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leukam
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Baden-Baden

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Insgesamt 104 Bewertungen
Bewertung vom 15.11.2023
Mahlke, Inger-Maria

Unsereins


sehr gut

Anspruchsvolle Lektüre
Ein Roman, der in Lübeck Ende des 19. Jahrhunderts spielt, lässt unwillkürlich an „ Die Buddenbrooks“ denken. Mit dieser Assoziation liegt man nicht falsch, hat Inger- Maria Mahlke doch eine Art Gegenentwurf zu Thomas Manns weltberühmten Roman geschrieben.
Allerdings beschränkt sich die in Lübeck aufgewachsene Autorin nicht nur auf das gehobene Bürgertum der Stadt, sondern nimmt auch die Bediensteten in ihren Blick.
Die Erzählung setzt ein im Jahr 1890 und führt bis ins Jahr 1906. Im Zentrum steht die wohlhabende Familie Lindhorst, kinderreich, konservativ und kaisertreu. Friedrich Lindhorst ist Rechtsanwalt; mit seiner Frau Marie hat er sechs Söhne und zwei Töchter. Als Anwalt hat Lindhorst nicht den Stand, den ein reicher Kaufmann einnimmt und ein Hindernis für eine politische Karriere ist auch seine jüdische Herkunft . Diese Tatsache steht aber nicht so im Vordergrund, wie der Klappentext vermuten ließe, sondern wird von Inger- Maria Mahlke nur ganz subtil angedeutet. Marie ist von ihrer Aufgabe als Haushaltsvorstand und Mutter überfordert; monatelang ist sie wegen psychischer Probleme in Sanatorien. Auch die Kinder weichen zum Teil vom vorgezeichneten Lebensweg ab, dabei fehlt es nicht an Tragik .
Noch weitere Familien und deren Lebenswege verfolgt die Autorin in ihrem Buch. Dabei zeigt sich das enge gesellschaftliche Korsett, in das letztendlich alle gezwängt sind. Frauen betrifft das allerdings in größerem Maße, auch das zeigt die Autorin . Vereinzelt gelingen Ausbruchsversuche, so z.B. einer jungen Frau, die nach dem Tod ihres Vaters über ein Erbe verfügt, das sie unabhängig sein lässt. Sie veröffentlicht kleine Geschichten aus dem Alltag einer Kurstadt, allerdings unter männlichen Pseudonym.
Der Roman erzählt auch von den wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen. So vom Bau des Kaiser - Wilhelm - Kanals, der die Nordsee und die Ostsee miteinander verbindet. Auch wird die Einführung von Wasserclosetts in den Haushalten kontrovers diskutiert. Wenn, dann sollte nur die gehobene Bürgerschicht in den Genuss kommen, die Bedürfnisse der Arbeiterschaft kümmern die Herren Senatoren nicht.
Die aber haben ihre Fürsprecher in der aufkommenden Sozialdemokratie. Im Buch ist deren Vertreter ein ehemaliger Metallarbeiter, „ Unser aller Unheil“, wie Lindhorst seinem Sohn erklärt.
Inger - Maria Mahlke gibt dieser gesellschaftlichen Gruppe den gebührenden Raum. Hier treten Bedienstete nicht nur als Nebenfiguren auf. Das Dienstmädchen Ida im Hause Lindhorst begleitet uns die ganze Zeit. Ausführlich wird deren tägliche mühselige Arbeit beschrieben, Tag und Nacht muss sie bereit stehen für ihre Herrschaft. Verständlich, dass sie davon träumt, diesen Verhältnissen zu entkommen. Im Arbeiterbildungsverein lernt sie heimlich Tippen und Stenografie und hofft auf eine Anstellung als Tippmamsell.
Oder der Lohndiener Charlie Helms, der mit seiner Liste der für den gesellschaftlichen Verkehr in Frage kommenden Familien eine wichtige Rolle spielt. Doch er stürzt über seine homosexuellen Neigungen.
Auch der Ratsdiener Isenhagen bekommt neben seiner Arbeit ein aufregendes Privatleben bei Inger- Maria Mahlke.
Thomas Mann darf im Roman natürlich nicht fehlen. Als eitler und arroganter Schüler , Pfau“ genannt, hat er seinen Auftritt; im Schlepptau immer einen Mitschüler, seinen „Schatten“. Jahre später kehrt er als erfolgreicher Jungschriftsteller in seine Heimatstadt zurück und liest aus seinem Werk. Der Roman „ Die Buddenbrooks“ sorgt für Unruhe in Lübeck, da einige sich darin wiedererkennen. „ Es ist das Spiel der Saison. Bei jedem Dinner werden nach dem Dessert Papier und Stifte ausgeteilt. Wer- ist- wer im Roman.“ In Buchhandlungen gibt es sogar „ sogenannte Lektürehilfen“ zu kaufen.
Die Erzählweise ist allerdings etwas gewöhnungsbedürftig. Sprachlich orientiert sich die Autorin an dem Stil von Thomas Mann, auch an dessen Ironie, unterbricht dabei immer wieder den altertümlichen Duktus mit modernen Wendungen. Die Vielstimmigkeit vermittelt zwar ein breites Panorama, erschwert es dem Leser aber, den Überblick zu behalten.
Hat Inger- Maria Mahlke in ihrem 2018 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichneten Roman „ Archipel“ eine ungewöhnliche Struktur gewählt, die Geschichte wurde rückwärts aufgerollt, so folgt sie hier ganz traditionell der Chronologie. Dabei gibt es immer wieder Sprünge innerhalb des Erzählten.
Von einer intensiven Recherche zeugt der Detailreichtums des Romans. So entsteht ein plastisches Bild jener Zeit und von den verschiedenen Gesellschaftsschichten.
Dem Roman vorangestellt ist ein ausführliches Personenverzeichnis, auf das man während der Lektüre immer wieder zurückgreifen muss.
Zu loben ist der Verlag für die Buchgestaltung. Das Vorsatzpapier zeigt zwei alte Stadtpläne von Lübeck.
Trotz kleiner Kritikpunkte ist der Autorin mit „ Unsereins“ ein umfassendes Porträt der Lübecker Gesellschaft zur Kaiserzeit gelungen , eine anspruchsvolle Lektüre, die einen aufmerksamen Leser erfordert.

Bewertung vom 09.11.2023
Schulman, Alex

Endstation Malma


sehr gut

Herausfordernd und gleichermaßen bereichernd
Der schwedische Autor Alex Schulman verarbeitet in all seinen Büchern seine traumatische Kindheit. Seine Mutter war Alkoholikerin und sie war für ihre Kinder unberechenbar, mal liebevoll, mal grausam. Sein Schreiben dient ihm immer auch als Therapie. Einige Bücher sind stark autobiografisch, „Endstation Malma“ ist dagegen, wie sein großer Erfolg „ Die Überlebenden“ eine fiktive Geschichte. Aber auch hier steht sein alles dominierende Thema im Zentrum : die transgenerationale Weitergabe von Traumata. Wie sehr prägt die Vergangenheit die Gegenwart und unsere Zukunft und welche Nachwirkungen haben Verletzungen in der Kindheit auf die nächsten Generationen ? Und wann verliert man sein Kind?
Drei Menschen reisen mit dem Zug in die fiktive Kleinstadt Malma, einige Stunden von Stockholm entfernt. Die achtjährige Harriet ist mit ihrem schweigsamen Vater unterwegs zu einer Beerdigung. Oskar fährt in Begleitung seiner Frau; die Ehe der Beiden ist in einer tiefen Krise. Und
Yana reist in der Hoffnung nach Malma, Antworten auf ihre Fragen zu bekommen.
Rätselt man zu Beginn noch, welche Verbindung zwischen den Personen besteht, wird bald klar, dass zwar alle auf derselben Strecke unterwegs sind, aber zu unterschiedlichen Zeiten, 1976, 2001 und in der Gegenwart.
Harriet ist das Verbindungsglied aller drei Zeitebenen, anfangs als Kind, später als Ehefrau von Oskar und Mutter von Yana.
Harriet ist ein zutiefst verunsichertes Kind, das immer versucht, ihrem Vater alles recht zu machen, beständig um Aufmerksamkeit und Liebe buhlt. Verständlich, denn sie hat heimlich ein Gespräch ihrer Eltern belauscht, in dem diese beschließen, nach ihrer Trennung beide Töchter untereinander aufzuteilen. Allerdings wollten beide Harriets Schwester, denn Harriet selbst erschien ihnen zu schwierig. Wie furchtbar muss es sich für ein Kind anfühlen, nur zweite Wahl zu sein.
Dieses Gefühl begleitet Harriet bis ins Erwachsenenalter. So verwundert es kaum, dass sie später mit ihrem provozierenden Verhalten ihre Umwelt schockiert und für ihren Ehemann unberechenbar bleibt.
Doch warum kam sie von ihrer Reise damals nach Malma nicht wieder nach Hause zurück und warum ließ sie ihre elfjährige Tochter allein mit dem Vater? Warum wiederholte sie das Muster ihrer Kindheit, obwohl sie immer beteuert hat, wie sehr sie Yana liebt?

Diese reist nun ebenfalls nach Malma. Anlass dazu war ein Photoalbum aus dem Nachlass ihres verstorbenen Vaters. Die Reise in die Vergangenheit soll Aufklärung bringen, in der Hoffnung, dass dieses Wissen sie selbst verändern wird.
Denn für Alex Schulman ist die Zukunft „ …bereits vorherbestimmt und lässt sich nicht beeinflussen, doch was passiert ist, ist veränderlich, es bewegt sich die ganze Zeit.“ Was sich zuerst paradox anhört, ergibt Sinn, wenn man sich auf diesen Gedanken einlässt. Unser Wissen über die Vergangenheit ist unvollständig und kann somit falsch sein. Erst wenn wir die Zusammenhänge erkennen und verstehen, können wir aus den vorgegebenen Mustern ausbrechen und neue Wege gehen.
Diesen Roman zu lesen ist kein Vergnügen, zu schmerzhaft sind die Erfahrungen der Protagonisten, zu verstörend oft ihr Verhalten. Doch dieser Blick in Abgründe kann helfen, Menschen mit solch traumatischen Erlebnissen besser zu verstehen.
Es sind die z.T. brutalen Szenen, die schockieren, aber auch die lange Liste der Lieblosigkeiten von Seiten der Erwachsenen. Dabei gibt es Liebe zwischen den Figuren, doch sie sind nicht in der Lage diese zu zeigen, unfähig zu einer liebevollen und ehrlichen Beziehung . Bezeichnend ist hier auch, dass Harriet mit Oskar sich einen Partner ausgesucht hat, der ähnlich beschädigt ist wie sie.
Dass Alex Schulman beim Leser so intensive Gefühle auslöst, liegt zum einen daran, dass er aus eigenem Erleben schöpfen kann, aber auch an seinem literarischen Können. Die Sprache ist präzise und genau, mit Bildern, die im Gedächtnis bleiben. Harte Dialoge wechseln mit poetischen Landschaftsbeschreibungen, die das Gelesene erträglich machen.
In diesem Roman überzeugt Alex Schulman erneut mit einer raffinierten Erzählkonstruktion. Drei Reisen durch Raum und Zeit, die gemeinsam an ihrem Zielort ankommen. Dabei steigert er kontinuierlich das Erzähltempo und entwickelt so einen ungeheuren Lesesog. Nach und nach werden die Geheimnisse enthüllt, dabei setzt er, manchmal zu sehr, Cliffhänger ein, um die Spannung zu erhöhen.
Die Kapitel werden wechselweise aus den Perspektiven von Harriet, Oskar und Yana erzählt. Mit großer Virtuosität verwebt Alex Schulman die einzelnen Erzählstränge. Dass man dabei trotz konzentriertem Lesen manchmal mit den Zeitebenen durcheinander kommen kann, mag gewollt sein. Zeigt der Autor doch damit wie sich Verhaltensmuster wiederholen.
Raum für vielfältige Interpretationen bieten neben der Zugmetapher noch weitere durchgängige Motive.
Eine herausfordernde und gleichermaßen bereichernde Lektüre!

Bewertung vom 25.10.2023
Hacke, Axel

Über die Heiterkeit in schwierigen Zeiten und die Frage, wie wichtig uns der Ernst des Lebens sein sollte


sehr gut

Plädoyer für mehr Heiterkeit und Gelassenheit
Der bekannte Kolumnist und Schriftsteller Axel Hacke hat vor einigen Jahren ein sehr erfolgreiches Buch über "Den Anstand in schwierigen Zeiten" geschrieben. Nun widmet er sich hier dem Begriff der "Heiterkeit".
Eigentlich sollte daraus nur ein kurzer Artikel werden, um den ihn ein befreundeter Kollege bat. Aber bald merkte Axel Hacke, dass ihn dieses Thema auch persönlich berührte, war doch die aktuelle Situation bei ihm alles andere als heiter. Schicksalsschläge im näheren Umfeld, dazu die Pandemie und die damit verbundenen Probleme boten keinerlei Anlass zu Frohgestimmtheit. Kann und darf man angesichts der vielen Krisen und Bedrohungen überhaupt noch heiter sein? Um diese Frage zu beantworten, unternimmt der Autor einen philosophischen Streifzug durch die Kulturgeschichte.
Er geht zurück zu den großen Philosophen der Antike, die von der Unsicherheit und Unvollkommenheit der Welt wissen und deshalb zu Gelassenheit raten. Er findet Kluges bei Schiller ( " Ernst ist das Leben, heiter ist die Kunst.") und Goethe. Sogar Kleist und Nietzsche, die man wohl eher nicht mit dem Thema in Verbindung bringen würde, werden zitiert. Für Thomas Mann war "Heiterkeit keine oberflächliche Stimmung, sondern Teil seiner Kunstauffassung, ... , eine Art der Distanzierung vom Leben." In einem Brief spricht Thomas Mann von der " Durchheiterung", die eine Geschichte bedarf, um genießbar zu sein."
Aber nicht nur Geistesgrößen der Philosophie und Literatur werden zu Rate gezogen. Axel Hacke nennt andere, die vorbildhaft in ihrer Kunst das Prinzip der Heiterkeit vertreten. So z. B. der französische Zeichner Sempe, dessen Bilder immer von großer Menschenliebe zeugen. Sempe, der selbst eine sehr schreckliche Kindheit hatte, wusste, dass ohne Heiterkeit das Leben eine sehr traurige Angelegenheit wäre. Oder Loriot, der wie kaum ein anderer die Deutschen in seinen Sketchen persifliert hat. Und Hacke erinnert an den großen Kabarettisten Werner Finck, dem nicht einmal die Nazis seinen Humor verbieten konnten.
Aber auch aus persönlichen Erfahrungen gewinnt Hacke Erkenntnisse zum Thema, die er in kleinen unterhaltsamen Anekdoten präsentiert . Nach einem eher peinlichen Kurs in Lach-Yoga weiß Hacke, wie schwierig und albern Lachen auf Befehl sein kann, doch grundlos lächeln kann sich und andere heiter stimmen. Und er rät mal öfter die Welt mit den Augen eines Kindes zu betrachten oder über sich selbst zu lachen.
So begleitet der Leser Hacke auf seinen Assoziationen zum Thema, die er im Plauderton zum Besten gibt. Und man kommt mit ihm zum Schluss, dass es gerade in schlimmen Zeiten ( Wann waren die Zeiten mal nicht schlimm?) unbedingt geboten ist, der Welt heiter gegenüberzutreten. Das bedeutet nämlich keineswegs den Ernst des Lebens zu ignorieren, sondern sich davon nicht unterkriegen zu lassen. " Heiterkeit hat etwas tief Tröstliches, vor allem, wenn sie in Verbindung mit dem Ernst des Lebens steht, wenn sie mit ihm umgeht und zeigt, wie man ihm entkommen kann." " Es bedeutet nicht, das Schwere zu ignorieren, sondern es in etwas Leichtes zu verwandeln. Es jedenfalls zu versuchen."
Genau diesen Versuch zu unternehmen, immer und immer wieder, das ist mein Vorsatz, nachdem ich dieses kluge und gleichermaßen unterhaltsame Buch gelesen habe. Dass das nicht immer leicht ist, weiß auch Axel Hacke. Doch " Heiterkeit ist eine Möglichkeit", die jedem offen steht.

Bewertung vom 12.10.2023
Kehlmann, Daniel

Lichtspiel


ausgezeichnet

Im Spinnennetz
Georg Wilhelm Pabst ist heute beinahe vergessen, dabei zählte er einst zu den Großen der Filmindustrie.
Nun hat Daniel Kehlmann diesen Regisseur ins Zentrum seines neuesten Romans gestellt.
Pabst war zum Zeitpunkt der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Frankreich und reiste dann in die USA. Er versucht, wie viele emigrierte Künstler, hier Fuß zu fassen. Doch er scheitert. Daraufhin kehrt Pabst mit Frau und Sohn nach Europa zurück, in die „ Ostmark“.Aber dann bricht der Krieg aus, die Grenzen sind dicht und die Familie Pabst sitzt fest.
Nicht lange und Goebbels ruft ihn zum Gespräch. Deutschlands Filmindustrie braucht namhafte Künstler.
Pabst versucht sich zu entziehen; er habe nicht die Absicht, weitere Filme zu machen.
Dies ist eine der zentralen Szenen im Roman. Surreal und übermächtig mutet schon das übergroße Büro des Propagandaministers an. Und unverhohlen droht der mächtige Goebbels: „ Bedenken Sie, was ich Ihnen bieten kann… zum Beispiel KZ. Jederzeit. Kein Problem. Aber das meine ich ja gar nicht. Ich meine, bedenken Sie, was ich Ihnen auch bieten kann, nämlich: alles, was Sie wollen. Jedes Budget, jeden Schauspieler. Jeden Film, den Sie machen wollen, können Sie machen.“
Und hier liegt die große Versuchung. Denn Pabst will natürlich arbeiten. Die Arbeit ist sein Leben. Doch Filme drehen kann man nicht für sich daheim, dazu benötigt man viele Ressourcen, ist angewiesen auf Geldgeber. Aber darf man deshalb einen Pakt schließen mit dem Bösen? Rechtfertigt die Kunst alles? Inwiefern macht sich Pabst schuldig? Um diese Fragen kreist der Roman.
Es ist unbestritten, dass Pabst nie reine Propagandafilme gedreht hat; er war kein Nazi. Aber er hat sein Schaffen in den Dienst eines unmenschlichen und skrupellosen Regimes gestellt. Darf man das und was macht das mit einem ?
Die andere Frage ist, ob Pabst überhaupt eine Wahl hatte.
Diesen Zwiespalt und seine Konsequenzen aufzuzeigen, das schafft Kehlmann auf großartige Weise.
In unzähligen Episoden und mit einer Fülle von Details lässt er die damalige Zeit aufleben. Wir treffen jede Menge historischer Figuren, Mitläufer wie Heinz Rühmann oderdie Schauspielerin und Regisseurin Leni Riefenstahl, die ihre Arbeit ganz in den Dienst der NS- Ideologie gestellt hat. Bei Kehlmann wird sie zur bösen und völlig talentfreien Nazisse.
Eine zentrale Rolle im Roman spielen ebenfalls Pabsts Ehefrau Trude und sein Sohn Jakob. An Beiden macht sich Pabst schuldig durch seine Rückkehr nach Nazi-Deutschland. Die Umstände führen zur Entfremdung der Eheleute und lassen Trude Zuflucht im Alkohol suchen. Und der Sohn lernt sich anzupassen, entwickelt sich zum begeisterten Hitlerjungen und Kriegsfreiwilligen.
Es gibt jede Menge filmreifer Szenen, wie die Hollywood-Party gleich zu Beginn. Nicht frei von Komik sind hier Pabsts Versuche, Anschluss an Hollywoods Filmschaffende zu finden. Wie ein Fremdkörper wirkt er mit seinen österreichischen Manieren und seinem rudimentären Englisch.
Ein weiterer komödiantischer Höhepunkt ist jene Szene, in der Trude in die Fänge eines nur aus Damen bestehenden Lesezirkels gerät. Denn in der Gruppe werden ausschließlich Werke des Nazi-Schriftstellers Alfred Karrasch gelesen und besprochen. Doch was soll sie sagen zu einem Buch , das „ so uninteressant [ ist ], dass es nicht einmal schlecht war.“
Und ausgerechnet diese Schmonzette wird Pabst später unter dem Titel „ Der Fall Molander“ verfilmen. Wie ein Besessener arbeitet er in den letzten Kriegstagen an der Fertigstellung dieses künftigen „ Meisterwerks“. Hier lässt Kehlmann offen, ob der Regisseur, wie Leni Riefenstahl für „ Tiefland“ , Menschen aus Arbeits- und Konzentrationslager als Statisten benutzt hat.
Die Filmrollen gehen dann in den Wirren der letzten Kriegstage unter und bleiben verschollen, so will uns Kehlmann glauben lassen.
Der Roman wechselt beständig die Perspektiven. Interessant ist, dass wir keinen Einblick in die Innenwelt des Protagonisten bekommen.
Mit der Sprache geht der Autor gekonnt um. Passend zum Setting und zur jeweiligen Figur ändert sich diese. Surreale und alptraumhafte Sequenzen durchbrechen den ansonsten vorherrschenden Realismus.
Aufgebaut ist der Roman in drei Teile: „ Draußen“, „ Drinnen“ und „ Danach“, wobei „ Drinnen“ in den Fängen der Nazi-Diktatur im Zentrum steht.
Dazu gibt es eine Rahmenhandlung um den fiktiven Regieassistenten Franz Wilzek, der mit Pabst in Prag am Film „Molander“ gearbeitet hat. Dieser Fritz hat gleich zu Beginn des Romans einen tragikomischen Auftritt. Er, mittlerweile alt und leicht dement, wird als Gast in eine Fernsehtalkshow eingeladen und soll hier erzählen, wie die Zusammenarbeit damals mit dem großen Regisseur war. Als die Frage nach dem unauffindbar gewordenen Film kommt, bestreitet Fritz, sichtlich nervös, dass dieser je gedreht wurde. Am Ende dann erfahren wir hierzu mehr.
Daniel Kehlmann ist mit „ Lichtspiel“ ein großer, ein vielschichtiger Roman gelungen über einen Künstler, der sich korrumpieren ließ.

Bewertung vom 05.10.2023
Lewald, Fanny

Jenny Der große Frauen- und Emanzipationsroman von Fanny Lewald Reclams Klassikerinnen


ausgezeichnet

Ein Emanzipationsroman im doppelten Sinne
Fanny Lewald „ Jenny“ ( 1843 / 2023 )

Während englischsprachige Autorinnen des 19. Jahrhunderts weltweit bekannt sind und immer noch gerne gelesen werden ( man denke nur an „ Sturmhöhe“ oder „ Middlemarch“ ), ist Fanny Lewald heute sogar in Deutschland nur wenigen ein Begriff. Dabei war sie eine der erfolgreichsten und bedeutsamsten Schriftstellerinnen ihrer Zeit. Sie gehört zu den ersten Berufsschriftstellerinnen in Deutschland; ihre Bücher waren Bestseller. 27 Romane, dazu Erzählungen, Essays und politische Schriften umfasst ihr Werk. Ihre ersten beiden Romane, darunter „ Jenny“ , veröffentlichte sie, aus Rücksicht auf ihre Familie, aber noch unter Pseudonym.
Geboren wurde Fanny Lewald 1811 in Königsberg als Tochter einer jüdischen Kaufmannsfamilie. Schon früh konvertierte sie zum Protestantismus, um der ständigen Diskriminierung zu entgehen, bereute aber schon bald diesen Schritt.
Fanny Lewald gilt als eine der ersten Feministinnen und führte mehr als 30 Jahre lang einen literarischen Salon, in dem nicht nur literarische Themen zur Debatte standen, sondern darüber hinausgehend auch politische und wissenschaftliche Fragen erörtert wurden.
Es ist an der Zeit, dieser bedeutenden Frau den Platz im Kanon einzuräumen, der ihr zusteht. Dazu dürfte der äußerst lesenswerte Roman „ Jenny“ beitragen, den der Reclam- Verlag in einer wunderschönen Ausgabe in seiner Reihe „ Reclams Klassikerinnen“ herausgebracht hat.

Wir sind im Jahr 1832 in einer großen deutschen Handelsstadt. Im Zentrum des Romans steht Jenny, Tochter der wohlhabenden jüdischen Kaufmannsfamilie Meier. Sie hat noch einen älteren Bruder Eduard, er ist Arzt. Die Meiers führen ein offenes Haus, sind aufgeklärte assimilierte Juden. Doch der Makel des Judentums haftet trotzdem an ihnen. In der preußischen Gesellschaft sind sie Bürger zweiter Klasse.
Im Haus lebt noch Joseph, ein Neffe, der als Nachfolger im elterlichen Geschäft vorgesehen ist und der sehr gerne Jenny heiraten würde. Doch die junge Frau hat sich längst in einen anderen Mann verliebt, Reinhard, Studienfreund des Bruders, Sohn einer armen Pfarrerswitwe und selbst angehender Pfarrer. Er liebt sie ebenfalls, „ Aber alles lag trennend zwischen ihm und ihr: Religion und Verhältnisse…“ Doch Jenny ist bereit alles aufzugeben, die Annehmlichkeiten ihres reichen Elternhauses und vor allem ihren Glauben. Aus Liebe zu dem jungen Mann konvertiert sie, aber bald kommen ihr Glaubenszweifel, was Reinhard nicht verzeihen kann. Er löst die Verbindung. Zum Glück, möchte man sagen. Denn unabhängig vom Glauben trennt die Beiden noch viel mehr. Jenny ist eine rebellische und aufgeschlossene Frau, die selbstbewusst ihren eigenen Weg gehen will. Während Reinhard strenge Prinzipien hat und sich eine brave Pfarrersfrau an seiner Seite wünscht. Trotz aller Verliebtheit erkennt Jenny, dass sie diese Rolle nicht einnehmen will und kann.
Es ist ein sehr unkonventionelles, fortschrittliches Frauenbild, für das die Autorin hier plädiert. Eine andere Frauenfigur wird als Gegenbild zu Jenny entwickelt. Diese geht völlig auf in ihrer Rolle als treu sorgende Ehefrau und Mutter. Doch die Sympathie von Autorin und Leserin gilt eindeutig Jenny.
Reinhard und Jenny sind aber nicht das einzige Liebespaar im Roman, das mit Schwierigkeiten zu kämpfen hat. Auch Eduards Liebe gilt einer Christin, doch anders als Jenny ist er nicht bereit, sich taufen zu lassen. Er hat das schon aus Karrieregründen abgelehnt, obwohl ihm als Jude viele berufliche Türen verschlossen blieben. Eduard ist zwar nicht gläubig, fühlt sich aber seinem Volk verbunden und will nicht zum Verräter an ihm werden. Ihm geht es um die Gleichstellung der Juden. Eduard versucht nun an höchster Stelle zu intervenieren, um eine Erlaubnis für eine Heirat mit Clara zu bekommen, doch vergeblich. In Preußen ist eine Ehe zwischen Juden und Christen gesetzlich untersagt.
Ständig stoßen die Meiers und ihre Glaubensbrüder an gesellschaftliche Schranken. Überall schlägt ihnen der allgegenwärtige Antisemitismus entgegen, mal in diffamierenden Bemerkungen, dann in konkreten Auswirkungen. Das demonstriert die Autorin an vielen Beispielen.
Mit „ Jenny“ hat Fanny Lewald einen Emanzipationsroman im doppelten Sinne vorgelegt. Ihr Anliegen war die Gleichberechtigung von Juden und Frauen. Ihre Hoffnung und Zuversicht formuliert Eduard am Ende des Romans. „ Wir wollen leben, um eine freie Zukunft, um die Emanzipation unseres Volkes zu sehen!“ Wir lesen diesen Roman heute mit dem Wissen um die Shoa, dadurch bekommt das Buch eine zusätzliche Dimension.
Mir hat der Roman ausgesprochen gut gefallen. Die „ altertümliche“ Sprache habe ich sehr genossen und ich bin eingetaucht in eine vergangene Welt voller Konventionen und Einschränkungen. Dabei durfte ich eine mir bisher unbekannte Schriftstellerin kennenlernen. Es ist zu hoffen, dass weitere Romane von ihr wieder publiziert werden.

Bewertung vom 04.10.2023
Schröder, Alena

Bei euch ist es immer so unheimlich still


sehr gut

Vielschichtiger und berührender Unterhaltungsroman
Die Journalistin Alena Schröder hatte mit ihrem Debut „ Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid“ 2021 einen großen Erfolg. Im neuen Roman begegnen wir zwei Figuren wieder, die wir aus dem ersten kennen. Die Autorin erzählt hier nun von der Zeit dazwischen; allerdings lassen sich beide Bücher unabhängig voneinander lesen.

Im Sommer 1989 entschließt sich die 33jährige Silvia spontan zu einer Reise in ihr schwäbisches Heimatdorf. Vor beinahe achtzehn Jahren ist sie von dort geflüchtet, hat jeglichen Kontakt zu den Eltern abgebrochen. Sie war lange in der weiten Welt unterwegs, bis sie in Westberlin heimisch wurde. Nun ist sie in einem „geliehenen“ Polo unterwegs, auf dem Beifahrersitz in einem Wäschekorb liegt ihre nur wenige Wochen alte Tochter Hannah. Der provisorische Alltag in einer WG mit diversen Jobs passt nicht zu einem Leben mit Kind, findet Silvia. Der Kindsvater hat auch kein Interesse an ihr und dem Baby. Jetzt hat sie plötzlich Sehnsucht nach der Mutter.
Nach dem Krieg folgt die elternlose Evelyn ihrer Freundin Betti nach Süddeutschland. Dort lernt sie Karl, den Bruder von Betti kennen, der traumatisiert aus dem Krieg heimgekehrt ist. Die Beiden studieren gemeinsam Medizin und heiraten. Mit der lang ersehnten Geburt von Töchterchen Silvia scheint das Glück vollkommen. Doch Evelyn fühlt sich fremd, fremd in dem Dorf, fremd in ihrer Rolle als Hausfrau und Mutter. Viel lieber würde sie weiter ihren Beruf ausüben. Doch wir sind in den Fünfziger Jahren. Da waren die Erwartungen an Frauen andere.
Die Handlung wechselt kapitelweise zwischen den beiden Zeitebenen. Wir lesen zum einen von der schwierigen Annäherung zwischen Mutter und Tochter. Beide Frauen müssen lernen aufeinander zuzugehen und frühere Fehler und Versäumnisse einzugestehen. Aber das fällt ihnen schwer. Sie haben nie gelernt, über ihre Gefühle zu reden.
Gleichzeitig erfahren wir auf der anderen Ebene, wie es überhaupt zum Bruch zwischen Eltern und Tochter kommen konnte.
Der Roman entwickelt von Anfang an einen Sog, der bis zum Ende nicht nachlässt. Alena Schröder hat einen angenehmen Erzählstil, lakonisch, aber trotzdem packend. Dabei lässt sie Platz für Zwischentöne. Die Charaktere sind vielschichtig und psychologisch stimmig. Durch die wechselnden Perspektiven bekommt der Leser einen tiefen Einblick in Gefühle und Motivationen der Protagonisten. So wächst das Verständnis für deren Verhalten. Auch Nebenfiguren werden liebevoll und genau geschildert.
Mit ihrer Familiengeschichte spannt Alena Schröder einen Bogen von den Fünfzigerjahren bis in die Zeit kurz vor dem Mauerfall. Dabei lässt sie sehr gekonnt die Atmosphäre der jeweiligen Zeit spürbar werden.
Es sind eine Menge Themen, die die Autorin hier anspricht, ohne dass der Roman überladen wirkt. Im Vordergrund steht eine komplizierte Mutter- Tochter-Beziehung und damit das Thema Mutterschaft überhaupt. Kann ich eine gute Mutter sein, wenn ich selbst keine Mutterliebe erlebt habe? Wie durchbreche ich solche familiäre Prägungen? Wie lässt sich Muttersein mit dem Wunsch nach Selbständigkeit und einem erfüllenden Beruf vereinbaren?
Dabei spielen Erwartungen eine große Rolle, die eigenen, sowie solche, die von außen an einen gestellt werden.
Aber auch das Schweigen in Familien wird thematisiert, die Unfähigkeit, mit unseren Nächsten zu kommunizieren. Darauf spielt der Titel des Romans an.
Und ganz nebenbei liest man vom Leben in der Provinz, von der Rückkehr in die Heimat.
Mit „ Bei euch ist es immer so unheimlich still“ ist Alena Schröder erneut ein vielschichtiger und berührender Unterhaltungsroman gelungen, den ich sehr gerne gelesen habe und weiterempfehlen kann.

Bewertung vom 30.09.2023
Kaiser, Menachem

Kajzer


sehr gut

Verschlungene Spurensuche
Menachem Kaiser, Jahrgang 1985, Nachkomme polnischer Juden, ist in Toronto aufgewachsen und lebt heute als Schriftsteller in New York. Für sein erstes Buch „Kajzer“ , im Original unter dem Titel „ Plunder. A Memoir of Family Property And Nazi Treasure“ ( „ Plünderung. Ein Memoir über Familienbesitz und Nazi - Schätze“ ) erschienen, erhielt der Autor den Sami- Rohr- Preis für jüdische Literatur.
Während einer Reise nach Polen 2010 beschließt Kaiser spontan Sosnowiec aufzusuchen, den Heimatort seines Großvaters. Von seinem Großvater wusste er nur, dass er der Einzige aus seiner Familie gewesen sein soll, der die Shoa überlebt hat. Selbst kennengelernt hatte er ihn nie, da dieser einige Jahre vor seiner Geburt gestorben war.
Wie einer von vielen „Erinnerungstouristen“ besucht Menachem Kaiser also Sosnowiec, findet aber kein malerisches Schtetl vor, sondern „ eine trostlose postindustrielle Stadt“.
Da ahnt der Autor noch nicht, dass er wieder hierher zurückkehren würde, um den Kampf seines Großvaters um die Rückerhaltung einer im Familienbesitz stammenden Immobilie weiterzuführen. Was als Projekt zur Restitution beginnt, entwickelt sich zu einer verschlungenen Reise nach der eigenen Familiengeschichte. Von dieser Suche, die keineswegs geradlinig verläuft, sondern mit vielen Missverständnissen, falschen Spuren und unwahrscheinlichen Zufällen gespickt ist, erzählt dieses Buch. Sie dauert einige Jahre und am Ende hat Menachem Kaiser zwar nicht sein ursprüngliches Ziel erreicht, dafür ist er um viele Erfahrungen, Begegnungen und Erkenntnissen reicher geworden.
Kaiser reist nun oft nach Schlesien, erkundet sehr genau das besagte Haus, das seinen Vorfahren gehört hat, lernt die jetzigen Bewohner kennen und hat denen gegenüber ein ungutes Gefühl. Um sehr viel später zu erfahren, dass es sich um das falsche Haus gehandelt hat.
Bei seinem Kampf um das Familieneigentum macht er Bekanntschaft mit den Mühlen des polnischen Rechtssystems. Um den Anspruch seiner Familie auf die Immobilie geltend machen zu können, muss er erstmal gerichtlich nachweisen, dass der frühere Besitzer, also der Urgroßvater und seine Nachkommen tot sind. Für ihren Tod während des Krieges gibt es allerdings keine Dokumente. Aber auch wenn sie Deportation und Lager überlebt hätten, wofür es keine Beweise gab, wären sie mittlerweile verstorben. Man fühlt sich an Kafka erinnert, während man von dem mühseligen Prozessverfahren in Polen liest.
Bei seinen Nachforschungen erfährt der Autor zwar kaum etwas über seinen Großvater und dessen Eltern, dafür stößt er auf einen bisher unbekannten Cousin seines Großvaters. Dieser, ein gewisser Abraham Kayzer hat als jüdischer Zwangsarbeiter am Projekt Riese mitgearbeitet und darüber ein Tagebuch geschrieben. Vom Projekt Riese hatte ich zuvor noch nie gehört. Es bezeichnet ein gigantisches Bauvorhaben der Nazis, ein riesiger Komplex unterirdischer kilometerlanger Stollen im schlesischen Eulengebirge. Wozu diese Anlage dienen sollte, darüber herrscht noch keine endgültige Klarheit. Ob sie als Führerhauptquartier gedacht waren oder als Labore für Wunderwaffen oder als Versteck für erbeutete Schätze? Spekulationen gibt es zuhauf. Heute ist es Ziel von „ Schatzsuchern“, polnischen Männern und Frauen, die auf der Suche nach Nazi-Souvenirs oder Schätzen unterwegs sind. Auf eine solche Gruppe stößt Menachem Kaiser bei seinen Recherchen und die wiederum führen ihn zu seinem unbekannten Verwandten. Dessen Lagertagebuch gilt als „ Bibel“ der Schatzsucher und Abraham Kayser als mythische Figur bei ihnen.
Das Buch ist voll von solchen unglaublichen Begegnungen und Wendungen.
Daneben reflektiert der Autor aber beständig sein eigenes Tun. Was bedeutet die Rückforderung gestohlenen Eigentums? Wie kann historisches Unrecht korrigiert werden und kann es das überhaupt? Besteht unser Erbe nicht eher aus immateriellen Werten und ist der Verlust von familieneigenen Traditionen nicht ein viel größerer als der eines Hauses?
„ Kajzer“ ist auch ein Buch über Erinnerung. „ Familiengeschichten sind schlechte Geschichtsbewahrer: Sie sind bruchstückhaft, schlecht dokumentiert, verzerrt durch Hörensagen, Annahmen, Legenden…Sie erzählen keine historische Wahrheit, sondern eine emotionale Wahrheit.“
Darüber schreibt Menachem Kaiser klug, sachlich und reflektiert, sehr ehrlich auch sich selbst gegenüber. Er wechselt zwischen Schilderungen und philosophischen Überlegungen. Dabei hätte die eine oder andere Abschweifung etwas kürzer ausfallen dürfen. Die Passagen, bei denen er aus dem Tagebuch seines neu entdeckten Verwandten zitiert, sind dagegen sehr berührend.
„ Kajzer“ ist ein sehr persönliches Erinnerungsbuch, das neue Perspektiven und Denkanstöße liefert.

Bewertung vom 22.09.2023
Hjorth, Vigdis

Die Wahrheiten meiner Mutter


sehr gut

Intensiver und z.T. schmerzhafter Roman

Vigdis Hjorth zählt zu den wichtigsten Autorinnen der norwegischen Gegenwartsliteratur. Dieser schon 2020 , im Original unter dem Titel „ Er mor dod“ - „ Ist Mutter tot“, erschienene Roman war nominiert für den International Booker Prize“.
Die Ich- Erzählerin Johanna kehrt als erfolgreiche Malerin nach dreißig Jahren in ihre Heimat Norwegen zurück, um eine Ausstellung ihrer Werke mitzugestalten. Ihr amerikanischer Ehemann, für den sie damals ihren Mann und ihre Familie verlassen hat, ist gestorben. Der erwachsene Sohn ist selbst schon Vater und lebt in Dänemark.
Für ihre Eltern war ihre Flucht damals ein Schock und als Johanna nicht einmal zur Beerdigung ihres Vaters nach Hause kam, hat die Familie endgültig mit ihr gebrochen.
Nun versucht sie Kontakt zu ihrer Mutter aufzunehmen. Sie wünscht sich eine Aussprache und vielleicht sogar eine Aussöhnung. Doch die Mutter geht nicht ans Telefon, reagiert auch nicht auf ihre Mail- Anfragen. Auch ihre jüngere Schwester, die sich ständig um die betagte Mutter kümmert, will nichts von ihr wissen.
Johanna zieht sich in die Einsamkeit einer Hütte am Fjord zurück, um Klarheit zu finden.
Ihre Gedanken führen sie in die Vergangenheit . Schon vor ihrem Weggang war das Verhältnis getrübt. Johanna fühlte sich unverstanden, nicht angenommen. Der Vater hatte für die ersten künstlerischen Versuche seiner Tochter nur Spott übrig und die Mutter, die zuvor noch stolz war auf die Bilder, schließt sich der Meinung des Vaters an. Das für sie vorgesehene bürgerliche Leben als Juristin und Ehefrau war nicht das, was sich Johanna vorgestellt hat. Johanna musste gehen, um ihren eigenen Weg zu finden. Doch das hat ihre Familie nicht verstanden. Die beiden von Johanna geschaffenen Gemälde über eine Mutter mit Kind empfanden sie als persönlichen Angriff, als Beleidigung, nicht als künstlerische Auseinandersetzung mit dem Thema Mutterschaft.
Neben den Erinnerungen kreisen Johannas Gedanken um ihre Mutter. Wie war sie damals, war sie glücklich? Und was ist sie heute für eine Frau? Da sie so lange keinen Kontakt zu ihr hatte, ist sie „ zu einem fremden Land geworden“. Sie muss sie neu für sich erfinden. „ Mutter, ich erdichte dich mit Wörtern, um ein Bild von dir zu haben.“
Johannas Wunsch einer Begegnung mit der Mutter wird immer obsessiver. Sie wartet stundenlang im Auto vor deren Wohnung, geht ihr hinterher, schreckt aber vor einem persönlichen Kontakt zurück. Sie erfindet sich den Alltag der Mutter, imaginiert ein Wiedersehen mit ihr.
Das ist zum Teil beklemmend zu lesen, manches ermüdend, weil sich die Gedanken und Handlungen, die wir detailliert miterleben, im Kreis drehen. Allerdings ist genau dieses gleichzeitig sehr glaubhaft und psychologisch stimmig.
Der Roman ist voll mit grundsätzlichen Überlegungen zu Mutterschaft und familiären Beziehungen. „ Wenn man wüsste, wenn man in jungen Jahren verstünde, wie entscheidend die Kindheit ist, würde man niemals wagen, selbst Kinder zu bekommen.“ heißt es im Text.
Auch Bezüge zur Literatur ( Ibsen ) und zur Bibel ( Heimkehr des verlorenen Sohnes ) lassen sich finden. Und Fragen nach dem Recht des Künstlers auf seine freie Gestaltung, ohne Rücksicht auf familiäre Bindungen, werden angesprochen. Diese Reflexionen geben dem Roman zusätzliche Tiefe.
Die Sprache ist klar und präzise, poetisch wird der Text, wenn die Autorin die Natur rund um Johannas Rückzugsort beschreibt. Hier finden sich Bilder, die Johannas Seelenleben spiegeln.
„ Die Wahrheiten meiner Mutter“ ist ein intensiver und z.T. schmerzhafter Roman über eine komplizierte Mutter- Tochter- Beziehung, über Familienstrukturen und seelische Verletzungen. Keine angenehme Lektüre, aber eine gewinnbringende.

Bewertung vom 18.09.2023
Wacker, Florian

Die Spur der Aale / Ein Fall für Greta Vogelsang Bd.1


gut

Gelungener Auftakt zu einer vielversprechenden Krimireihe

Dies ist der Auftaktband zu einer neuen Krimireihe rund um die Frankfurter Staatsanwältin Greta Vogelsang.
Wie so oft in diesem Genre beginnt die Geschichte mit einer Leiche. Der Zollfahnder Lars Mathissen wird tot aus dem Main geborgen. Greta Vogelsang hat Bereitschaftsdienst und wird zum Fundort gerufen. War es ein Unfall oder doch ein Mord? Schließlich war der Tote doch angeblich an einer großen Sache dran. Die Staatsanwältin beginnt auf eigene Faust zu ermitteln, denn Mathissen hatte sie kurz zuvor in einer Mail um ein Gespräch gebeten. Er wolle Beweise haben für ein internationales Schmugglernetzwerk, das sich auf den Schmuggel von Glasaalen spezialisiert hatte. Doch Greta Vogelsang hat sein Anliegen ignoriert und nun plagt sie das schlechte Gewissen.
Mit seiner Hauptfigur hat Florian Wacker eine interessante Ermittlerin geschaffen, der man gerne folgt. Greta Vogelsang ist eine starke und eigenwillige Frau. Sie stammt aus einfachen Verhältnissen, einem Arbeiterhaushalt, was eher ungewöhnlich ist für eine Staatsanwältin. Außerdem scheint sie in jungen Jahren im linken Spektrum aktiv gewesen zu sein. Nicht von ungefähr heißen ihre beiden Kater Marx und Engels.
Nun aber ist sie seit einiger Zeit im Dezernat für Umweltverbrechen und Artenschutzdelikten tätig. Von ihren ehemaligen Kollegen aus der Abteilung Kapitalverbrechen wird sie deshalb belächelt, dabei sind Verbrechen im Umweltbereich keineswegs harmlose Kavaliersdelikte. Dahinter stecken oft international operierende Banden, wie man sie aus dem Drogenhandel kennt.
Der in diesem Buch verhandelte Fall, der Schmuggel von sog. Glasaalen, ist äußerst lukrativ. Da Aale nicht gezüchtet werden können, sind sie besonders wertvoll. Und in Asien gelten diese Tiere als gefragte Delikatesse, da man ihnen eine aphrodisierende Wirkung nachsagt. So ermöglicht der verbotene Handel mit den geschützten Tieren Riesengewinne .
Florian Wacker lässt uns aber nicht nur an der Ermittlungsarbeit seiner Staatsanwältin und anderen zuständigen Behörden teilhaben, sondern verfolgt in zwei weiteren Erzählsträngen die Verstrickungen zweier Figuren in dieses Schmugglernetzwerk. Da ist zum einen die aus Hongkong stammende Mian, die in einem Chinarestaurant in Frankfurt arbeitet und ein junger Franzose, der auf einen lukrativen Job hofft. Voller Spannung und mit Empathie liest man von deren Schicksal.
Ruhig und unaufgeregt entwirft Florian Wacker seine Geschichte, lässt sich Zeit mit der Entwicklung seiner Figuren, beschreibt liebevoll das private und berufliche Umfeld. Nur langsam steigt die Spannung und steuert dann auf ein aufregendes Finale hin.
„ Die Spur der Aale“ ist der gelungene Auftakt zu einer vielversprechenden Krimireihe mit Ausbaupotential. Die sympathische Hauptfigur ist längst nicht auserzählt und Delikte im Umweltbereich gewinnen an Relevanz und dürfen deshalb stärker in den Fokus der Öffentlichkeit rücken.

Bewertung vom 07.09.2023
Moster, Stefan

Bin das noch ich


ausgezeichnet

Ein Musiker in einer existenziellen Krise
Stefan Moster hat sich einen Namen gemacht als Übersetzer finnischer Literatur, aber auch als Schriftsteller. „ Bin das noch ich“ ist sein sechster Roman.
Simon Abrameit ist Berufsmusiker, Geiger. Er ist froh, nach der coronabedingten Zwangspause wieder auftreten zu können, obwohl er nur die zweite Geige spielen darf. Aber einen Soloauftritt hat er, mit dem möchte er sein Können unter Beweis stellen. „ Das Programm soll sein Phönixflug werden: das große Aufschwingen, das ihn über das Mittelmaß erhebt, zu dem er sich seit einer halben Ewigkeit verurteilt sieht.“ Die zwei Bach - Sonaten dürften keine Schwierigkeit darstellen, doch die Sonate von Bartok stellt höchste Anforderungen an den Geiger. Vor ihr fürchtet sich Simon, denn er hat seit einiger Zeit Probleme mit den Fingern seiner linken Hand. Das Befürchtete tritt ein, seine Finger versagen den Dienst, Simon muss das Konzert abbrechen.
Seine Musikerkollegin Mai hat Verständnis für seine Situation und bietet dem völlig Zerstörten ihr Ferienhäuschen auf einer kleinen Schäreninsel an. Dort kann er in Ruhe über seine Lage nachdenken.
Anfangs versucht Simon immer wieder Geige zu spielen. Zum einen, weil das Geigenspiel zu seiner täglichen Routine gehört, zum anderen in der Hoffnung, sein Problem mit der Hand möge sich gelegt haben. Aber: „ Die Wahrheit zu erkennen heißt nicht, sie anzunehmen.“
Simon steht vor einer existenziellen Frage. Bisher war die Musik sein Lebensinhalt. Von Kind an hat er täglich geübt, nun verweigert sich dem sein Körper. Womit füllt er diese Lücke? Was macht ein Musiker, der sein Instrument nicht mehr bespielen kann ? Und vor allem, wer ist er noch, wenn er nicht mehr Musiker ist? Bin das dann noch ich? Um diese Fragen kreisen unablässig seine Gedanken.
Simon hat keine engere Bindung zu anderen Menschen, seine Passion für die Musik ließ ihn einsam werden. Der Kontakt zu seiner Mutter ist nur sporadisch und beschränkt sich auf Floskeln.
Einzig Darja scheint ihm wichtig zu sein. Darja, das Wunderkind, die früh aus der Sowjetunion geflohen ist und im Westen eine beispielhafte Karriere als Violinistin hingelegt hat. Darja, die ihm in jungen Jahren, einzig durch ihr Spiel, gezeigt hat, dass er Mittelmaß ist und bleiben wird. An sie sind die nicht abgeschickten Briefe adressiert, in denen er versucht, sich über sich und seine Lage klarzuwerden.
Gleichzeitig ruft Simon sich die Biographien anderer Musiker mit ähnlichen Problemen ins Gedächtnis , denkt an Pianisten, die im Krieg eine Hand verloren haben. Oder an Bartok, der gezwungen war, ins Exil zu gehen und dort schwer krank starb. So erhält man als Leser gleichzeitig einen interessanten Einblick in Musikerleben, und Simons Biographie wirft einen kritischen Blick auf den unbarmherzigen Musibetrieb. Um das Ganze abzurunden, empfiehlt es sich, die im Text angesprochenen Musikstücke anzuhören.

Der Prozess der Verarbeitung braucht Zeit. Aus der geplanten einen Woche werden mehrere, die Simon auf der menschenleeren Insel zubringt. Er ist gezwungen, hier ganz elementare Dinge zu tun, Feuer zu machen, Holz zu spalten, ein Boot zu lenken. Es erfüllt ihn mit Stolz, solche handwerklichen Verrichtungen zu beherrschen.
Er beobachtet die Vögel und ist fasziniert von ihren Verhaltensweisen und vor allem von ihren unterschiedlich klingenden Stimmen. ( Dass Stefan Moster Hobby- Ornithologe ist, merkt man den detaillierten Schilderungen aus der Vogelwelt an.) Simon nimmt auf einmal die Klänge der Natur wahr.

Als Leser begleitet man den Protagonisten auf diesem schmerzhaften Weg vom Erkennen zur Akzeptanz. Es passiert äußerlich nicht viel, doch umso bewegender ist das, was im Inneren der Figur passiert. Denn Simon steckt nicht nur in einer existenziellen Lebenskrise, sondern sieht auch ganz konkret sein finanzielles Fundament weg brechen.
Moster beschreibt dies mit sehr viel Einfühlungsvermögen und mit einem genauen Blick für Details. Großartig sind aber nicht nur seine Beschreibungen der seelischen Nöte des Protagonisten, sondern die Art, wie er die Insel mit Flora und Fauna, den Wind und das Meer zum Klingen bringt.
Ein leiser, aber intensiver Roman, der mich von Anfang an in seinen Bann geschlagen hat.