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Buchbesprechung
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Ich bin freier Journalist und Buchblogger auf vielen Websites. Neben meiner Facebook-Gruppe "Bad Kissinger Bücherkabinett" (seit 2013) und meinem Facebook-Blog "Buchbesprechung" (seit 2018) habe ich eine wöchentliche Rubrik "Lesetipps" in der regionalen Saale-Zeitung (Auflage 12.000).

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Insgesamt 359 Bewertungen
Bewertung vom 02.12.2022
Der Friedhof der vergessenen Bücher
Ruiz Zafón, Carlos

Der Friedhof der vergessenen Bücher


sehr gut

REZENSION – Fünf Jahre nach Abschluss seiner zwischen 2003 und 2017 veröffentlichten Tetralogie um die Bibliothek der vergessenen Bücher, die den spanischen Schriftsteller Carlos Ruiz Zafón (1964-2020) weltweit berühmt gemacht haben, dürfen seine Fans nun erneut in die mystisch-düstere Atmosphäre Barcelonas in der doch nur fiktiven Welt des Autors eintauchen: Nach der deutschen Hardcover-Ausgabe (2021) erschien Ende November beim S. Fischer Verlag nun auch die preiswertere Taschenbuchausgabe des Erzählbandes „Der Friedhof der vergessenen Bücher“. Mit seinen elf Erzählungen, von denen sieben bisher unveröffentlicht waren, setzt Zafón seiner Heimatstadt, die er allerdings schon 1994 als 30-Jähriger in Richtung Los Angeles verließ, erneut ein Denkmal.
Jede dieser elf Erzählungen, die zwischen dem 16. Jahrhundert und unserer heutigen Zeit spielen, nimmt der Autor einzelne Aspekte seiner vorangegangenen Tetralogie noch einmal auf, vertieft die Charaktere der Hauptfiguren – dazu gehören der Dichter David Martin, die Buchhändlerfamilie Sempere ebenso wie der geheimnisvolle Verleger Andreas Corelli –, lässt durch seinen alle Geschichten verbindenden Ich-Erzähler über deren Vorgeschichte berichten oder trägt damit zum umfassenderen Verständnis seiner magischen Welt um die tief unter Barcelona verborgene Bibliothek bei, in der die durch staatliche Willkür verbotenen und in Vergessenheit geratenen Bücher darauf warten, sich endlich ausgesuchten Lesern wieder öffnen zu dürfen.
Wie die vier Romane bilden auch die Erzählungen eine Erfolg versprechende Mischung aus Schauerroman und Thriller, aus historischem Roman und Liebesgeschichte. So dürfte Zafón mit diesem postum veröffentlichten Band eine breite Leserschaft ansprechen. Andererseits mag man gelegentlich auch ein Abgleiten ins Triviale und Kitschige beobachten, wenn immer wieder von engen, labyrinthischen Gassen Barcelonas, von düsteren, in Nebelschwaden eingetauchten Fassaden zu lesen ist, als würde in Spanien niemals die Sonne scheinen. Doch genau diese düstere Schein- oder Parallelwelt, diese mystische Atmosphäre ist es, die Zafóns Romane zu Bestsellern hat werden lassen.
Der vor 20 Jahren erschienene erste Band um die Bibliothek der vergessen Bücher, „Der Schatten des Windes“, ist nach Experten-Aussage „der größte spanische Bucherfolg seit Cervantes' Klassiker 'Don Quijote'“. Da passt es, dass Zafón gerade ihn in der atmosphärisch besonders beeindruckenden Erzählung „Der Fürst des Parnass“ wieder aufleben lässt. Wenn auch nur entfernt nach der realen Vita des spanischen Nationaldichters angelegt, erfahren wir hier vom Werdegang des zu Lebzeiten noch erfolglosen Miguel de Cervantes (1567-1616), der – so erzählt es Zafón – erst durch den teufelsgleichen Verleger Andreas Corelli, schon damals mit Engels-Brosche am Revers und uns aus „Das Spiel des Engels“ bekannt, zum Abfassen seines 1605 erstveröffentlichten und später zum National-Epos erhobenen Ritterromans „Don Quijote“ genötigt wird. Drucker und Verleger dieses Werks ist in Zafóns Geschichte Antoni Sempere, ein Ahnherr des aus „Der Schatten des Windes“ bekannten Buchhändlersohns und Dichters Daniel Sempere. Tatsächlich ist Cervantes in Madrid beigesetzt, doch Zafón lässt ihn in Barcelona begraben. Auf Cervantes' Grab errichtet Sempere ein Bauwerk, „einen Friedhof der Gedanken und Erfindungen, …. dass er eines Tages die größte aller Bibliotheken beherbergen würde, in der jedes verfolgte oder von der Ignoranz und Bosheit der Menschen verschmähte Werk eine Heimstatt fände und auf die Wiederbegegnung mit dem Leser wartete, den jedes Buch in sich trägt“.
Schon zwischen den einzelnen Bänden der Tetralogie vergingen Jahre, so dass es kaum möglich war, sich der jeweiligen Handlung bis zum nächsten Band zu erinnern. Andererseits ließ sich jeder Band auch unabhängig vom Vorgänger lesen. Dasselbe gilt für die nun veröffentlichten Erzählungen. Doch alle Bücher vereint die magische Erzählwelt Zafóns, die seine Werke so einzigartig machen, dass die Lektüre auch dieses Bandes trotz punktueller Möglichkeit zur Kritik schon sprachlich ein literarischer Genuss ist.

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Bewertung vom 15.11.2022
Doppelleben
Sulzer, Alain Claude

Doppelleben


sehr gut

REZENSION – Den Prix Goncourt, der seit 1903 als ältester und bedeutendster Literaturpreis Frankreichs alljährlich im November von der Académie Goncourt für den besten französischsprachigen Roman des Jahres vergeben wird, kennt wohl fast jeder, der gern Bücher liest. Fragt man aber den Literaturfreund nach dem Leben der namensgebenden Schriftsteller-Brüder Edmond (1822-1896) und Jules Goncourt (1830-1870), spürt man oft Unwissen. Diese Wissenslücken lassen sich jedoch seit August mit der im Verlag Galiani veröffentlichten Romanbiografie „Doppelleben“ des Schweizer Schriftstellers Alain Claude Sulzer (69) auf wunderbare Weise schließen.
Der Autor entführt uns mit seinem einfühlsamen Roman zunächst ins Jahr 1869 und lässt uns am Alltag der zwillingsgleich lebenden Brüder Edmond und Jules in ihrer Villa in Auteuil am westlichen Stadtrand von Paris teilhaben. Dort war das Brüderpaar erst ein Jahr zuvor eingezogen. Sie erhofften sich die Stille zum Arbeiten, die in ihrer früheren Stadtwohnung gegenüber der lärmenden Musikwerkstatt von Adolphe Sax, dem Erfinder des Saxophons, nicht gegeben war. Doch kaum eingezogen, brach beim acht Jahre jüngeren Jules die tödliche Syphilis aus, mit der er sich schon als Jüngling 20 Jahre zuvor infiziert hatte und die schließlich 1870 zum qualvollen Tod des erst 39-Jährigen führte.
Sulzer schildert in einer Rahmenhandlung ähnlich nüchtern, fast brutal, wie es im gemeinsamen Tagebuch der Brüder nachzulesen ist, Jules' körperlichen und geistigen Verfall. Rückblicke mit Berichten aus dem bisherigem Leben beider Brüder zeigen bald ein Gesamtbild und lassen uns Edmond und Jules besser kennenlernen. Wir erfahren vom Tod der Mutter, von gesellschaftlichen Treffen mit ihrem Freund Gustave Flaubert und anderen Künstlerkollegen im Palais der Napoleon-Nichte Prinzessin Mathilde Bonaparte. In einer längeren Parallelhandlung erfahren wir vom traurigen Schicksal ihrer Haushälterin Rose.
Vor allem diese Gegenüberstellung zweier Lebensläufe in Glanz und Elend – das Wohlstandsleben der Brüder Goncourt, die sich aufgrund ihres ererbten Grundbesitzes und Vermögens ganz der Schriftstellerei widmen können, und zeitgleich jenes armselige, bedauernswerte Schicksal ihrer Haushälterin Rose – bringen die Spannung und Dramatik in Sulzers Roman. Erst jetzt erkennt man die eigentliche Aussage des Romantitels: Mit „Doppelleben“ ist weniger das Leben der zwei Brüder Goncourt gemeint, die doch eher nur ein, nämlich gemeinsames Leben führten, sondern vielmehr das Leben des Brüderpaares zeitgleich zu jenem ganz anderen ihrer Haushälterin – zwei Leben in zwei Parallelwelten. Diese Gegensätzlichkeit des „Doppellebens“ macht Sulzers gleichnamigen Roman nicht nur für Freunde literarischer Klassiker, sondern auch allgemein für Liebhaber historischer Romane interessant und lesenswert: Obwohl die Brüder Goncourt als genaue Beobachter bekannt sind, denen angeblich keine Kleinigkeit entging, achteten sie doch nur auf ihre eigene Gesellschaftsschicht. Der beklagenswerte „Absturz“ ihrer Haushälterin, die das Brüderpaar schon seit deren Kinderjahren treu umsorgte, zuletzt aber zur Trinkerin und Diebin wird, fiel beiden nicht auf. Rose gehörte für sie zwar als Dienstperson zum Haus, doch der Mensch Rose war für beide uninteressant.
Mit „Doppelleben“ ist dem bereits mehrfach ausgezeichneten Schweizer Autor wieder ein lesenswerter Roman gelungen, der dazu verleitet, sich nach der Lektüre mit den beiden Goncourts noch intensiver zu beschäftigen. Kritisch wäre allenfalls anzumerken, dass Jules' Krankheitsverlauf und körperlicher Verfall nicht in dieser Ausführlichkeit hätte beschrieben werden müssen.

Bewertung vom 06.11.2022
Die Lichter von Barcelona
Cervantes, Pere

Die Lichter von Barcelona


gut

REZENSION – Mit den ersten freien Wahlen endete 1977 das diktatorische Franco-Regime. Doch die politische und literarische Aufarbeitung der grausamen und Millionen Opfer fordernden Militärdiktatur begann erst in den 2000er Jahren. Die Auswirkungen des Franquismus halten gesellschaftlich und politisch sogar bis heute an. Vergleichbar vor allem mit der deutschen Nachkriegsliteratur, sind deshalb in Spanien die Jahre der Franco-Diktatur noch immer ein für Autoren wichtiges Thema. Aktuelles Beispiel ist der im Juli im Limes Verlag veröffentlichte Roman „Die Lichter von Barcelona“ des mehrfach ausgezeichneten spanischen Schriftstellers und Drehbuch-Autors Pere Cervantes (51).
Die Handlung des Romans beginnt direkt nach dem Zweitem Weltkrieg im Jahr 1945 und setzt sich über 1947 bis 1949 fort. Diese Zeitspanne war einerseits die Zeit der Erholung vom Krieg, andererseits die düsterste Zeit der spanischen Diktatur in der Verfolgung des politischen Widerstands, eine Zeit gesellschaftlicher Unsicherheit, eine Phase der andauernden Bespitzelung. „Es war eine Art Waffenstillstand, während dem es verboten war, bei Tisch über Politik zu sprechen und die [Menschen] zu erwähnen, die nicht da waren, vor allem, wenn der Krieg und seine Folgen schuld daran waren.“ In dieser dunklen Zeit wächst der 13-jährige Nil Roig in der alleinigen Obhut seiner Mutter Soledad auf, denn Vater David lebt seit Jahren als Mitglied einer Widerstandsgruppe im Verborgenen. Nur des Vaters Stimme, der früher Hollywood-Filme synchronisierte, ist dem Sohn auf alten Filmrollen geblieben.
Um den armseligen Lohn seiner Mutter aufzustocken, bringt der Junge mit seinem Fahrrad die jeweils benötigten Filmrollen von einem Kino zum anderen. Ansonsten entzieht sich Nil der Wirklichkeit des unbarmherzigen Alltags, indem er in die Traumwelt der Filme und verbotenen Bücher entflieht. Beides ermöglicht ihm Buchhändler Leo, der nicht nur ein kleines Antiquariat betreibt, sondern im Keller auch ein geheimes Kino. Väterliche Freunde sind zudem der Filmvorführer Bernardo und sein Lebensgefährte und Platzanweiser Paulino. Eines Tages wird Nil im heimischen Hausflur Zeuge eines Mordes. Der Sterbende steckt ihm noch ein Schauspieler-Sammelfoto zu und flüstert den Namen seines Vaters David. Bald bekommt Nil zu spüren, dass andere auf der Jagd nach diesem Foto sind.
Nicht nur der Zeitrahmen der Handlung, das Gefängnis von Montjuïc und Leos Antiquariat mit verbotenen Büchern erinnern zwangsläufig an die ab 2001 erschienene vierbändige Bestseller-Reihe „Friedhof der vergessenen Bücher“ von Carlos Ruiz Zafón über die Geschehnisse um die Buchhandlung Sempere & Söhne in Barcelona. Wohl ganz bewusst hat der Limes Verlag für den Cervantes-Roman „El chico de las bobinas“ - auf Deutsch „ Der Junge mit den Filmrollen“ - deshalb auch als Titel „Die Lichter von Barcelona“ gewählt, ähnelt dieser doch Zafóns viertem Band „Das Labyrinth der Lichter“ aus dem Jahr 2017.
Doch an das literarische Niveau Zafóns reicht Pere Cervantes keinesfalls heran. Bei ihm spürt man vielmehr die Erfahrung des modernen Drehbuch-Autors. Die Handlung ist stark vereinfacht, die Personenzahl überschaubar, was der Autor von seinem Alter Ego am Schluss indirekt bestätigen lässt: „Um mit den Stimmen einiger weniger die Geschichte so vieler zu erzählen.“ Cervantes' Protagonisten sind zu strikt in bitterarme, politisch verfolgte Republikaner, die wie in einem Ghetto zusammenleben, sowie reiche System- und Kriegsgewinnler (Falangisten) eingeteilt. Dazwischen scheint es nichts und niemanden zu geben. Besonders störend ist vor allem die in Einzelheiten ergehende Schilderung sexueller und gewalttätiger Misshandlungen an den Opfern des Geheimdienstlers Victor Valiente, wo schon Andeutungen ausreichend gewesen wären. Dadurch verliert der Roman leider zusätzlich an literarischem Niveau. Dennoch: Das Buch „Die Lichter von Barcelona“ ist durchaus spannend, nur historisch allzu klischeehaft. So bleibt es allein ein gut zu lesender und aktionsreicher, deshalb sicher gut verfilmbarer Unterhaltungsroman mit interessanter Handlung.

Bewertung vom 01.11.2022
Bullauge
Ani, Friedrich

Bullauge


gut

REZENSION – Eigentlich geschieht gar nicht so viel in „Bullauge“, dem im September beim Suhrkamp Verlag erschienenen neuen Werk des für seine Romane mehrfach ausgezeichneten Schriftstellers Friedrich Ani (63), der vor allem durch seine Bücher um den pensionierten Polizeibeamten Jakob Franck und Kommissar Tabor Süden bekannt ist. Trotzdem wird man beim Lesen dieses Krimis, der weniger ein Kriminalroman als vielmehr ein bedrückender Psycho-Roman ist, von der für diesen Autor so typisch düsteren Stimmung langsam angezogen, bald berührt und schließlich doch irgendwie gepackt.
Hauptfigur ist der durch einen kürzlichen Unfall aus seinem Leben geworfene, seit seiner Scheidung allein lebende Polizist Kay Oleander in München, der uns seine Geschichte erzählt. Beim Einsatz auf einer Rechtsradikalen-Demo wurde er mit einer Bierflasche im Gesicht getroffen, wodurch er auf einem Auge blind wurde. Vom Polizeidienst vorerst freigestellt, kann er mit sich nichts anfangen und verfällt dem Alkohol. Aus Langeweile versucht er durch unerlaubtes Aktenstudium und heimliches Sichten von Video-Aufzeichnungen herauszufinden, welcher Demonstrant seine Verletzung verschuldet haben könnte. In den Akten ist der Name Silvia Glaser als Teilnehmerin genannt. Oleander sucht sie zuhause auf. Auch sie ist Invalide seit einem Fahrradunfall, ihrer Meinung nach durch einen Streifenwagen verursacht. Glaser, nach dem Unfall am politischen System zweifelnd, hat seitdem Kontakt zu einer rechtspopulistischen Partei, aus deren Fängen sie sich jetzt befreien möchte, aber Schwierigkeiten befürchtet. Sie gesteht Oleander, Andeutungen für ein geplantes Attentat aufgeschnappt zu haben, und bittet ihn um Hilfe. Erst zögert Oleander, vermutet sogar eine Falle, beschließt aber dann doch, dem Verdacht eines möglichen Attentats nachzugehen. Doch wie soll er vorgehen? Von offizieller Seite kann er seit seiner Freistellung nicht auf Unterstützung hoffen. Zum Glück erklärt sich Kollege Gilles bereit, ihm inoffiziell und im Verborgenen zu helfen.
Anis neuer Roman schleppt sich anfangs doch etwas dahin, dass man als Leser schon einiges an Durchhaltevermögen braucht. Doch wer die bisherigen Romane dieses Autors kennt, weiß, dass es sich lohnen kann durchzuhalten. Tatsächlich wird man fast unmerklich von Seite zu Seite tiefer in die betrübliche Lebenssituation sowohl Oleanders als auch Glasers gezogen. Es ist faszinierend, wie Friedrich Ani tief in die Psyche seiner beiden Protagonisten eindringt, in gewisser Weise ihre Seele seziert. Faszinierend ist auch Anis Beschreibung, wie Oleander und Glaser, obwohl anfangs sich gegenseitig stark misstrauend, langsam einander näherkommen in dem Gefühl, verlassen von ihren Mitmenschen nur sich selbst gegenseitig Beistand bieten zu können.
„Bullauge“ ist eine Mischung aus einem düsteren Krimi Noir und einem aktuellen Politthriller, bildet doch die aktuelle Szene aus Rechtspopulisten und Querdenkern den Handlungshintergrund. Anfangs noch schleppend im Handlungsfortschritt, nimmt der Roman leider erst spät an Fahrt auf, um schließlich mit einem überraschenden und rasanten, vielleicht aber doch absehbaren Finale zu enden. „Bullauge“ ist wie alle Bücher Anis ein sprachlich ausgezeichneter, aber leider dramaturgisch sich nur langsam, vielleicht zu langsam aufbauender, spät aber noch fesselnder Psycho-Roman mit aktueller Thematik. Er gehört sicher zu den besseren Romanen im aktuellen Buchmarkt. Doch habe ich durchaus schon Besseres und Spannenderes von Friedrich Ani lesen können.

Bewertung vom 25.10.2022
Der Milchmann
Seligmann, Rafael

Der Milchmann


ausgezeichnet

REZENSION – Obwohl der „Der Milchmann“ schon im Jahr 1999 erstmals erschien, hat der jetzt im Verlag Langen-Müller erneut veröffentlichte Roman des in Israel geborenen und seit seinem zehnten Lebensjahr in Deutschland lebenden Schriftstellers und Historikers Rafael Seligmann (75) auch nach 23 Jahren nichts an seiner gesellschaftspolitischen Brisanz verloren. Im Gegenteil: Angesichts des aktuell wachsenden Antisemitismus ist er aktuell wie zuvor und kann immer noch zum besseren Verständnis des deutsch-jüdischen wie des deutsch-israelischen Verhältnisses beitragen. Denn beiderseitiges Verständnis, aber auch Streit - „Streit wie in der Judenschule“ - sind nach Seligmanns Auffassung unabdingbare Voraussetzung, um die nach dem Holocaust zurückgebliebenen seelischen Verletzungen bei Opfern und Tätern sowie bei deren Nachkommen zu heilen. Diese tiefgreifende Vielschichtigkeit der Konflikte nach der Shoah bei den Überlebenden, ihren Angehörigen und deren Nachkommen beschreibt Seligmann, selbst Sohn eines jüdischen Emigranten aus Bayern, in seinem „Milchmann“.
Der aus Polen stammende 70-jährige Jakob Weinberg hat das Vernichtungslager Auschwitz überlebt und lebt in den 1990er Jahren als angesehener Geschäftsmann nach dem Tod seiner jüdischen Ehefrau mit einer nicht-jüdischen Geliebten in München. Seine jüdischen Freunde, alle wie er selbst osteuropäische Überlebende der Shoah, nennen ihn den „Milchmann“. Damals im Vernichtungslager hatte er eine Kiste Trockenmilch gefunden und soll damit – so wird erzählt – seine Mithäftlinge vor dem Hungertod gerettet haben. Weinberg hat dieser Legende aus Eigennutz nie widersprochen. So weit, so gut. Als sein Arzt ihm im Jahr 1995 eine Gewebeprobe entnimmt, um sie im Labor untersuchen zu lassen, wird Weinberg von Todesangst gepackt. Und es kommt noch schlimmer: Nicht nur, dass seine beiden verheirateten Kinder und seine junge Geliebte ihn wegen des beträchtlichen Erbes unter Druck setzen und zusätzlich seine Kumpel von ihm Geld für die Operation eines erkrankten Freundes fordern, sondern völlig ins Wanken gerät seine Welt, als der von ihm verehrte israelische Präsident Yitzhak Rabin einem Attentat zum Opfer fällt und Weinberg erkennen muss: Nicht nur die deutschen Nazis haben Juden ermordet, sondern jetzt ermordet ein Jude den anderen. Gibt es also auch jüdische Nazis? Sind die Grenzen zwischen Gut und Böse fließend?
Ist man als deutscher Leser gewohnt, in Büchern über den Holocaust und die Folgezeit eine meist klischeehaft pauschale Trennung zwischen Tätern (Deutsche) und Opfern (Juden) zu finden, sieht man sich in Seligmanns „Milchmann“ einer fast irritierenden anderen Sichtweise gegenüber: Der Autor beschränkt sich in seinem Roman ausschließlich auf Weinberg und seine jüdische „Mischpoke“, auf dessen eigene Familie und Freundeskreis, und zeigt die gesellschaftspolitischen Konflikte innerhalb der jüdischen Gemeinschaft. Es gibt demnach gravierende Unterschiede im Leben, Denken und Handeln zwischen den Generationen der Überlebenden aus Osteuropa und denen aus Deutschland, zwischen den in der jungen Bundesrepublik aufgewachsenen Kindern und den in Israel lebenden oder den nach Deutschland heimgekehrten Nachkommen – wie Rafael Seligmann selbst. Deutsche Juden sind also keineswegs als homogene Gesellschaftsgruppe anzusehen, sondern so unterschiedlich wie alle Menschen.
Seligmann lässt in seinem provozierenden Roman seine in Deutschland lebenden Glaubensgenossen nicht unverschont. In seinem Roman bestehen die Konflikte nicht zwischen Juden und Deutschen, sondern zwischen der Kriegs- und Nachkriegsgeneration sowie zwischen den orthodoxen und liberalen Juden. Wegen seiner harschen „Kritik in alle Richtungen“ und seiner Forderung nach „mehr Normalität“ im Zusammenleben von Deutschen und Juden wurde Seligmann, der sich selbst als „deutscher Jude“ sieht, schon in den eigenen Reihen als „Nestbeschmutzer“ beschimpft. Doch gerade diese Offenheit und Ehrlichkeit des Autors lässt seinen Roman „Der Milchmann“ noch heute aktuell wirken, provoziert auch den heutigen Leser zum Nachdenken und macht das Buch auch 23 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung noch immer zu einer empfehlenswerten Lektüre: „Der Milchmann“ trägt leichter zum besseren Verständnis und Miteinander bei als jede Talkshow.

Bewertung vom 14.10.2022
Lincoln Highway
Towles, Amor

Lincoln Highway


sehr gut

REZENSION – Schon mit seinem preisgekrönten Romandebüt „Eine Frage der Höflichkeit“ (2011) schaffte der amerikanische Schriftsteller Amor Towles einen beachtlichen Erfolg, der es ihm erlaubte, zwei Jahre später seinen Beruf als Investmentbanker nach 20 Jahren aufzugeben, um sich ausschließlich der Schriftstellerei zu widmen. Sein zweiter Roman „Ein Gentleman in Moskau“ (2016) stand zwei Jahre auf der Bestsellerliste der New York Times und war ein in 30 Sprachen übersetzter, herausragender Weltbestseller, der 2018 auch auf Deutsch übersetzt wurde. Nun erschien im Juli bei Hanser Literaturverlage Amor Towles dritter Roman „Lincoln Highway“.
Wieder ist dem Autor ein ausgezeichneter, unbedingt lesenswerter Roman gelungen ist, der allerdings nicht mit seinem Vorgänger mithalten, vielleicht auch gar nicht verglichen werden sollte. Schilderte der „Gentleman in Moskau“ in ironisch-satirischem Tonfall eine Zeitreise durch vier Jahrzehnte sowjetischer Politik und Geschichte, ähnelt „Lincoln Highway“ einer klassischen amerikanischen Road Novel.
Der von manchem als „Americana“ eingeordnete Roman schildert den amerikanischen Traum von vier jungen, auf sich allein gestellten Amerikanern, trotz schwieriger Ausgangsbedingungen unbeirrt ihren Weg zu gehen, um etwas vom Lebensglück abzubekommen, auch wenn die Fahrt zunächst in die völlig falsche Richtung führt und manche Rück- und Tiefschläge zu überwinden sind: Der 18-jährige Emmett wird vorzeitig aus der Jugendbesserungsanstalt entlassen, um sich nach dem Tod des Vaters in Nebraska um seinen erst achtjährigen Bruder Billy kümmern zu können. Beide vermuten ihre vor Jahren verschwundene Mutter in San Francisco, dem Endpunkt des Lincoln Highway im „goldenen Westen“. Kurz vor Abreise mit Emmetts altem Studebaker tauchen Emmetts Mithäftlinge Duchess und Woolly auf, die die Strafanstalt unerlaubt verlassen haben. Sie wollen allerdings nach New York City an der Ostküste. So beginnt eine zehntägige Odyssee von vier charakterlich völlig unterschiedlichen Jugendlichen.
Auch in seinem neuen Roman trifft Autor Towles sprachlich den perfekt zu seinen unterschiedlichen Protagonisten passenden Stil. Dies ist umso bedeutender, da alle Vier im Wechsel selbst aus ihren jeweils eigenen Jugendjahren sowie über ihre gemeinsamen Erlebnisse während dieser Fahrt erzählen. Dabei versuchen sie, jeweils nach eigenem Vermögen ihre Vergangenheit aufzuarbeiten und ganz persönliche Konsequenzen für ihr zukünftiges Leben zu ziehen. Die Erzählungen dieser unterschiedlichen Charaktere ergeben in Summe ein stimmiges Gesamtbild.
Towles schafft es mit seiner feinfühligen Art zu erzählen, dass man die vier jungen Protagonisten trotz oder vielleicht gerade wegen mancher charakterlicher Schwächen schnell liebgewinnt und sie voll Mitgefühl bei ihrem Streben nach etwas Glück begleitet. Allerdings wirkt dieser auch in Melancholie abdriftende Sprachstil gelegentlich unpassend und unglaubwürdig, passt er doch nicht unbedingt zu Duchess, der, getrieben von Rachegelüsten, sich durch seine Neigung zu brutaler Gewalt von den anderen unterscheidet. So mag „Lincoln Highway“ nicht in allen Punkten das literarische Niveau seines Vorgängers „Gentleman in Moskau“ erreichen. Doch verzichtet man – wie eingangs angemahnt – auf einen direkten Vergleich, ist auch dieser dritte Roman von Amor Towles, allein für sich betrachtet, eine durchaus empfehlenswerte und gefällige Lektüre.

Bewertung vom 12.10.2022
Interspace One
Suchanek, Andreas

Interspace One


sehr gut

REZENSION – Zugegeben: Ich gehöre nicht zu den erklärten Fans heutiger Science-Fiction-Literatur und dürfte mir eigentlich gar kein Urteil zu diesem Genre erlauben. Die Lektüre meines letzten SciFi-Romans liegt schon Jahrzehnte zurück und ein Versuch vor wenigen Jahren, erneut in diese Literaturgattung einzusteigen, scheiterte beim damals ausgewählten Buch kläglich an der abschreckenden Überladung mit mir unverständlichen technischen Begriffen, wodurch mir als Laien schnell die Lust genommen wurde. Ganz anders erging es mir mit „Interspace One“, dem im September beim Piper Verlag veröffentlichten Roman von Andreas Suchanek (40), der für seine Urban-Fantasy-Reihe „Das Erbe der Macht“ mit dem Deutschen Phantastik-Preis 2019 ausgezeichnet wurde. Schon der Klappentext seines neuen Romans hatte mich neugierig gemacht, und ich wurde nicht enttäuscht.
Etwa 1 500 Jahre nach unserer Zeit hat die Menschheit das Sol-System vollständig besiedelt. Trotz zahlreicher künstlicher Habitate und unserer Erde angepasster Welten ist Lebensraum immer noch Mangelware. Großmächtige Allianzen kontrollieren das Universum. Längst herrscht ein Wettrennen in die Weiten des Alls, doch der Weg zu weit entfernten Sonnensystemen dauert Jahre. Deshalb werden menschliche Klon-Körper in Kryostase-Tanks an Bord von Raumschiffen in die Tiefe des Weltalls geschickt, die durch Übertragung menschlicher Gedächtnisse, so genannter Engramme, nach dem Erwachen die jeweilige Persönlichkeit des menschlichen Originals annehmen. Nach einer solchen Übertragung erwacht Commander Liam Mikaelson im Jahr 3 486 in seinem Klon-Körper an Bord des Forschungsraumschiffes EXPO-EA-96 in einem weit entfernten Sonnensystem, um mit seinem Team eine von der Europäischen Allianz geplante Erkundungsmission auszuführen.
Doch er muss feststellen, dass sein Raumschiff, statt im Orbit um die zu erforschende Welt zu kreisen, auf einem bislang unbekannten Planeten, einer sogar „verbotenen Welt“, abgestürzt ist. Der Schiffskörper ist beschädigt, Systeme sind ausgefallen und auch zahlreiche Klon-Tanks sind ausgefallen, so dass Mikaelson mit nur wenigen intakten Team-Mitgliedern in gefährlicher Situation die Probleme lösen muss. Als im Maschinenraum eine verkohlte Leiche gefunden wird, stellt sich ihm die Frage, wer die Mission verhindern will und ob vielleicht sogar ein Mörder unter ihnen ist. Erschwert wird die Situation dadurch, dass der Planet sich als feindselig erweist und die Rückkehr nach Hause immer unwahrscheinlicher wird.
Natürlich kommt auch dieser Science-Fiction-Roman nicht ohne eine Vielzahl technischer Begriffe und technologischer Visionen aus. Doch beides hält sich in überschaubaren Grenzen, lässt sich auch von Laien gedanklich nachvollziehen oder kann notfalls einfach als gegeben hingenommen und bei der Beurteilung des Romans schlicht vernachlässigt werden. Denn viel entscheidender ist allein die Handlung. Die von Autor Suchanek im Jahr 3 486 geschilderte Version des politischen Systems innerhalb des Sol-Systems unterscheidet sich kaum von unserer heutigen auf unserer Erde. Es scheint, als hätten Menschen und Machthaber seitdem nichts hinzugelernt. Auch in 1 500 Jahren gibt es noch immer die Blockbildung der Systeme, die sich im besten Fall nur gegenseitig belauern, hin und wieder aber auch bekämpfen. Noch immer gibt es Egomanen und deren Machtmissbrauch zum Schaden der Menschen.
Natürlich ist „Interspace One“ ein Science-Fiction-Roman, dazu ein überaus gut gemachter. Aber eigentlich ist Suchaneks Buch mehr als dies: Es ist ein visionärer Politthriller. Denn es geht in seinem Roman kaum um den Kampf der Menschen gegen feindliche Außerirdische, sondern um das scheinbar unveränderliche Wesen des Menschen mit seinen guten wie schlechten Charaktereigenschaften. Insgesamt ist „Interspace One“ ein rasanter Page-Turner, der sowohl Freunden der SciFi-Literatur als auch allen anderen Liebhabern aktionsreicher Romane gefallen dürfte. Mich hat Suchaneks spannende Space Opera jedenfalls motiviert, bald einen weiteren SciFi-Roman zu lesen.

Bewertung vom 11.10.2022
Die Passage nach Maskat
Rademacher, Cay

Die Passage nach Maskat


sehr gut

REZENSION – Auf den ersten Blick scheint der neue Roman von Cay Rademacher (57) auf der aktuell beliebten Welle der vielen in den Zwischenkriegsjahren spielenden Krimis mitzuschwimmen. Denn auch sein im August beim Dumont Buchverlag erschienenes Buch „Die Passage nach Maskat“ ist zeitlich gegen Ende der Goldenen Zwanziger angesiedelt. Doch Rademachers Roman spielt nicht in Berlin, sondern der Autor lässt seine Figuren an Bord der „Champollion“, eines 1925 in Dienst gestellten Passagierschiffs der französischen Reederei Messageries Maritimes, von Marseille aus in den Orient reisen. Mit dieser ungewöhnlichen Szenerie gelingt es dem Autor, sich trotz ähnlicher Charaktere und vergleichbarem historischem Hintergrund von anderen Krimis wohltuend abzusetzen.
Hauptfigur seines Romans ist der aus dem Krieg traumatisiert heimgekehrte U-Boot-Fahrer und jetzige Fotojournalist Theodor Jung – Rademachers Hommage an den Berliner Fotojournalisten Erich Salomon (1886-1944) –, der für die „Berliner Illustrirte“, damals größte Zeitschrift Europas, eine Bildreportage über diese Schiffsreise und ihre exotischen Häfen machen soll. Eigentlicher Grund für Theodors Anwesenheit an Bord ist die Begleitung seiner recht selbstbewussten Frau Dora und ihrer Eltern, des Hamburger Kaufmanns Hugo Rosterg und dessen Ehefrau Martha. Der Großhändler will im Orient exotische Gewürze für den deutschen Markt einkaufen. Mit dabei sind Sohn Ernst und der ehrgeizige Prokurist Bertold Lüttgen, der Dora abzuwerben hofft, um als ihr Ehemann zum Teilhaber der Firma zu werden.
Nach zwei Seetagen verschwindet Dora spurlos. War der Roman bisher eine interessante, wenn auch harmlose Beschreibung des illustren Bordlebens, wandelt er sich nun plötzlich in einen immer spannender werdender Krimi. Denn nicht nur Theodors Schwiegereltern, sondern auch der Erste Offizier und alle anderen Passagiere, die Theodor inzwischen kennengelernt hat, versichern ihm gegenüber, Dora niemals an Bord gesehen zu haben. Tatsächlich ist ihr Name nicht einmal auf der Passagierliste verzeichnet. Im Verlauf seiner Suche beginnt Theodor bald an seinem Verstand zu zweifeln. Nur Stewardess Fanny, die selbst seit zwölf Jahren nach ihrem im Krieg verschwundenen Verlobten sucht, versteht und unterstützt ihn. „Jung dachte an das, was Fanny ihm geraten hatte: Betrachte die Sache von außen, analysiere die Lage kühl, als ginge dich das gar nichts an.“ Theodor beginnt ganz sachlich, Indizien zu sammeln und seine Beobachtungen auszuwerten.
Je weiter man in der „Passage nach Maskat“ vorankommt, erinnern Handlung und Figuren an den 1937 erstveröffentlichten Klassiker „Tod auf dem Nil“ von Agatha Christie. Hier wie dort machen sich bald alle Mitreisende verdächtig, treten bisher verdeckte Beziehungen untereinander zutage. Was hat es mit der exzentrischen britischen Lady und ihrer geheimnisvollen Gesellschaftsdame auf sich? Welche Rolle spielen der italienische Anwalt oder der amerikanische Ingenieur? Wieso ist Kaufmann Rosterg mit dem Ersten Offizier des Schiffes so vertraut? Und was hat der Schuldeneintreiber eines in Berlin bekannten mafiösen Ringvereins an Bord zu suchen? Ist auch die berühmte Nackttänzerin Anita Berber (1899-1928) in das Verschwinden Doras eingebunden? Was verbirgt sich in der Attrappe des dritten Schornsteins, vor dem ein Matrose ständig Wache steht? Es wird immer mysteriöser. Bald gibt es den ersten Toten an Bord, und mit jedem weiteren steigert sich das Tempo des Krimis zum überraschenden Ende hin.
Neben der spannenden Handlung ist es vor allem das ungewöhnliche Genre-Mix dieses Krimis mit einem authentisch wirkenden Bericht einer historischen Orient-Reise in britisch-kolonialer Zeit mit fiktiver Einbindung realer Persönlichkeiten und Ereignisse, das „Die Passage nach Maskat“ zu einer unterhaltenden, dennoch interessanten und deshalb empfehlenswerten Lektüre macht.

Bewertung vom 28.08.2022
Schatten der Vergangenheit
Fusco, Antonio

Schatten der Vergangenheit


weniger gut

Ich hatte mehr erwartet und wurde leider enttäuscht: Sowohl der Titel „Schatten der Vergangenheit“ als auch die Tatsachen, dass mit Antonio Fusco (58) ein Italiener und dazu noch hauptberuflich ein Forensiker der italienischen Staatspolizei über die Camorra schreibt, hatten mich hoffen lassen, in dem im Juli beim Tropen Verlag veröffentlichten Roman einen spannenden, vor allem authentischen, mit Insider-Wissen gespickten Mafia-Krimi lesen zu können. Doch nichts von beidem: Der Krimi um den toskanischen Commissario Casabona in Neapel, der - natürlich! - zu Unrecht des Mordes am Liebhaber seiner Frau verdächtigt wird, wechselt zwischen Satire und Ironie, Banalitäten und Klischees. Warum Antonio Fuscos Krimis um Commissario Casabona in Italien sowohl bei Kritikern als auch beim Publikum laut Aussage des Tropen Verlags ein großer Erfolg sein sollen, ist mir zumindest nach Lektüre dieses einen Romans ein Rätsel. Vielleicht muss man Italiener sein, um dies nachvollziehen zu können. Für mich ist das Buch eine nette Feierabend-Lektüre zur geistigen Entspannung, die ihre Leser allerdings leider in keiner Weise literarisch fordert. Es gleicht eher einem Groschenroman, kann an zwei Abenden gelesen und dann bedenkenlos weggelegt werden. Die Mühe einer ausführlichen Rezension ist bei diesem Krimi überflüssig.

Bewertung vom 26.08.2022
Ein Mädchen namens Wien
Mandur, Sahar

Ein Mädchen namens Wien


ausgezeichnet

REZENSION – Ist es wirklich der Mühe wert, eine Rezension über ein kleines Büchlein im Taschenbuchformat mit nicht einmal 90 Textseiten zu schreiben? Doch, sie lohnt sich – zumindest im Falle des im Juli in der Edition Faust veröffentlichten Kurzromans „Ein Mädchen namens Wien“ der hierzulande völlig unbekannten libanesischen Schriftstellerin Sahar Mandûr. Seit Jahren setzt sich die 45-Jährige in ihrem Beruf als Journalistin in Beirut für die rechtliche, soziale und kulturelle Situation der Frauen in ihrem Heimatland ein. „Ein Frauenleben“ lautet auch der Untertitel dieser Erzählung, die in Auszügen erstmals in dem 2021 veröffentlichten Band „Kleine Festungen“ mit Geschichten über Kindheit und Jugend in arabischen Ländern auf Deutsch erschien, vorzüglich übersetzt vom Islamwissenschaftler und Arabisten Hartmut Fähndrich.
Tatsächlich schafft es Sahar Mandûr auf knapp 90 Seiten das Leben einer modernen, selbstbewussten Frau im heutigen Libanon mit allen Höhen und Tiefen und den sich daraus ergebenden Konflikten umfassend zu schildern. Die Geburt des Mädchen mit dem für Libanesen so ungewöhnlichen Namen Wien – der Vater schwärmte für österreichische Schlagermusik – fällt in die Zeit des libanesischen Bürgerkriegs, mitten in die Auseinandersetzung zwischen arabischen Nationalisten und prowestlichen Christen. Schon damit ist die Basis für die Suche dieser Frau nach dem Sinn ihres Lebens und ihrem Platz darin gelegt. Sie ist ein zwischen Tradition und Moderne, zwischen arabischer und europäischer Kultur hin- und hergerissenes Mädchen, in weiteren Kapiteln eine junge Frau. Nur dadurch, dass sie sich über alle Tabus und Denkverbote frech hinwegsetzt, versucht sie, sich ihren eigenen Platz in der Gesellschaft zu schaffen.
Auf ihrer mehrjährigen Suche probiert sie alle Möglichkeiten aus, die sich ihr jeweils bieten und verfällt von einem Extrem ins andere – sowohl im beruflichen Bereich, im Liebesleben wie auch im Glauben. Als moderne junge Frau lässt sie sich – wenn auch unwillig, aber der Tradition gehorchend – von den Eltern mit einem ihr unbekannten Mann verheiraten. „Die Atmosphäre zwischen ihm und mir ist recht angespannt, die Stunde der Wahrheit rückt bedenklich näher: In zwei Wochen soll die Hochzeit stattfinden, und die Braut ist keine Jungfrau mehr.“ Doch bald stellt sich zur Schande ihres Mannes heraus, das er zeugungsunfähig ist. „Die ersten fünf Ärzte, die wir aufsuchten, nannte er Lügner. Danach, wir hatten damals vier Jahre Ehe hinter uns, beging er Selbstmord. Nun war ich Witwe. Ich war eine lustige Witwe. Da man mich zwang, vierzig Trauertage in der Wohnung auszuharren, ging ich halt bei Nacht aus und kehrte im Morgengrauen zurück.“
Es ist dieser freche, mal ironische, mal sarkastische Stil der Autorin, mit der sie scheinbar locker das Leben der modernen Libanesin in kurzen, oft Jahre überspringenden Episoden erzählt. Doch diese Lockerheit, der Witz und die scheinbare Oberflächlichkeit der Erzählung täuschen nicht über die Tragik dieser zwiespältigen Lebensweise vieler modern eingestellter Libanesinnen hinweg. „Ein Mädchen namens Wien“ weist schon im Titel auf diesen Konflikt hin, sein Leben einerseits der muslimischen Tradition und Kultur verbunden zu sein, andererseits aber ein modernes, westlich orientiertes Leben genießen zu wollen. Frustriert über die offensichtliche Unmöglichkeit, ein ihr genehmes Leben im Libanon führen zu können, verlässt „Wien“ ihre Heimat voll positiver Erwartung in Richtung Paris.
Man darf davon ausgehen, dass Sahar Mandûr eigene Erfahrungen in diesem Büchlein verarbeitet hat, da sie als Libanesin einige Jahre in London Journalismus studiert und dort die westliche Lebenswelt selbst erfahren hat. Vielleicht lassen sich die gesellschaftlichen Konflikte, die sich den jungen Frauen heute im Libanon stellen, von ihnen tatsächlich nur mit einer gehörigen Portion Sarkasmus und selbstbewusster Überheblichkeit ertragen. Dies ist zumindest die Erkenntnis, zu der man als Leser aus dieser witzig-h