wieviele Lebensläufe und Karrieren von NS-Deutschland zerstört wurden. Man kann sich das heute kaum noch vorstellen, umso wichtiger ist es, das immer in Erinnerung zu rufen.
* Erinnerung. Dieses Thema ist natürlich in allen Krimis prominent vertreten, doch im Mädchen im roten Kleid ist es ein extrem wichtiges Handlungsmoment.
Der Krimi beginnt leise während eines Urlaubs des ehemaligen Kriminaler Friedrich Gontard und seiner Frau Anna in Südfrankreich. Eine junge Frau, der sie öfters begegnen, erweckt die Aufmerksamkeit Gontards und den Argwohn der Leser.
Szenenwechsel nach Heidelberg.
Die erste Leiche wird nahe am Neckar abgelegt. Während die Leser jetzt darauf warten, wie das mit den Andeutungen in Südfrankreich zusammenhängt, wird man auf eine Kunstauktion geführt. Ohne dass man es merkt, steckt man schon mitten drin im Kriminalfall. Die Auktion und das Verhalten einiger Bieter sind die Schlüssel für das Geschehen, das eine weit zurückliegende Vergangenheit (von der viele schon hofften, sie sei vergessen und vergeben) mit der Gegenwart verbindet.
Ganz klassisch gibt es auch noch einen zweiten Mord.
Dann muss man der Autorin noch abkaufen, dass der 80-jährige Ex-Kommissar Gontard vom aktuellen Heidelberger Kripochef Manfred Berberich zur Aufklärung hinzugezogen wird, ja sie wird ihm nahezu übertragen.
Die Leser werden an der Klärung des Falls beteiligt, die dahinter liegende Motivlage ist komplex aber durchaus glaubwürdig.
Das Verdienst der Autorin ist es, dass sie Gegenwartsthemen geschickt in Kriminalfälle ummünzt und das Ganze mit mehr oder weniger liebenswürdigen Figuren und der gewohnten Umgebung von Pfalz, Bergstrasse und Odenwald ausbreitet.
Ein kurzweiliger Krimi mit Anregungen zum Nachdenken.

Bewertung vom 11.12.2018
How To Be Right (eBook, ePUB)
O'Brien, James

How To Be Right (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Als ich vor kurzem zum ersten Mal politische Diskussionen bei LBC (Leading Britain‘s Conversation) hörte, war ich frappiert. James O‘Brien, einer der Talkshow-Hosts, agierte ganz anders, als ich es von deutschen Medien her kannte.
How to Be Right: … in a World Gone Wrong ist eine Einführung oder Nachlese zur täglichen Diskussion bei LBC durch den Hots James O‘Brien.
In den Kapiteln
1.Islam and Islamism
2.Brexit
3.LGBT
4.Political Correctness
5.Feminism
6.Nanny States and Classical Liberals
7.The Age Gap
8.Trump
diskutiert O‘Brien diese Themen und läßt kurze Interviewausschnitte auffahren. Während man bei uns möglichst ausgewogen jeder noch so schmarrigen Meinung breiten Raum gibt und sie meist „mal so stehen läßt”, wendet O‘Brien die Sokratische Methode (Hebammentechnik - Maieutik) an. Er läßt die Hörer ausführlich zu Wort kommen, hört zu, widerspricht selten, fragt dann nach Begründungen oder Bedeutungen und läßt da nicht locker. Er will den Anrufern nichts entgegen setzen, will sie nicht belehren: sie verrennen sich von selbst. Nachteil: die Anrufer schauen dabei oft doof aus. Aber ist das ein Nachteil? O‘Brien will nicht zeigen, dass er recht hat, sondern dass viele Leute ihre Meinung trotz hartnäckiger Nachfrage nicht begründen können.
Dabei ist er immer fokussiert und manchmal – zumindest für die Zuhörer – witzig, so wenn er Richard, der sich in der Diskussion verrannt hatte, unterbricht: „I‘m just going to interrupt you there Richard, which some may consider an act of mercy”. Übrigens nennt O‘Brien immer nur die Vornamen der Anrufer.
Da O‘Brien diese Technik der Diskussion in allen Kapiteln durchgängig anwendet kann es für manche Leser, die mit seiner Technik längst vertraut sind, wiederholend wirken.
Wer aber den Standpunkt eines liberalen britischen Journalisten zu den im Inhalt aufgeführten Punkten kennenlernen will, sich für Diskussionen bei LBC vorbereiten will oder sein eigenes Diskussionsverhalten verbessern will, wird das anregende, schnell zu lesende Buch mit großem Vergnügen und Gewinn lesen.

Bewertung vom 25.05.2018
Der Jude, der am Sabbat nicht betet
Samokovlija, Isak

Der Jude, der am Sabbat nicht betet


sehr gut

In der lobenswerten Reihe "Weltlese", herausgegeben von Ilja Trojanow, werden lesenswerte, meist unbekannte Autoren aus aller Welt einem breiten Publikum zugänglich gemacht. Der Autor Isak Samokovlija ist im Band „Der Jude, der am Sabbat nicht betet” mit acht Erzählungen vertreten.
Das Genre Erzählungen oder Kurzgeschichten hat es in Deutschland sonderbarerweise immer noch hart. Allen, die bei diesem Genre zu schnell abwinken, sage ich: viele der acht Erzählungen sind knapp gefasste Lebensromane.
Der Band enthält die folgenden Erzählungen:

Der Jude, der am Sabbat nicht betet
Der Lastenträger Samuel
Simha
Die Drina
Die rote Dahlie
Davokas Geschichte von Jahijels Aufbegehren
Davokas Geschichte von der reinen Wahrheit
Hanka

Stellvertretend für die anderen Erzählungen erläutere ich kurz „Der Lastenträger Samuel”.
Das Mädchen Saruca wächst in einer großen Familie auf und hat zunächst noch Träume für ihr weiteres Leben. Doch der frühe Tod ihrer Mutter macht einen Strich durch die Rechnung. Ab jetzt geht es um das halbwegs erträgliche Leben. Auch Lastenträger Samuel hat schlechte Startbedingungen. Durch die angepeilte Verheiratung mit Saruca wagt auch er zu träumen. Sie heiraten, aber werden weiter rackern müssen.
Der kleine Roman erzählt auf wenigen Seiten die Geschichte der beiden jungen Menschen und ihrer Verwandten, die ihrem Milieu nicht entrinnen können.
Einzig „Die Drina” sagte mir nicht so zu, obwohl auch diese Erzählung ihre starken Stellen hat. Gemäß ihrem Titel geht es nicht um Menschen pars pro toto, die um ihre Zukunft bangen und kämpfen, sondern um alles Mögliche rund um den Fluss Drina.
Acht Liebes– und Lebenserzählungen, die es wert sind dem Vergessen entrissen zu werden.
Sehr zu empfehlen.

Bewertung vom 29.03.2018
In kindlicher Liebe
Beil, Lilo

In kindlicher Liebe


sehr gut

Sophie Dahm, Nichte von Charlotte Rapp, der Miss Marple von der Bergstraße, wird durch Telefonanrufe belästigt. Hinweise lassen vermuten, dass der Anrufer mit einer Serie von Morden an Frauen in der Region zusammenhängt. Charlotte schaltet ihren Lebensgefährten Ferdinand Guldner, pensionierter Kriminaler, ein. Beide ermitteln routiniert. Einige Fährten, die die Autorin legt, erweisen sich als falsch. Ziemlich am Ende zieht sie den Joker.
Die Stärken der Krimis von Lilo Beil liegen in den sympathischen Ermittlern (wenn man die Trinker oder aus anderen Gründen vom Dienst suspendierten Kriminaler aus anderen Krimis satt hat), dem Regionalkolorit und dem Thema unter dem viele ihrer Krimis stehen. Im vorliegenden Krimi „In kindlicher Liebe” ist es Mobbing und die zu große Vertraulichkeit, die Zeitgenossen in Schwierigkeiten bringt. Hier ist es die naive Sophie, die ständig auf Männer hereinfällt, weil sie zu arglos auf jene zugeht.
Die Ermittlungen durch die Amateurin Charlotte und immerhin Ex-Profi Ferdinand halten die Leser immer wach, setzen sie aber nicht auf Hochspannung. Anflüge dazu kommen auf, wenn Spohie in kindlicher Unbefangenheit (obwohl sie um die vierzig Jahre alt ist) ihren neuen Auftraggeber, den ominösen, ihr völlig fremden Architekten Gabriel Vonderheid in ihre Mobbingaffäre einweihen will. Der Leser glaubt es kaum.
Zum ersten Mal hielt ich den Atem an, als ein Treffen von Sophie in der Höhle des vermeintlichen Löwen Vonderheid arrangiert wird.
Eine lange Reihe prominenter Künstlerkollegen werden im Text genannt: William Shakespeare, ..., Paula Modersohn-Becker, Petrarca, ... Edgar Allan Poe, Monty Python, Martin Helmchen, Marcel Proust, ... Aber keine Angst, wenn die Liste auf Seite 46 abgearbeitet ist, bleibt es einige Seiten ruhig. Doch dann werden weitere berühmte Maler, Musiker und Schriftsteller namentlich eingestreut.
Manche Szenen kamen mir nicht recht glaubwürdig vor. Akzeptierbar noch die kunstbeflissenen Protagonisten. Sie kennen also die Rolle der Platée in Philippe Rameaus (jetzt ist der auch noch untergebracht!) gleichnamiger Oper. Einverstanden.
Doch dass Charlotte Rapp und der versierte Ex-Kriminaler Ferdinand Guldner völlig ahnungslos keinen Zusammenhang sehen, als Sophie, die von einem Unbekannten – möglicherweise einem verflossenen Verehrer – drangsaliert wird, bei den gesungenen Zeilen „So hat sich Amor immer gerächt. Wie grausam ist Amor, wenn er gekränkt wird” bleich wird, nehme ich nicht ab.
Nett und ganz in meinem Sinne geißelt die Autorin an etlichen Stellen die „läppische Beschörungsfomrmel” „Alles gut”. Witzig nimmt sich die Autorin damit am Ende von Kapitel 16 selbst auf den Arm: „Und alles würde gut”.
Im insgesamt angenehm zu lesenden Krimi aus Südhessen wird am Ende natürlich auch alles gut.

Bewertung vom 03.02.2018
Mehr Zuhause als ich
Gerhard, Hans

Mehr Zuhause als ich


gut

Der gut in der Hand liegende, haptisch angenehme Band umfasst vierzehn Kurzgeschichten.
Munter gehe ich an die Lektüre, doch die Stories sind ziemlich gewöhnungsbedürftig. Wie im Verlagstext angekündigt beschreiben sie Alltagssituationen, oft von zerbrochenen Beziehungen. Am Vormittag hatte ich auf Bayern4 Klassik die Konzertouvertüre von Felix Mendelssohn Bartholdy „Meeresstille und glückliche Fahrt” gehört und jetzt lese ich „Windstille”. Das passt. Allmählich finde ich eine Beziehung zu den Stories. Angenehm empfinde ich, dass der Autor selten bewertet, obwohl ich manche Behauptungen nicht so ohne Weiteres teilen kann, so beispielsweise „Im Krieg geht es nicht um Belange, sondern um Leben und Tod” (S. 63, „Schlachtverlauf”). Ich meine eher, dass es beim Krieg meist um religöse Belange oder Machtansprüche geht, die dann auf Kosten von Menschenleben durchgesetzt werden.
Keine der ersten fünf Stories reißt mich vom Hocker, doch sie regen die Fantasie an.
Ich hoffe, der Autor wird sich noch steigern. Das Gegenteil trat ein.
Ab „Jetzt kostenlos spielen” ändert sich mein Eindruck. Diese Kurzgeschichte ist für mich ein Totalausfall. Ich kapiere nicht, was vor sich geht, was real ist oder nur ein Computerspiel. Und ein erzähltes Computerspiel interessiert mich weniger als ein Fahrrad, das in Peking umfällt. Den Wirrwarr kann ich nicht entwirren. Bei einigen Stories glaube ich zwar begriffen zu haben, was abläuft, kann mir aber keinen Reim darauf machen. Stellvertretend dafür nenne ich „Wir warten im Alpenglühen auf den Rest der Gruppe” und „Die Erfindung des Abakus”.
So legte ich am Ende den Band enttäuscht aus der Hand.

Bewertung vom 13.09.2017
Jazz hören - Jazz verstehen
Gioia, Ted

Jazz hören - Jazz verstehen


sehr gut

Ted Gioia, ein US-Jazzliebhaber, Autor und Komponist, will mit „Jazz hören - Jazz verstehen” seine Leser an den Jazz heranführen. Sie sollen befähigt werden „tiefer in die Geheimnisse des Jazz einzudringen und so zu lernen, diese Musik wertzuschätzen”.
Der Autor hat sein Ziel erreicht- Mit dem Schwerpunkt „Jazz hören” bringt er gegenüber dem jahrzehntelangen deutschen Standardwerk von Joachim-Ernst Berendt: „Das Jazzbuch” (später: „Die Story des Jazz”) eine zusätzliche wichtige Komponente hinzu. Das selbständige Hören steht im Vordergrund.
Gioia gliedert nach der Einleitung wie folgt
* Das Geheimnis des Rhythmus
* Im Inneren der Musik
* Die Struktur des Jazz
* Der Ursprung des Jazz
* Die Entwicklung der Jazzstile
* Einige Jazz-Neuerer
* Jazzhören heute
Es folgt ein Anhang mit·
* Die Elite: 150 Jazzmeister am Anfang und in der Mitte ihrer Karrieren
* Anmerkungen
* Danksagung
* Stichwortverzeichnis
Gioia beginnt also mit drei Kapiteln, die dem Hören und Verstehen gewidmet sind und schließt mit „Jazzhören heute” ab. Zum Jazzhören heute gibt Autor Gioia Tipps zuhauf.
Zu jedem Kapitel gibt der Autor willkommene Hörempfehlungen. Es sind weder lange Listen noch Hinweise auf ganze Alben, sondern einzelne Titel, die jeder Jazzliebhaber hat oder sich leicht besorgen kann.
Im Kapitel „Einige Jazz-Neuerer” liest man dann über Neuerer in ihrer jeweiligen Zeit (keine Avantgardisten von heute):
* Louis Armstrong
* Coleman Hawkins
* Duke Ellington
* Billie Holiday
* Charlie Parker
* Thelonius Monk
* Miles Davis
* John Coltrane
* Ornette Coleman
Im Anhang hätte man auf die Auflistung der 150 Jazzmeister verzichten können. Der Autor nennt nur die Namen und das Instrument.
Für mich als Laien, aber jahrezehntelangen Jazzhörer gab es viel Neues. Für alle Leser, die ich sich einen besseren Zugang zum Jazz erhoffen, gilt Gioias Befund: „Das allermeiste in der Sprache des Jazz ist für jeden verständlich, der bereit ist, sich ihm mit Geduld und offenen Ohren zu nähern”.
"Jazz hören - Jazz verstehen" unterstützt diese Bereitschaft auf gut lesbare Weise. Sehr zu empfehlen.

Bewertung vom 22.04.2017
Mission Musik
Blomstedt, Herbert

Mission Musik


sehr gut

Im Juli 2017 wird Herbert Blomstedt 90 Jahre alt. Rechtzeitig dazu legte die Musikkritikerin Julia Spinola einen Gesprächsband mit dem großen Dirigenten vor. Sie begleitete ihn auf Reisen und besuchte ihn an Orten, die in seiner Biografie eine wichtige Rolle spielen. Als grobe Leitlinie der Gespräche dient der wechselhafte Lebenslauf. Im Laufe seiner Karriere leitete Blomstedt eine Vielzahl von Orchestern, darunter die Staatskapelle Dresden, das San Francisco Symphony Orchestra, das NDR Sinfonieorchester und das Gewandhausorchester Leipzig.
Trotzdem eine klare Gliederung fehlt, entsteht beim Lesen der Dialoge ein zusammenhängendes Bild.
Der Titelzusatz „Mission Musik” ist klug gewählt. Für den Sohn eines Adventisten-Pastors ist die Partitur die Bibel des Dirigenten. So konziliant er mit den Orchestermitgliedern, dem Publikum und seinen Dirigentenkollegen umgeht, so unerbitterlich ist er, wenn es darum geht, genau das umzusetzen, das der Komponist übermittelte. Er ist zwar gläubiger und bekennender Adventist, aber seine Missionierungsfeld ist die Musik.
Ganz nebenbei beantwortet Blomstedt auch ungestellte Fragen: „Ohne Lebenserfahrung kann man nur die Noten spielen, aber nicht, was dahinter steckt” (S. 112). Freunde ganz anderer Musik, wie z.B. dem Blues, werden das bestätigen.
Der Anhang ist hilfreich, da man mit dem Personenregister auch später noch etwas finden kann. Allerdings ist die Diskografie unvollständig. Es fehlt beispielsweise eine großartige Interpretation von Johannes Brahms: Symphonie Nr. 4 mit den Bamberger Symphonikern, 1995.
Das trübt aber den sehr guten Eindruck des gut lesbaren Gesprächsbands kaum.
Für alle Klassikfreunde sehr zu empfehlen, für Freunde des Dirigenten Blomstedt unverzichtbar. Alle Leser werden sicher nach der Lektüre Blomstedts Interpretationen mit anderen Ohren hören.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 19.04.2017
Ein' feste Burg
Beil, Lilo

Ein' feste Burg


sehr gut

Beim Besuch der Burg Landeck mit ihrem Enkelkind wird das Ehepaar Anna und Friedrich Gontard von der Pflegerin Teresa Rosinski auf den toten Gottlieb Schellhorn aufmerksam gemacht. Für den pensionierten Kriminaler Gontard ist schnell klar: kein natürlicher Tod.
Wer je schon einen der Krimis um den (ehemaligen) Kripochef Ludwigshafen gelesen hat, wundert sich nicht, dass der Ermordete und die Hintergründe auch mit dem Vorleben der Gontards verquickt sind. Schellhorn war einst Religionslehrer von Anna Gontard und trug den Spitznamen „Luther”. Er war Anhänger der „Deutschen Christen” und bis zu seinem Tod immer noch Hitler-Verehrer. So las er kurz vor seiner Ermordnung in Paul de Lagarde: „Nationale Religion”, seinem Bibelersatz seit den Dreißiger Jahren.
Auch in „Ein feste Burg” darf der Pensionist Gontard seinen Nachfolger bei der Kripo Ludwigshafen, Manfred Berberich, bei der kriminalistischen Spurensuche unterstützen. Ja, das Ehepaar Gontard ist die treibende Kraft wenn es darum geht die Beziehungen aus Vergangenheit und Gegenwart aufzuspüren und das Verbechen aufzuklären.
Die Handlung und ihre Hintergründe lassen die Leser das Buch nicht aus der Hand legen. Geschickt werden akute Themen wie Pflegenotstand, gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, Antisemitismus und Luther-Gedenkjahr einbezogen und die Leser dürfen miträtseln. In der zweiten Romanhälfte befürchtete ich kurz, dass Friedrich Gontard sich naiv in die Höhle des Löwen begibt, ein – wie ich finde – inzwischen abgenutzes und unglaubwürdiges Spannungsmanöver. Doch die Autorin widersteht und der Fall wird ohne Effekthascherei aufgelöst.
Wie üblich bei Krimis plante ich „Ein feste Burg” auf drei Sitzungen zu lesen (einlesen – reinsteigern – fertig lesen), doch ich las in einem Satz durch. Ein thematischer Krimi wie aus einem Guß.