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Insgesamt 97 Bewertungen
Bewertung vom 03.08.2025
Koch, Manfred

Rilke


ausgezeichnet

*Rilke jenseits des Mythos - Eine beeindruckende Biografie*
Anlässlich des 150. Geburtstag des berühmten Lyrikers Rainer Maria Rilke legt der Literaturwissenschaftler Manfred Koch mit seiner umfangreichen Biografie „Rilke: Dichter der Angst“ eine spannende, tiefenpsychologisch fundierte Gesamtschau vor, die den Dichter und sein Werk neu und eindrucksvoll beleuchtet.
Mit seinen eingehenden Analysen präsentiert er uns überraschende Erkenntnisse über den Menschen hinter dem Mythos und einen frischen Kontrapunkt zu den gängigen Rilke-Vorstellungen. Koch gelingt es überzeugend, bekannte Klischees aufzubrechen und Rilke nicht als idealisierten „Dichterpriester“, sondern als sensiblen Künstler darzustellen, der zeitlebens von Selbstzweifeln und existenziellen Ängsten geprägt war.
Beeindruckend verbindet der Literaturwissenschaftler akribische biografische Rekonstruktionen mit präziser Werkdeutung. Sehr anschaulich zeigt er, wie Rilkes literarisches Schaffen als eine Art Überlebensstrategie diente – als Reaktion auf traumatische Kindheitserlebnisse, psychische Krisen und permanente Unsicherheit, die ihn ein Leben lang begleitete.
Besonders eingehend widmet sich Koch der Kindheit Rilkes und analysiert anhand bislang weitgehend unbeachteter Briefe, Tagebuchfragmente und medizinischer Unterlagen die problematische Mutter-Kind-Beziehung. Er macht deutlich, wie diese Beziehung seine Schwierigkeiten im Aufbau von Bindungen sowie seinen hohen Perfektionismus im Schreiben nachhaltig beeinflusste.
Darüber hinaus beleuchtet Koch die Ambivalenzen in Rilkes Beziehungen zu Frauen und Mäzenen, die häufig von Abhängigkeiten geprägt waren und auf seinen tiefen existentiellen Ängsten beruhten.
Besonders faszinierend sind zudem Kochs Deutungen in Bezug auf Rilkes nuancierter Haltung zu Geschlechterrollen und Identitätsfragen. So zeigt er auf, dass Rilke in seinen Gedichten bewusst mit den Grenzen von Geschlecht spielte – als ein Versuch, Schutzräumen gegenüber der Komplexität realer zwischenmenschlicher Beziehungen zu schaffen.
Koch scheut sich nicht davor, auch die weniger schmeichelhaften Seiten und Widersprüche des Genies zu thematisieren: Hierzu gehörten beispielsweise dessen finanzielle Abhängigkeiten, sein egoistisches Verhalten gegenüber Freunden und Geliebten sowie die Tendenz, alltägliche Probleme philosophisch zu überhöhen. Dabei bewahrt die Biografie stets einen fairen und empathischen Ton, der Rilkes Schwächen und seine tiefe Verwundbarkeit menschlich nachvollziehbar macht, ohne sie moralisch zu verurteilen.
Die Verbindung von Biografie und Werk wird durch zahlreiche neue Quellen gestützt, darunter viele bislang unveröffentlichte Briefe und Notizen, die im äußerst umfangreichen wissenschaftlichen Anhang dokumentiert sind. Diese fundierte Quellenbasis belegt gekonnt die Thesen des Autors und verleiht dem Werk großes Gewicht.
Zu kritisieren bleibt jedoch, dass sich Koch teilweise zu stark auf seine „Angst-These“ fokussiert, die nicht immer durchgängig überzeugt und womöglich auch andere Deutungs- oder Lebensaspekte Rilkes etwas zu kurz kommen lässt.
Dennoch ist die Biografie ein bedeutender Fortschritt in der Rilke-Forschung, der den Dichter aus einer neuen, zeitgemäßen Perspektive zeigt.
Kochs einfühlsame Biografie eröffnet einen spannenden Zugang zu Rilkes Werk, indem sie psychologische Tiefe und literarisches Verständnis gekonnt vereint und so den Dichter-Mythos differenziert relativiert.
Gekonnt zeichnet Koch ein sensibles und schonungslos ehrliches Porträt eines zutiefst verletzlichen Menschen, der sein Leben lang mit inneren Dämonen rang und einen hohen Preis für seine Kunst zahlte.
Für alle, die hinter das Bild des Genies schauen wollen, die eine Verbindung von Psychologie und Literatur schätzen und keine klassische, rein werkorientierte Biografie erwarten, bietet Kochs Werk neue, faszinierende Einsichten und frische Zugänge zu Rilke – ein Meilenstein voller Empathie und kritischer Reflexion.

FAZIT
Ein beeindruckendes, psychologisch nuanciertes Porträt eines zutiefst komplexen Künstlers, das den bekannten Rilke-Mythos herausfordert und die Ängste, Widersprüche und Verletzlichkeiten des Dichters eindrucksvoll in den Mittelpunkt stellt.
Eine äußerst anspruchsvolle, aber bereichernde Lektüre für alle, die hinter das Genie blicken wollen!

Bewertung vom 01.08.2025
Brooks, Sarah

Handbuch für den vorsichtigen Reisenden durch das Ödland (eBook, ePUB)


sehr gut

*Faszinierende Fantasy-Reise ins Unbekannte *
Mit ihrem Roman „Handbuch für den vorsichtigen Reisenden durch das Ödland“ ist Sarah Brooks ein faszinierendes und, atmosphärisch dichtes Debüt gelungen.
Der Roman besticht durch eine ungewöhnliche Genrevielfalt auf, die sich am ehesten dem „Magischem Realismus“ zuordnen lässt. Geschickt verwebt die Autorin Elemente aus historischem Roman, Krimi und Fantasy mit surrealen Einschüben und erschafft so eine originelle, facettenreiche und ungemein fesselnde Geschichte, die uns immer wieder aufs Neue überrascht.
Die Ende des 19. Jahrhunderts angesiedelte Handlung nimmt uns mit auf eine ungewöhnliche Reise mit dem Transsibirien-Express - mitten durch die bedrohlich wirkende, feindselige Landschaft des legendären Ödlands. Obwohl die Transsibirien-Kompanie ihren Reisenden vollkommene Sicherheit in dem hermetisch abgeriegelten Zug verspricht, offenbaren sich hinter der vertrauenerweckenden Fassade schon bald unberechenbare Gefahren.
Die wendungsreiche Geschichte wird aus den wechselnden Perspektiven verschiedener Passagiere und Angestellter des Transsibirien-Express erzählt, von denen jeder seine eigenen Beweggründe für die Reise hat. Ob nun das Findelkind Weiwei, das als „Zugkind“ sein ganzes bisheriges Leben im Zug verbracht hat, die rätselhafte Frau Maria Petrowna, die unter falschen Namen reist und den Selbstmord ihres Vaters aufklären möchte oder der in Ungnade gefallene Naturforscher Henry Grey, der um seine wissenschaftliche Reputation kämpft – sie alle bringen ihre individuellen Schicksale, Hoffnungen und Geheimnisse mit, die erst im Verlauf der Handlung allmählich enthüllt werden. 
Einfühlsam und facettenreich sind die verschiedenen Figuren mit ihren Eigenheiten, Geheimnissen und Verletzlichkeiten beschrieben, so dass man ihnen gerne durch die Geschichte folgt. Dennoch erschienen mir die Charaktere oftmals etwas blass und zu wenig greifbar, was es erschwerte, eine wirkliche emotionale Bindung zu ihnen aufzubauen.
Eingestreut in die Handlung finden sich immer wieder Passagen aus dem „Handbuch für den vorsichtigen Reisenden durch das Ödland“, verfasst von einem gewissen Rostow, der die mystische und gefährliche Natur des  Ödlands und seine Durchquerung akribisch erforscht und niedergeschrieben hat.
Mit ihrem lebendigen, äußerst anschaulichen Erzählstil gelingt es der Autorin hervorragend, sowohl das einzigartige Ambiente des Transsibirien-Expresses als auch die geheimnisvolle Weite des Ödlands samt seiner bizarren Kreaturen eindrucksvoll und facettenreich zu beschreiben. Rasch verliert man sich in dieser faszinierenden, von unheilvoller Atmosphäre und ungewöhnlichen Ereignissen geprägten Welt, die vor originellen Details nur so sprüht.
Das Geschehen entfaltet sich aus unterschiedlichen Blickwinkeln und nimmt erst allmählich Fahrt auf, wodurch sich das Gesamtbild erst schrittweise zusammensetzt. Es braucht eine gewisse Zeit, bis sich anfangs verwirrende Details zuordnen und gewisse Zusammenhänge erkennen lassen. Teilweise gerät die Handlung jedoch ins Stocken und wirkt phasenweise etwas langatmig. Gleichzeitig lockert Brooks die Erzählung zunehmend mit magischen und surrealen Elementen auf, die für eine zusätzliche Vielschichtigkeit sorgen.
Mit zahlreichen unerwarteten Wendungen gewinnt die Geschichte aber schließlich deutlich an Dynamik und Spannung und steuert auf ein höchst packendes Finale zu, das mit einigen überraschenden Verwicklungen aufwartet.
Brooks thematisiert in ihrem Roman grundlegende Fragestellungen zum respektvollen Umgang mit der Natur sowie den Risiken von Industrialisierung und Kommerzialisierung. Das Ödland wird zum kraftvollen Symbol für das Unbekannte und Unkontrollierbare, das sich einer Vereinnahmung durch die Menschen widersetzt. Durchzogen von subtilen gesellschaftskritischen Anklängen liest sich der Roman zugleich als eindringliche Mahnung, einen harmonischen Einklang mit der Natur zu suchen und zu bewahren – eine wunderbare Botschaft dieses faszinierenden und tiefgründigen Romans!

FAZIT
Ein beeindruckendes, atmosphärisch dichtes Debüt voller origineller Ideen - mit einem faszinierenden Genre-Mix, einer fesselnden,  tiefgründigen Handlung und einer wichtigen, zeitlosen Botschaft!
Trotz gelegentlicher Längen und etwas distanzierter Figurenzeichnung empfehlenswert für alle, die Lust auf eine ungewöhnliche Mischung aus Abenteuer, Fantasy und literarischer Reise haben!

Bewertung vom 30.07.2025
Rundberg, Johan

Mika Mysteries 1: Der Ruf des Nachtraben (MP3-Download)


ausgezeichnet

*Fesselnder Auftakt*
Mit „Der Ruf des Nachtraben“ ist Johan Rundberg ein faszinierender Auftakt seiner historischen Jugendkrimi-Reihe „Mika Mysteries“ gelungen. Im Mittelpunkt steht die zwölfjährige Mika, die unter entbehrungsreichen Zuständen in einem Stockholmer Waisenhaus lebt und nebenbei als Schankmädchen arbeiten muss.
Die stimmige Mischung aus spannendem Kriminalfall, beklemmender Milieubeschreibung und feinsinniger Sozialkritik entfaltet von Beginn an eine große Sogwirkung.
Rundbergs bildhafter Erzählstil, der auch auf eine jüngere Leserschaft ab 10 Jahren zugeschnitten ist, lässt uns unmittelbar in das historische Stockholm mitten im bitterkalten Winter des Jahres 1880 eintauchen. Der Autor zeichnet ein eindrucksvolles Bild jener düsteren Zeit, in der bittere Armut, soziale Not und täglicher Überlebenskampf allgegenwärtig sind. Es gelingt ihm hervorragend, die recht bedrückende Atmosphäre des späten 19. Jahrhunderts lebendig werden zu lassen, so dass man die Härten und Ungerechtigkeiten des Alltags gut nachempfinden kann.
Als eines Nachts ein Findelkind von einem mysteriösen Unbekannten im Waisenhaus abgegeben wird, wird die clevere, aufgeweckte Mika befragt. Der ermittelnde Kommissar Valdemar Hoff erkennt Mikas scharfen Verstand und außergewöhnliche Beobachtungsgabe und bindet sie in die Ermittlungen zu einem äußerst rätselhaften Mordfall ein, bei dem ein bereits totgeglaubter Serienmörder – der berüchtigte Nachtrabe - erneut sein Unwesen in der Stadt zu treiben scheint. So begibt sich das äußerst ungleiche Ermittlerduo auf eine gefahrvolle und abenteuerliche Spurensuche, bei der nicht nur die Lösung des Falls, sondern auch die gesellschaftlichen Zwänge jener Zeit eine bedeutsame Rolle spielen.
Mit der sympathischen Mika hat Rundberg eine Hauptfigur geschaffen, die sowohl lebensnah als auch vielschichtig ist. Ihre Gefühle, Sorgen und Nöte sind auch für Kinder nachvollziehbar, so dass man sich gut in sie hinein versetzen und mit ihr mitfiebern kann. Mit Scharfsinn, Witz und Mut stellt sie sich den gesellschaftlichen Zwängen ihrer Zeit entgegen. Doch hinter Mikas Stärke verbergen sich auch nachdenkliche, verletzliche Momente, in denen ihre Zweifel und Einsamkeit spürbar werden, , was ihre Figur besonders einnehmend und glaubwürdig macht.
Auch die Nebenfiguren sind entsprechend ihrer Rollen facettenreich ausgearbeitet. Allen voran der anfangs sehr spröde, vermeintlich hartherzige Kommissar Hoff, der Mika erst abschätzig als „Lumpenfräulein“ tituliert, im Laufe der Ermittlungen aber mehr und mehr Respekt und Wertschätzung für ihre Fähigkeiten entwickelt.
Die realistischen, teils schonungslosen Beschreibungen des historischen Alltags und der dunklen Seiten Stockholms dürften allerdings eher eine erwachsene Leserschaft ansprechen und könnten für Jüngere stellenweise durchaus Angsteinflößend sein. Dennoch wird die düstere, oft bedrückende Stimmung durch humorvolle, scharfzüngige Dialoge zwischen Mika und Kommissar Hoff immer wieder angenehm aufgelockert.
Es entfaltet sich eine clever angelegte, fesselnde Geschichte, die mit überraschenden Wendungen für viel Abwechslung sorgt, und bei der die Spannung bis zur überraschenden Auflösung konstant auf hohem Niveau bleibt.
Viel Neugier wecken zudem die interessant angelegten Nebenstränge, allen voran das Rätsel um Mikas Herkunft, das Lust auf weitere Bände macht.
ZUM HÖRBUCH
Die Film- und Theaterschauspielerin Julia Nachtmann überzeugt mit einer lebendigen und absolut mitreißenden Interpretation der Geschichte. Mit ihrer ruhigen, warmherzigen und nuancenreichen Stimme fängt sie sie dichte Atmosphäre hervorragend ein, sodass auch jüngere Zuhörer mit ausreichend Konzentration den Geschehnissen gut folgen können. Vielschichtig und mit großer Sensibilität transportiert sie dabei die mitunter bedrückende Atmosphäre. Gekonnt erweckt sie das historische Stockholm eindringlich und packend zum Leben.
Durch ihre variantenreiche Stimmgestaltung verleiht Nachtmann den verschiedenen Figuren durch nicht nur Glaubwürdigkeit, sondern auch individuelle Charakterzüge und eine klare Unterscheidbarkeit. Besonders die sympathische Mika wirkt in ihrer gesamten emotionalen Bandbreite lebendig und authentisch. Nachtmann gibt ihr eine eigene, passende Stimme, wodurch Zuhörer ganz unmittelbar an Mikas Sicht auf die Welt teilhaben und eine enge Bindung zu ihr aufbauen können.
Auch Nebenfiguren werden mit ihren jeweiligen Eigenheiten stimmlich gut unterscheidbar interpretiert, was die Handlung besonders lebendig und nachvollziehbar macht.
Insgesamt bietet dieses ungekürzte Hörbuch eine äußerst gelungene Umsetzung des Auftaktbands!

FAZIT
Ein anspruchsvoller und außergewöhnlich atmosphärischer Jugendkrimi vor historischem Hintergrund, der mit einer liebenswerten, starken Protagonistin und vielschichtigem Kriminalfall überzeugt!
Ein rundum gelungener Auftakt, der jugendliche wie auch erwachsene Fans von historischen Krimis begeistern wird!

Bewertung vom 13.07.2025
Pötzsch, Oliver

Der Totengräber und die Pratermorde / Inspektor Leopold von Herzfeldt Bd.4 (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

*Eine fesselnde Rückkehr ins Wien der Jahrhundertwende*
Mit „Der Totengräber und die Pratermorde“ - dem bereits vierten Band seiner erfolgreichen historischen Krimireihe rund um den jungen, charismatischen Inspektor Leo von Herzfeldt, die ambitionierte Journalistin und Fotografin Julia Wolf sowie den eigenwilligen Totengräber Augustin Rothmayer – legt Oliver Pötzsch eine mitreißende Fortsetzung vor und entführt uns erneut ins quirlige Wien der Jahrhundertwende.
Vorkenntnisse aus den vorherigen Bänden sind für das Verständnis der Handlung nicht zwingend erforderlich. Dennoch empfehle ich allen Liebhabern historischer Krimis, auch die früheren Geschichten dieser absolut lesenswerten Reihe kennenzulernen.
Auch im aktuellen Band beweist Pötzsch sein außergewöhnliches Talent als Erzähler und hat einen spannenden, höchst komplexen Kriminalfall entworfen, der mich auf ganzer Linie überzeugen konnte.
Der neue, knifflige Fall spielt im Jahr 1896 und lässt uns in die faszinierende Welt des Wiener Praters eintauchen - mit seinen Artisten, Schaustellern, aber auch den dunklen Seiten der Vergnügungen.
Der auf mehreren Handlungssträngen angelegte Krimi beginnt mit einem spektakulären Auftakt. Während der Premierenvorstellung des berühmten Zauberers Charles Banton und seinem neuesten Zaubertricks „Die zersägte Jungfrau“ kommt es vor den Augen des Publikums zu einer tragischen und schockierenden Katastrophe - die junge Assistentin kommt dabei tatsächlich auf der Bühne ums Leben. Die für die Lokalpresse schreibende Reporterin Julia ist vor Ort und beginnt sogleich mit eigenen Nachforschungen.
Die offiziellen Ermittlungen zu dem rätselhaften Todesfall übernimmt wieder Inspektor Leopold von Herzfeldt. Doch schon bald verdichten sich zudem Hinweise auf das spurlose Verschwinden von jungen Frauen rund um den Prater. Nur gut, dass Leo bei seinen schwierigen Ermittlungen auf die Unterstützung seines hochgeschätzten Weggefährten Augustin Rothmayer und dessen speziellem Fachwissen zählen kann.
Pötzsch überzeugt mit einem temporeichen, lebendigen und mit feinem Humor gewürzter Schreibstil. Die detailreich beschriebenen Schauplätze und sorgfältig recherchierten historischen Hintergründe, die geschickt in die Handlung eingeflochten werden, lassen das historische Wien gekonnt lebendig werden und vermitteln ein besonderes, nostalgisches Flair.
Neben dem authentischen Zeitkolorit und der stimmungsvoll eingefangenen Atmosphäre lebt der Roman vor allem von seinen vielschichtigen und liebevoll gestalteten Figuren. Besonders das unkonventionelle Ermittlerteam aus dem engagierten Inspektor, der cleveren Julia Wolf und dem skurrilen Totengräber Rothmayer ist einem inzwischen ans Herz gewachsen und sorgt für allerlei Abwechslung und Charme. Neben den facettenreichen Ermittlungen sind natürlich auch das Privatleben der Hauptfiguren und ihre persönlichen Entwicklungen wichtiger Bestandteil der Geschichte. Rothmayers Wiener Charme, aber auch seine Hilflosigkeit angesichts seiner pubertierenden Ziehtochter Anna bringen immer wieder humorvolle und unterhaltsame Momente in die fesselnde Handlung. Schön ist es auch, die Weiterentwicklung der Beziehung zwischen Leo und Julia mitzuerleben.
Die zahlreichen Nebenfiguren sind abwechslungsreich und originell gestaltet und bereichern die Geschichte zusätzlich.
Die Handlung ist durchweg spannend und voller unerwarteter Wendungen, sodass man beim Miträtseln und Mitfiebern mit den vielschichtigen Charakteren voll auf seine Kosten kommt. Das packende Finale hält einige Überraschungen bereit, und die Aufklärung der Fälle sowie die Motive werden schlüssig und nachvollziehbar präsentiert.
Ich freue mich schon sehr auf weitere Bände dieser farbenfrohen und unterhaltsamen historischen Krimireihe und hoffe, den liebgewonnenen Charakteren bald wieder zu begegnen.
FAZIT
Eine unterhaltsame und rundum gelungene Fortsetzung der historischen Krimireihe – atmosphärisch und mitreißend erzählt mit authentischem Zeitkolorit, lebendigen Figuren und einer packenden Krimihandlung!
Ein Muss für Fans historischer Krimis!

Bewertung vom 12.07.2025
Mommsen, Janne

Das Licht in den Wellen


sehr gut

*Eine bewegende Familiensaga*
Mit „Das Licht in den Wellen“ ist dem Bestseller-Autor Janne Mommsen erneut ein facettenreicher Wohlfühlroman gelungen, der auf beeindruckende Weise das Herz berührt und zum zugleich zum Nachdenken anregt. Mommsen nimmt uns mit auf eine fesselnde und emotionale Reise und führt uns mit seiner bewegenden Lebensgeschichte nicht nur durch vergangene Epochen, sondern auch geografisch von der nordfriesischen Insel Föhr bis in die faszinierende Metropole New York.
Gekonnt erzählt Mommsen eine vielschichtige Geschichte gelungen über Mut, Charakterstärke, Neuanfang, die Macht der Erinnerungen sowie die Bedeutung familiärer Bindungen und den Umgang mit Verlusten und verpassten Chancen.
Im Mittelpunkt steht die beeindruckende Protagonistin Inge Martensen, die kurz vor ihrem 100. Geburtstag gemeinsam mit ihrer Urenkelin Swantje von ihrer Heimatinsel noch einmal nach New York aufbricht – an den Ort, an den sie vor über acht Jahrzehnten als junge Frau auswanderte.
Geschickt hat Mommsen die Rahmenhandlung der Gegenwart mit Inges Rückblicken in die Vergangenheit verwoben. Eindrucksvoll schildert er, wie sich Inge ihrer Urenkelin während der Atlantiküberquerung allmählich öffnet und prägende Erlebnisse aus ihrem bewegten Leben offenbart. Trotz anfänglicher Unsicherheiten und Schwierigkeiten findet die unbedarfte Bauerntochter ihren Platz in der pulsierenden Weltstadt, arbeitet sich hoch und avanciert schließlich mit ihrer berühmten Kartoffelsalat-Kreation zur gefeierten Gastronomin mit eigenem Restaurant. Ihre Erzählung ist geprägt von persönlichen Erfahrungen des Aufbruchs und des Heimwehs, von Triumphen und Niederlagen, von Freundschaft und Liebe – und lässt zugleich ein faszinierendes Kapitel Zeitgeschichte lebendig werden. Wie im ausführlichen Nachwort erläutert, wurde der Autor während seiner umfassenden Recherchen durch die zahlreichen Lebensgeschichten von Föhrern, die in die USA ausgewandert sind, inspiriert und hat diese in seinen Roman einfließen lassen.
Mommsen versteht es hervorragend, die verschiedenen Schauplätze und die Atmosphäre der so gegensätzlichen Welten sehr bildhaft und mit viel Liebe zum Detail einzufangen. So kann man sich nicht nur mühelos in das raue, ländlich geprägte friesische Inselleben, sondern auch in den turbulenten Melting pot von Manhattan hineinversetzen kann. Besonders gelungen sind zudem die eingestreuten historischen Informationen und interessanten Hinweise auf die Auswanderungstradition der Föhrer Insulaner, die auch in der Fremde stets zusammenhielten.

Mit der 100-jährigen Inge hat Mommsen eine wundervoll lebendige, vielschichtige Protagonistin geschaffen. Mit ihrer außergewöhnlichen Persönlichkeit, ihrer Lebensfreude und Tatkraft beeindruckt sie auf der ganzen Linie, denn sie lässt sich trotz herber Rückschläge und Lebenskrisen nie unterkriegen. Mit ihrer lebensklugen, humorvollen und manchmal auch eigensinnigen Art wächst sie einem schnell ans Herz. Mommsen versteht es, ihren Rückblick auf ein langes, erfülltes Leben mit all seinen dunklen Flecken und Geheimnissen feinfühlig und glaubwürdig zu schildern. Recht authentisch ist zudem ihre enge Beziehung zu Swantje dargestellt, die sich an einem Wendepunkt ihres Lebens befindet und auf der Suche nach Sinn und Identität ist. Etwas blass bleiben leider die Nebenfiguren, denen etwas mehr Tiefe gut getan hätte.
Auch wenn Mommsen ein sehr idealisiertes Bild des American Dream zeichnet und Inges märchenhafter Aufstieg in New York insgesamt etwas zu überzeichnet wirkt, konnte mich die warmherzig erzählte Familiengeschichte dennoch gut unterhalten. Für alle, die mehr gesellschaftskritische Nuancen oder überraschende Wendungen schätzen, dürfte der Roman jedoch insgesamt zu vorhersehbar und mit seinen Wohlfühlmomenten als zu harmonisch wirken.
Das etwas überstürzt wirkende Ende des Romans deutet bereits darauf hin, dass die turbulente Familiengeschichte noch nicht zu Ende ist: Im April 2026 erscheint mit „Das Salz in der Luft“ die Fortsetzung, in der weitere spannende Kapitel aus Inges bewegter Lebensgeschichte erzählt werden.
FAZIT
Eine unterhaltsame, warmherzige Familiensaga, die von der Kraft der Erinnerung, dem Mut zum Neuanfang und der Bedeutung von Familie erzählt und durch ihre authentische, sympathische Protagonistin auf ganzer Linie überzeugt.
Wer auf der Suche nach einem inspirierenden, emotionalen Roman mit viel Herz ist, wird hier voll auf seine Kosten kommen!

Bewertung vom 24.05.2025
Williams , Niall

Das ist Glück


ausgezeichnet

*Liebevolle Irland-Hommage*
Mit seinem Roman „Das ist Glück“ ist Niall Williams eine außergewöhnliche literarische Hommage an Irland und an das Leben in all seinen Facetten.
Der Autor verbindet philosophische Betrachtungen, humorvolle und poetische Passagen gekonnte zu einer berührenden Geschichte über das Erwachsenwerden, über Gemeinschaft, Glauben, Tradition sowie über Liebe, Verlust und Vergebung, die gleichermaßen zum Nachdenken wie zum Schmunzeln einlädt.
Mit einem warmherzigen Blick auf die Eigenheiten der Dorfbewohner und einer tiefen Verbundenheit zur irischen Kultur gelingt es Williams, den Zauber vergangener Tage einzufangen und uns auf eine atmosphärische Zeitreise mitzunehmen.
Die Geschichte ist im verschlafenen irischen Dorf Faha Ende der 1950er Jahre angesiedelt. Es ist ein vom Wetter und zeitloser Beschaulichkeit geprägter Ort am Übergang zwischen Tradition und Moderne. Mit der Elektrifizierung kündigt sich nun ein Wandel für das fast ein wenig aus der Zeit gefallene Dorf an.
Der 78-jährige Ich-Erzähler Noel "Noe" Crowe erzählt rückblickend über den für sein weiteres Leben prägenden Sommer seiner Jugend. Wegen einer Glaubenskrise hat der damals 17-Jährige kurzerhand das Priesterseminar verlassen und ist zu seinen Großeltern Ganga und Doudy nach Faha gezogen. Dort begegnet er Christy, der während der Elektrifirierungsarbeiten als Untermieter bei seinen Großeltern wohnt. Dieser geheimnisvolle, weitgereiste Mann mit bewegter Vergangenheit, dessen wahre Absichten sich erst allmählich offenbaren, wird für Noe zum Freund und Mentor. Während Noe erste romantische Gefühle entdeckt und beginnt, die Welt um ihn herum neu zu begreifen, sucht Christy nach Vergebung und innerem Frieden, indem er alte Wunden zu heilen versucht. Während das Dorf sich langsam verändert, entwickelt sich die fein verwobene Geschichte in einem bedächtigen Tempo und beleuchtet geschickt die kleinen Glücksmomente des Alltags und grundlegenden Fragen des Lebens.

Williams’ Schreibstil ist poetisch, detailverliebt und oft verschachtelt. Zusammen mit feinen philosophischen Betrachtungen und einem subtilen Humor verleiht er der Geschichte eine ganz eigene, wundervolle Dynamik. Die Handlung entfaltet sich in einem gemächlichen Tempo, lädt zum Innehalten ein und eröffnet Raum für eigene Gedanken über die Essenz des Lebens.
Williams versteht es, sowohl die Schönheit der irischen Landschaft in all ihren Nuancen, als auch die irische Mentalität eindrucksvoll einzufangen: ein Leben im Einklang mit der Natur, getragen von einer Gelassenheit und einer tiefen Verbundenheit der Gemeinschaft zu überlieferten Bräuchen und Traditionen.

Ein besonderes Highlight ist die feinfühlige und vielschichtige Zeichnung der Charaktere.
Williams gelingt es hervorragend, die Dorfbewohner von Faha mit all ihren Stärken und skurrilen Eigenheiten auf beeindruckende Weise lebendig, glaubwürdig und liebenswert zu porträtieren. Mit feinem Gespür für Details und einem ausgeprägten Sinn für Humor verleiht er seinen Figuren eine bemerkenswerte Authentizität, die für zahlreiche amüsante und berührende Momente sorgt.
Ob nun Noes wundervolle Großeltern mit ihrer stillen Lebensklugheit oder der faszinierende Christy mit seiner bewundernswerten persönlichen Mission - sie alle verkörpern eindrucksvoll die Herausforderungen, Hoffnungen, Sehnsüchte und Glücksmomente, die das menschliche Leben ausmachen.
FAZIT
Ein humorvoller und berührender Roman über die kleinen und großen Momente des Glücks und eine wundervolle Hommage an Irland und das Leben!
Ein literarischer Glücksfall voller Weisheit, Poesie und Warmherzigkeit – eine absolute Empfehlung für Liebhaber anspruchsvoller Literatur!

Bewertung vom 24.05.2025
Strubel, Antje Rávik

Der Einfluss der Fasane


ausgezeichnet

*Ein brisanter Blick hinter die Kulissen von Medienmacht und Moralverfall*
In ihrem beeindruckenden, neuen Roman "Der Einfluss der Fasane" erzählt die Autorin Antje Rávik Strubel eine vielschichtige und hochaktuelle Geschichte über Machtstrukturen, mediale Inszenierung und die zerstörerische Dynamik öffentlicher Diskurse. Eindrucksvoll greift die Autorin in ihrem Roman sowohl die #MeToo-Debatten als auch die Dynamik von Skandalisierung und Empörungskultur auf.
Der für ihren präzise Schreibstil und gesellschaftskritische Themen bekannten Buchpreisträgerin, gelingt in ihrem Roman erneut eine tiefgründige Auseinandersetzung mit persönlicher Schuld, moralische Grauzonen, die Abgründe von Machtmissbrauch und gesellschaftlicher Selbstüberschätzung.
Im Mittelpunkt der fesselnden Geschichte steht die erfolgreiche Feuilletonchefin einer großen Zeitung Hella Karl, deren Leben durch einen Skandal völlig aus den Fugen gerät.
Die Handlung beginnt mit der verstörenden Nachricht über den überraschenden Suizid des gefeierten Theaterintendanten Kai Hochwerth kurz nachdem Hella einen brisanten Enthüllungsartikel über diesen charismatischer Künstler aber auch fragwürdigen Machtmenschen veröffentlicht hatte. Unversehens wird sie zur Zielscheibe der öffentlichen Empörung und für seinen Tod verantwortlich gemacht.
Strubel versteht es mit diesem dramatischen, bühnenstückreifen Auftakt hervorragend, uns auf in ihre facettenreiche Geschichte über Medienmacht und moralische Fragilität hineinzuziehen und eine intensive Atmosphäre von Spannung und Ungewissheit zu schaffen. Gekonnt beleuchtet sie die Doppelrolle der Medien im digitalen Zeitalter als vermeintliche Wahrheitshüter und skrupellose Skandalmaschinerie, die längst jegliche moralischen Maßstäbe verloren hat. Hellas anfängliche Überzeugung, durch ihre Enthüllungen Gerechtigkeit zu schaffen, zerschellt an der Realität eines Shitstorms, der sie zur Projektionsfläche gesellschaftlicher Hysterie macht. Die einst meisterhaft von ihr gesteuerten Medien wenden sich völlig gegen sie. Eindringlich schildert Strubel, wie Hella zunächst noch verbissen versucht, die Kontrolle über ihr Leben zu behalten, aber beruflich und auch privat in eine fatale Abwärtsspirale gerät. An einem Punkt völligen Scheiterns angelangt beginnt Hella schließlich, ihre Entscheidungen, ihre Vergangenheit und ihr Selbstbild kritisch zu hinterfragen.
Mit ihrem klaren, prägnanten Schreibstil gelingt es Strubel hervorragend, die allmählich die Hintergründe der Geschichte zu enthüllen und gleichzeitig ein vielschichtiges Bild der medialen Landschaft mit Cancel Culture und den erschreckenden Dynamiken sozialer Netzwerke zu zeichnen.
Besonders eindrucksvoll ist die Gegenüberstellung von Hellas innerem Monolog mit den externen Medienstimmen aus Social Media und Zeitungskommentaren. Durch die Perspektivwechsel entsteht ein faszinierender Kontrast zwischen Hellas nach außen gezeigter professioneller Distanz und ihrer emotional aufgewühlte Verfassung und oft panischen Gedankensprüngen. Dies sorgt für eine unwiderstehliche Sogwirkung und spiegelt gleichzeitig die Komplexität moderner Mediendiskurse wider.
Mit ihrer Protagonistin Hella hat die Autorin einen vielschichtigen Charakter geschaffen. Sie versteht es sehr gut, Hellas interessante, widersprüchliche Persönlichkeit anschaulich und psychologisch stimmig zu vermitteln, so dass man sich gut in ihre komplexe Gedankenwelt und schwierige Lage hineinversetzen kann.Aufgrund ihres distanzierten, ambivalenten Charakters fällt es allerdings schwer, Mitgefühl für Hella zu entwickeln. Einerseits selbstbewusst, durchsetzungsstark und egozentrisch, erleben wir die Protagonistin hinter ihrer starken Fassade der Selbsttäuschung andererseits auch orientierungslos, höchst verletzlich und unfähig die Menschen in ihrem Umfeld richtig einzuschätzen. Durch fehlende Selbstreflexion uund mangelnde Einsichtsfähigkeit sowie als Opfer ihrer eigenen Machtbesessenheit fällt es ihr schwer einen Ausweg aus ihrer desolaten Situation zu finden.

Bewusst lässt Strubel viele Fragen unbeantwortet – sowohl in Bezug auf die journalistische Integrität der Protagonistin Hella Karl als auch hinsichtlich der moralischen Verfehlungen des verstorbenen Theaterintendanten Kai Hochwerth. Diese Offenheit zwingt uns, unsere eigenen Überzeugungen und Urteile zu hinterfragen. Statt klare Antworten zu liefern, entwirft Strubel ein vielschichtiges Bild voller Ambivalenzen, das die Komplexität der Themen widerspiegelt.
In einer Zeit, in der schnelle Urteile und öffentliche Empörung durch soziale und traditionelle Medien dominieren, setzt sie mit ihrem Roman ein starkes Zeichen, indem sie dazu auffordert, innezuhalten, differenziert zu denken und sich nicht von der Dynamik digitaler Pranger mitreißen zu lassen.

FAZIT
Nicht nur eine fesselnd erzählte Geschichte, sondern auch ein subtiles politisches Statement über unsere Verantwortung im Umgang mit Wahrheit und Macht.

Bewertung vom 24.05.2025
Kucher, Felix

Von Stufe zu Stufe


sehr gut

*Eine faszinierende Zeitreise in die Pionierzeit des österreichischen Films*
In seinem beeindruckenden Roman „Von Stufe zu Stufe“ nimmt uns der österreichische Autor Felix Kucher mit auf eine faszinierende Zeitreise zurück zur Geburtsstunde des österreichischen Films zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Gekonnt fängt er die Aufbruchstimmung und den Innovationsgeist jener äußerst faszinierenden Ära der Kulturgeschichte ein.
Durch die geschickte Verflechtung von gut recherchierten, historischer Hintergrundinformationen und fesselnder Fiktion gelingt es dem Autor, die rasante technische und künstlerische Entwicklung der Kinematografie greifbar zu machen. Er entwirft aber nicht nur ein vielschichtiges Panorama der damaligen Gesellschaft, sondern zeichnet zugleich ein facettenreiches Bild der fortschreitenden Entwicklungen und kulturellen Umbrüche über ein Jahrhundert hinweg bis hin in unsere heutige Zeit.
Die Geschichte ist auf zwei thematisch miteinander verwobenen Handlungssträngen angelegt. Geschickt verbindet Kucher faszinierende historische Details über die filmgeschichtlichen Anfänge der österreichischen Stummfilmära mit einer spannenden fiktiven Gegenwartshandlung,
Im Mittelpunkt der im Dezember 2021 angesiedelten Handlung steht der frustrierte Filmwissenschaftler Marc, der nach seinem Studium in der Wissenschaft nicht richtig Fuß fassen konnte und sich mit befristeten Gelegenheitsjob als Filmarchivar und Kartenabreißer im Kino durchschlagen muss. Als er durch Zufall durch die ukrainische Pflegekraft seiner Großmutter Hinweise auf historische, verschollen geglaubte Filmrollen erhält, keimt in ihm die leise Hoffnung, doch noch durch eine mögliche Publikation einer sensationellen Entdeckung seine akademische Karriere retten zu können. So nimmt ein fesselndes Abenteuer seinen Lauf, das ihn kurz vor Ausbruch des aktuellen Ukraine-Konflikts in eine Stadt im fernen Transkarpatien führt.
Die historische Zeitebene zeichnet ein vielschichtiges Porträt der Kinematografie und beleuchtet eingehend die Pionierzeit der österreichischen Filmindustrie. In ihrem Mittelpunkt steht das Ehepaar Anton und Louise Kolm in Wien, die neben ihrer Arbeit als Fotografen zunächst damit beginnen, mit den neu aufkommendenden Kinematographen zu experimentieren und schließlich im Jahr 1908 einen kleinen, künstlerisch anspruchsvollen Kurzspielfilm mit dem Titel "Von Stufe zu Stufe"produzieren.
Mit großer Sachkenntnis und anschaulichen Details schildert die Kucher nicht nur die rasanten technischen Fortschritte der frühen Kinematographie von der faszinierenden Entwicklung der Pathé-Kinematographen bis zum Aufkommen der ersten Kinematographentheater, sondern auch die künstlerischen Herausforderungen. Eindrucksvoll zeichnet er in verschiedenen Episoden den steinigen Weg des ambitionierten Filmemacher-Teams bei den ersten Schritten ihres Schaffens nach, die sich vom einfachen Klamauk der damals produzierten Kurzfilme absetzen wollten. Besonders gelungen ist die Darstellung der realen historischen Persönlichkeit und Pionierin des österreichischen Films Louise Kolm (später Kolm-Fleck). Kucher versteht es, dieser visionären Filmemacherin der ersten Stunde eine eigene Stimme zu geben und bringt uns ihre bemerkenswerte, oft übersehene Rolle als Regisseurin bei der Entwicklung des künstlerischen Films in Österreich näher. In einer Zeit, in der Frauen sich in die tradionellen Rollenbilder fügen mussten, erleben wir Louise als kreative, durchsetzungsfähige Persönlichkeit, die sich in männerdominierten Umfeld zu behaupten weiß. Sie begegnet den Widerständen von Männern geschickt und zeigt Stärke und Eigenständigkeit, so dass sie ihren Weg unbeirrt beschreiten kann.

Kucher ist es hervorragend gelungen, sowohl die Atmosphäre des Wien der Kaiserzeit als auch die Gegenwart mit ihren Besonderheiten lebendig und authentisch darzustellen. Neben der nuancierten Auseinandersetzung mit der Filmgeschichte greift der Roman auch wichtige Themen auf wie Geschlechterrollen in der Kultur, das Spannungsfeld zwischen künstlerischer Vision und kommerziellen Interessen, persönliche Opfer beim Kampf für die eigenen Überzeugungen, prekäre Arbeitsverhältnisse in der Wissenschaft sowie die Überwindung persönlicher Ängste.

Durch den permanenten Wechsel zwischen den beiden Handlungssträngen wird geschickt Spannung aufgebaut. Fesselnd ist es Marc auf seiner ereignisreichen und abenteuerlichen Reise in die Ukraine zu begleiten und mitzuerleben, wie er auf der Jagd nach den Filmrollen mit den harten Realitäten in dem Land zu kämpfen hat und es ihm schließlich gelingt seine inneren Dämonen zu überwinden.
Während die Darstellung des historischen Wien überzeugt, wirkt das Bild der Ukraine und der dortigen Verhältnisse leider stellenweise etwas klischeebehaftet und eindimensional. Zudem hätte ein ausführliches Nachwort mit Anmerkungen zu Fakten und Fiktion den Roman bereichern können.
FAZIT
Ein fesselnder Roman, der Filmgeschichte lebendig werden lässt.

Bewertung vom 24.05.2025
Mittelmeier, Martin

Heimweh im Paradies


sehr gut

*Ein vielschichtiges Porträt von Thomas Mann im Exil*
In seinem neuen Buch „Heimweh im Paradies“ entfaltet Martin Mittelmeier ein vielschichtiges Panorama deutscher Emigrantenkultur in Kalifornien während der 1940er-Jahre. Das Werk präsentiert sich als facettenreiche Darstellung, die das geistige Vermächtnis des berühmten Schriftstellers und Nobelpreisträgers Thomas Mann würdigt und zugleich als faszinierendes Zeitdokument die politischen und literarischen Diskurse jener Epoche lebendig einfängt.
"Heimweh im Paradies" ist eine äußerst gelungene Mischform zwischen informativem Sachbuch und unterhaltsamen Roman. Mittelmeier gelingt es hervorragend, historische Fakten, fiktionale Dialoge und biografische Einblicke miteinander zu verflechten. Geschickt wechselt er zwischen knappen, fast protokollartigen Schilderungen und stimmungsvollen Beschreibungen und verwebt gekonnt historische Zitate aus Korrespondenzen mit fiktiven Szenen.
So erhalten wir einen vielschichtigen Einblick nicht nur in das Leben deutschsprachiger Intellektueller im Exil, sondern auch der multinationalen kulturschaffenden Community, die sich rund um den ambivalenten Sehnsuchtsort Los Angeles nieder gelassen hat.

Anschaulich beschreibt Mittelmeier das vermeintliche Paradies an der Pazifikküste als Ort vieler Widersprüche: Neue Inspirationen und künstlerische Freiheit, die kreative Kräfte freisetzen, stehen traumatischen Erinnerungen, beunruhigenden Nachrichten aus Europa gegenüber, aber auch sprachliche Barrieren, finanzielle Herausforderungen und kulturelle Entwurzelung manch lassen einen resignieren. Eindrucksvoll zeichnet er nach, wie Thomas Manns Villa in Pacific Palisades einerseits ein sicherer Rückzugsort wird und andererseits ein Schauplatz intensiver Selbstreflexion und Rückbesinnung. Thomas Manns berühmter Satz "Wo ich bin, ist Deutschland" wird somit zur programmatischen wie melancholischen Aussage. Nuanciert beleuchtet Mittelmeier in verschiedenen Episoden Heimatverlust, die Suche nach Identität im Exil, intellektuelle Differenzen und politische Verantwortung.
Der Autor versteht es hervorragend, das komplexe Beziehungsgeflecht zwischen prominenten Exilanten wie beispielsweise Arnold Schönberg, Bertolt Brecht oder Theodor W. Adorno, deren unterschiedliche Weltanschauungen bei privaten Zusammenkünften häufig zu politischen und persönlichen Konflikten führten. Besonders eindrücklich ist die lebendige Darstellung von ideologischen Grabenkämpfen gelungen, bei denen sich bei der Frage nach Deutschlands Zukunft nach Hitler und einer neuen demokratischen Weltordnung heftige Rivalitäten und unüberwindliche Differenzen zeigen.
Mittelmeier zeichnet eindrucksvoll Thomas Manns Entwicklung vom gefeierten Literaturnobelpreisträger zur einflussreichen Symbolfigur nach. Anschaulich zeigt Mittelmeier Manns faszinierende Gegensätzlichkeiten auf – einerseits galt er als ein gesellschaftlicher Mittelpunkt und Führerpersönlichkeit, andererseits hatte er wie viele Emigranten mit starken Selbstzweifeln und kultureller Entfremdung zu kämpfen.
Eine zentrale Rolle spielt auch die Entstehung des bedeutenden Werks "Doktor Faustus", in dem Mann versucht, die tief in der deutschen Kultur verwurzelten Ursachen des Nationalsozialismus offen zu legen. Mittelmeier zeigt, wie Mann durch die Arbeit an dem Roman sich nicht nur mit der deutschen Vergangenheit und Geschichte im Exil auseinandersetzt, sondern immer wieder seine persönliche Identität als Künstler und Exilant kritisch hinterfragt.

Obwohl die Fülle an Details und der Wechsel der unterschiedlichen Perspektiven bisweilen sehr herausfordernd ist, bietet das Buch insgesamt aber eine fesselnde und sehr facettenreiche Darstellung von Thomas Manns kalifornischem Exil, die zu weitergehenden Studien anregt.

FAZIT
Ein fesselnder und sehr informativer Beitrag zur Würdigung von Thomas Mann anlässlich seines 150. Geburtstags, der interessante Einblicke auf einen bedeutenden Abschnitt seines Lebens und Schaffens bietet. Eine grandiose, empfehlenswerte Zeitreise und eine gelungene Mischung aus historischer Genauigkeit und literarischer Freiheiten!

Bewertung vom 22.05.2025
Schroeder, Steffen

Der ewige Tanz


sehr gut

*Fesselndes Porträt von Anita Berger - Ein Leben wie ein Tanz auf dem Vulkan*
In seiner Romanbiografie „Der ewige Tanz“ portraitiert Autor und Schauspieler Steffen Schroeder das kurze, bewegte Leben der für ihre innovativen Tanzperformances berühmte Tänzerin Anita Berber (1899–1928) an, die als eine sehr ikonische und polarisierende Figur der Weimarer Republik gilt.
Anita Berbers provokante Erscheinung und skandalträchtige Lebensweise sorgte für Aufsehen und machte sie zu einer Symbolfigur des rebellischen Zeitgeists und einer Epoche des Umbruchs. Ihr Leben war geprägt von Höhen und Tiefen, von Exzessen und Tabubrüchen. Ihr unkonventioneller, androgyner Look, ihre Nackttänze, exzessiver Drogenkonsum und offen gelebte Bisexualität brachen mit den damaligen gesellschaftlichen Normen und machten sie zu einer Vorreiterin ihrer Zeit, indem sie stets die Grenzen der Kunst und Moralvorstellungen herausforderte.
Der Roman verwebt historische verbürgte Begebenheiten und Fakten mit erzählerischer Freiheit, um das Porträt dieser ebenso faszinierenden wie innerlich zerrissenen Persönlichkeit zu zeichnen.
Die Handlung, die im Juli 1928 einsetzt, als Berber von der Schwindsucht schwer gezeichnet im Berliner Bethanien-Krankenhaus liegt, entfaltet sich in verschiedenen episodischen Rückblenden als ein vielschichtiges Mosaik aus Erinnerungssplittern. Die sprunghafte Chronologie kann mitunter anstrengend und verwirrend wirken, was den Lesefluss insgesamt etwas beeinträchtigt.
Mit seinem ansprechenden, bildhaften Schreibstil gelingt es Steffen Schroeder rasch, uns auf eine faszinierende Zeitreise in die Welt der Goldenen Zwanziger Jahre mitzunehmen – eine widersprüchliche Epoche im ständigen Wandel, die einerseits zwischen Armut, gesellschaftlichen Umbrüchen, ungezügeltem Vergnügen und Dekadenz taumelte und auf andererseits rasantem Fortschritt, beispielloser kultureller Aufbruchsstimmung und Innovation.
Wie einzelne Puzzleteile fügen sich die Bruchstücke von Berbers Vergangenheit und ihrer einzigartigen Karriere nach und nach zu einem lebendigen, vielschichtigen Porträt der Künstlerin und ihrer Epoche zusammen. Ob nun kurze Episoden zu ihrer Kindheit bei ihrer geliebten Großmutter Lu, ihren künstlerischen Triumphe oder selbstzerstörerischen Exzesse - diese fragmentarische Erzählweise spiegelt nicht nur eindrucksvoll die Komplexität von Berbers Kreativität und ihrem chaotischen Lebenswandel wider, sondern gewährt uns zudem schlaglichtartig aufschlussreiche Einblicke in die turbulente Atmosphäre der Weimarer Republik. Einfühlsam und facettenreich fängt er nicht nur deren Magie ein, sondern zeigt auch schonungslos ihre Abgründe und dunklen Seiten auf.

Sehr gründlich hat Schroeder das kulturgeschichtliche Umfeld sowie das historische Geschehen jener Zeit recherchiert und anschaulich in die Handlung eingeflochten Er versteht es hervorragend die besondere Ästhetik der wilden Goldenen Zwanziger im pulsierenden Berlin oder Wien einzufangen und ein faszinierendes Panorama der avantgardistischen, künstlerischen Kreise zu entwerfen. Wie kaum eine andere verkörperte Berber durch ihre Kunst, ihren avantgardistischen Stil und ihr exzentrisches Leben den Zeitgeist einer Generation, die traditionelle Moralvorstellungen durch provokative ästhetische Auflehnungen infrage stellte und bei der Tanz als Medium gesellschaftlicher Befreiung fungierte. Hervorragend haben mir vor allem die äußerst plastischen und eindringlichen Schilderungen von Bergers außergewöhnlichen, oft bis an die Grenze zur Nacktheit gehenden Tanzchoreografien gefallen, die ihr leidenschaftliches, künstlerisches Credo wiedergeben und deutlich zeigen, dass sie ihrer Zeit in vielerlei Hinsicht sogar voraus war. Bergers bahnbrechende Choreografien und sinnliche Darbietungen eröffneten eine innovative Dimension des Tanzes. Ihre künstlerische Vision prägte maßgeblich die Entwicklung des modernen Tanzes und etablierte sie als wegweisende Figur in dieser Kunstform. Ein faszinierendes Highlight ist die mitreißende Darstellung ihres Skandalstücks „Kokain“, bei der Sprache und ekstatische Bewegung zu einer gelungenen Einheit verschmelzen.
Trotz atmosphärischer Dichte bleibt Anita Berber leider als Hauptfigur merkwürdig distanziert und ihre Beweggründe wenig greifbar. Dies mag der Tatsache geschuldet sein, dass von Berber selbst wenig persönliches Material überliefert ist, aus dem man mehr über ihre Innenwelt erfahren könnte. Gerne hätte ich noch mehr über ihre inneren Dämonen und die psychologischen Hintergründe für ihre obsessive Hingabe an die Kunst und selbstzerstörerischen Drogenexzesse erfahren.
Durch umfassende Recherchearbeit insbesondere zu bekannten Personen in ihrem Umfeld ist es Schroeder dennoch gelungen, ihre schillernde Persönlichkeit mit ihrer mutigen, provokanten Art aber auch mit all ihren Ängsten und Nöten als gefeierte Künstlerin jener Zeit lebendig und authentisch darzustellen.