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galaxaura
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Köln

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Insgesamt 98 Bewertungen
Bewertung vom 13.10.2024
Burseg, Katrin

Tage mit Milena


gut

Hervorragende Protestanalyse trifft unglaubwürdige Figurenkonstruktion

„Tage mit Milena“, der neue Roman von Katrin Burseg, erschienen 2024 bei Heyne, hat mich leider sehr zwiespältig zurückgelassen.

Thematisch dreht sich der Roman um wichtige Themen: Den Klimawandel und die Klimaproteste respektive deren Radikalisierung sowie in einer Vergangenheitsschau der Geschichte der Proteste um die Hamburger Hafenstraßenbesetzung – und somit der Frage nach Radikalisierung und deren Folgen generell. Erzählt wird das anhand der sich entwickelnden Beziehung zwischen Annika, einer inzwischen bürgerlich-links in Lübeck lebenden Frau mittleren Alters, die durch die Bekanntschaft mit Luzie, einer gerade noch 17jährigen Klimaprotestlerin, an ihre Vergangenheit in der Hafenstraße und die Ereignisse der damaligen Zeit, die sie bis heute prägen, erinnert wird.

Das klingt auf der Oberfläche gut und spannend – und was den thematischen Teil angeht, ist das auch so. Die vielen geballten Informationen über Klimawandel und -proteste waren mir persönlich etwas zu üppig und referatsartig hineingestopft, das mag aber daran liegen, dass ich intensives Vorwissen habe. Der Teil, der die Hafenstraßenzeit aufgreift, ist sehr gelungen, ich glaube, vielen Menschen fehlt das tiefe Wissen darüber und Bruseg zeigt gekonnt die Parallelen in Protest und Radikalisierung auf, das habe ich so auch noch nirgends gelesen. Auch hier war mir persönlich die Ballung innerhalb des Handlungsstranges zu viel, da hätte etwas Luft gutgetan, aber die grundsätzliche Idee, wie Bruseg diese Inhalte formal in das Geschehen einbettet, ist sehr geschickt.

Womit ich aber leider durch das ganze Buch hindurch nicht warm geworden bin, sind die Charaktere, ihre nicht plausiblen Handlungen und übertriebene Zeichnung und die vielen Leerstellen für ihr Handeln, die sich für mich einfach nicht erklären. Was dazu geführt hat, dass die Hauptperson Annika mich geradezu aggressiv gemacht hat mit ihrem kindischen Verhalten, das sich durchweg nur um sich selbst dreht. Ich habe lange keine so durchweg übergriffige und ehrlich gesagt schon psychopathische Figur gelesen – und aus meiner eigenen Beziehung zu Teenagern kann ich nur sagen: Da würde jede:r Teenie ganz schnell das Weite suchen. Im Roman geschieht aber das Gegenteil, klar, sonst gäbe es keine Geschichte, aber ich konnte daran leider zu keinem Zeitpunkt glauben.

Das Buch ist durchweg gut geschrieben, da gibt es gar nichts zu meckern, der Inhalt ist super, da wo es um das Schreiben von Historie und Chronik geht, auch sehr ausführlich und genau recherchiert. Alles, was die Figuren betrifft, ist für mich leider klischiert und nicht glaubwürdig / wenn es glaubwürdig sein soll, dann fehlt mir hier der Mut zur Konsequenz. Das Leben sieht da meistens schon genauer hin und hat weniger Wattebäusche bereitgestellt. In der Leserunde, in der ich dieses Buch gelesen habe, gab es aber auch viele begeisterte Stimmen. Also selbst herausfinden – auch wenn ich mich aufgrund des Zwiespalts nur bei 3 Sternen einreihen kann!

Bewertung vom 09.10.2024
Liang, Ann

A Song to Drown Rivers


sehr gut

Wunderschön und voller Schmerz

„A Song to Drown Rivers“ von Ann Liang, erschienen 2024 bei Bramble, ist ein Buch, das allein optisch schon verzaubert und mir beim Lesen immer wieder so viel Freude gemacht hat, einfach nur, weil ich es in die Hand nehmen durfte. Der Schutzumschlag ist rasend schön gestaltet, dazu ein wirklich umwerfender Farbschnitt, nimmt man den Schutzumschlag aber ab, offenbart sich ein Einband in Gold und Blau, der wirklich kaum zu überbieten ist. Eine Charakterkarte liegt auch noch bei. Was für eine einzigartige Buchgestaltung! Preiswürdig!

Der Inhalt des Buches steht dem weitestgehend nicht nach. Wir begleiten die junge und genauso einzigartig schöne Xishi in China um das Jahr 500 auf einer geheimen Mission in das Reich der Wu, denn zwischen den Wu und den Yue, was Xishis Volk ist, herrscht Krieg und die Wu haben das Reich der Yue unterworfen. Angeheuert durch den Minister Fanli ist Xishi der Schlüssel zu einem Plan, der die Machtverhältnisse wieder in ihre alte Ordnung bringen soll – doch dieser Plan hat einen Preis, der viel zu hoch ist und für die Protagonisten ein Leben in Schmerz bedeutet.

Liang schreibt hervorragend und hält den dichten Erzählbogen immer gespannt. Sie findet ein gutes Maß zwischen Romance, nicht zu viel Spice und Thrill, die Anzahl der wichtigen Charaktere ist gut gewählt, so dass ich immer gut folgen konnte, die Atmosphäre ist sinnlich geschildert und auch das Worldbuilding gelingt sehr gut. Nur an wenigen Stellen uferten Beschreibungen zu sehr aus oder wurde die Sprache doch etwas sehr pathetisch. Die Hauptcharaktere kommen einem beim Lesen sehr nahe, und Liang führt eine angenehme Symbolik durch den Roman, ohne dabei zu sehr aufzutragen. „Der Geist zerstört, das Herz verschlingt“ ist ein Leitsatz, der sich durch das Buch rankt und der für die Lesenden in all seiner Bittersüße immer wieder erfahrbar wird bis zu einem verblüffenden Ende, mit dem ich so nicht gerechnet hätte. Und in der aktuellen Welt hat das Buch sogar eine hohe politische Brisanz, ohne jemals zu belehren. „Er wurde vom Krieg getötet. Vom Willen von Königen.“ Sagt eine alte Frau an einer Stelle im Buch und bringt damit auf den Punkt, was gerade an so vielen Orten geschieht – und die Erkenntnis, dass sich nichts, gar nichts dadurch ändert, wenn sich Macht verschiebt, zumindest meist nicht zum Guten. Es ist der Kampf um Territorien, statt der Kampf um gutes Leben. Und den Preis dafür zahlen nicht die Herrschenden. So war es um 500, so ist es heute.

Ein wirklich sehr lesenswertes Buch, das man in einem Rutsch durchsuchten kann, ich hätte mir nur noch etwas mehr Klarheit und weniger Pathos gewünscht, dann wären es 5 Sterne geworden. Aber viel hat nicht gefehlt, also unbedingt besorgen und mitfiebern, mitleiden, seufzen und immer wieder die Schönheit dieser Ausgabe bewundern.

Bewertung vom 06.10.2024
Burner, S. B. B.

Game of Fear and Promise - Spannungsgeladene Dystopie ab 14 Jahren für alle Fans von "Squid Game" und "Tribute von Panem". Mit spektakulärer Metallicfolienveredelung auf dem Cover!


gut

Wo Licht ist, ist auch immer Schatten

„Game of Fear and Promise – Die Wand von Memento City“, ein Jugendroman von S. B. B. Burner, erschienen 2024 bei Ueberreuter, wird vom Verlag nicht umsonst mit Vergleichen zu Tribute von Panem und Squid-Game angepriesen, weist zum Glück aber nur auf der Oberfläche Ähnlichkeiten auf. Das Buch kommt als Hardtop in fancy Metallic-Optik, was gut zur Beschaffenheit eines heimlichen Protagonisten passt: Der Wand. Von der ich mir allerdings deutlich mehr Features und Eigenleben erhofft hätte.

Kurz zur Story, wir befinden uns in einer dystopischen Welt, in der die Gesellschaft klar in Loser und Winner geteilt ist. Die Protagonistin Lissa lebt auf der Loserseite und arbeitet als Kletternde in einem Marmorsteinbruch. Der Ausweg aus diesem Dasein scheint die Teilnahme am jährlichen Spektakel des Wettkampfes um die Besteigung der Wand in Memento City zu sein. Durch glückliche Fügung wird sie für das Team der Gämsen ausgewählt und kann mit 150 anderen Teilnehmenden um den Sieg kämpfen.

Über weite Strecken hat das Buch einen packenden und jugendgerechten Spannungsbogen, der gut die Balance hält zwischen auch humorvollen Stellen und Action. Durch die Zusammenarbeit in Teams und auch über Teams hinweg entsteht auch viel zwischenmenschliche Dynamik und auch eine kleine, nicht zu sehr ausformulierte, Romance fehlt nicht. Die Hauptfiguren sind sympathisch gestaltet und bieten Raum für Identifikation. Die Diktatur und Ungerechtigkeit dieser dystopischen Welt, in der sie leben, wird sofort spürbar. Und der mittlere Teil des Buches fliegt nur so an einem vorbei, so gut ist er gebaut. Dabei kommt auch Wertediskussion nicht zu kurz und zum Glück geschieht diese eher über Handlungen als über ausufernde Gespräche.

Was mich leider nicht überzeugt hat, ist die Auflösung des Buches, die viel zu schnell herbeigeschrieben ist, sehr oberflächlich gerät und auch komplett unrealistisch ist. Da gibt es abrupte Sinneswandel ohne Motivation, nicht mehr glaubwürdige Kletterfähigkeiten, wirklich nicht logische Konstruktionsmängel in der Wand (in einer Welt, die in einem Krieg gegen die KI diese abgeschafft hat, sich also wirklich auskennen müsste), sowieso, die Wand ist erstaunlich unbeteiligt am Ganzen Geschehen, wird aber so eingeführt, als hätte sie ein Eigenleben und auch die am Anfang thematisierte KI kommt gar nicht mehr als Thema zum Tragen, sehr schade. Weitere Punkte kann ich nicht benennen, ohne zu spoilern, aber das Ende hat mich schlicht komplett unbefriedigt zurückgelassen und ehrlich gesagt geht der lesende Mensch mit der Message raus: Hauptsache, du hast ein bisschen mehr Geld auf dem Konto und einen love interest und ein bisschen fame – dann erträgt sich auch die Diktatur viel leichter. Da weiß ich dann nicht so, ist das eine sinnvolle Message an ein jugendliches Publikum? Noch dazu in diesen Zeiten? Für den Spannungsbogen gäbe es 5 Sterne, aber für die Ausarbeitung leider nicht, so dass ich mich bei 3,5 Sternen einpegeln muss. Lässt sich aber dennoch als Jugendbuch gut machen, ich denke, für ein erwachsenes Lesepublikum ist die Story zu durchsichtig konstruiert, also ich persönlich wurde zu keinem Zeitpunkt überrascht. Wo Licht ist, ist auch immer Schatten, wird an einer Stelle im Buch gesagt, das gilt auch für dieses Buch. Schade, aus der Grundidee hätte man sehr viel mehr machen können!

Bewertung vom 30.09.2024
Kolb, Elli

9 Grad


ausgezeichnet

Lass uns zusammen verwildern – ein Plädoyer für das Nicht-Funktionieren

„9 Grad“, der Debut-Roman von Elli Kolb, erschienen 2024 bei Bastei Lübbe kommt in einem wunderschönen Schutzumschlag mit einem Bild, wie ich es lange nicht mehr so treffend für den Inhalt gesehen habe.

Elli Kolbs Erstling ist einfach in jeder Zeile großartig. Ich habe lange kein so durchgehendes warmes Gefühl beim Lesen gehabt und mich den Figuren so nahe gefühlt. Es ist für mich irgendwie auch ein Rettungsbuch für eine ganze Generation, die indirekt darin so treffend beschrieben ist und mit so viel Liebe. Dieses Rudern nach Halt, dieser verzweifelte Versuch einer Ich-Bestimmung und dieses ewige Gefühl, funktionieren zu sollen, es ist so sehr in den Figuren verwurzelt. Wir begleiten die drei Freunde Rena, Anton und Josies durch ihr vertracktes Leben. Die Freundschaft, die die drei miteinander teilen, ist die, die wir alle uns immer wünschen würden, sie berührt mich wirklich sehr, die enge Verbindung zwischen den zwei Frauen, die so unterschiedlich sind und manchmal dann plötzlich so gleich und die zumindest voreinander sein dürfen, wie sie eben sind. Anton, der scheinbar schlaue Typ, der im Emotionalen so zart wird und so viel Rat braucht. Die Familien drumherum, in denen einfach nichts geklärt ist, alles ist schwierig und gleichzeitig liegt über allem eben doch Liebe. Und dann kommt noch Lee hinzu als etwas merkwürdiger Solitär, der in diesen Kosmos hereintaumelt.

In diese Konstellation hinein brechen schwere Themen wie Nahtoderfahrung und Depression, doch Kolb findet immer wieder so passende Bilder und menschliche Situationen, um diese Themen zu vermitteln, dass ich das Buch zu jedem Zeitpunkt als leicht emfunden habe. Sowieso gibt es so viele tolle Formulierungen und Momente, die wir alle kennen, dieses Gefühl z.B., dass man sich zusammenreißen muss, dass man durchmuss, und dabei verpasst man das eigentliche Leben. So viele kluge Beobachtungen.
Wann sind wir in unserem Leben angekommen? Das ist für mich die große Frage, die über allem schwebt. Und wie viel Zeit können wir uns damit lassen?

Und natürlich geht es auch um das Eisbaden. Wer das mal gemacht hat, weiß, wie irre sich danach der Körper anfühlt und wie man wirklich kurz in eine neue Dimension gerät. Total nachvollziehbar, dass Menschen diese Grenze suchen, wo sie selbst aus verschiedenen Gründen sich immer wieder auflösen, nicht wissen, wo sie anfangen, wo sie aufhören. Ein Gefühl, dass glaube ich alle Menschen kennen, die ihr Ich und die Abgrenzung zu einem Du auf der Suche nach einem Wir noch finden müssen. Was für eine kluge Konstruktion also in diesem Buch: Die einen, die leben könnten, aber des Lebens so überdrüssig sind und natürlich nicht willentlich und darum sehr leidvoll (Lee), die anderen, die so sehr lebenshungrig sind, aber blockiert werden in diesem Lebenswillen durch eine Krankheit (Rena), dazwischen die Taumelnden, die pendeln zwischen Haltsuche und Freiheitsdrang, die eigentlich ihr Ich noch gar nicht definiert haben, aber schon ständig mit einem Wir konfrontiert sind (Josie) und die, die es einfach ganz langsam und vorsichtig angehen und damit vielleicht am Weitesten kommen, aber unter Umständen auch etwas verpassen, weil das große Auf und Ab zwar anstrengend ist, oft aber auch wunderschön (Anton). Es hat mich so sehr an meine Studienzeit erinnert und gibt mir sehr gemischte Vibes zwischen Sehnsucht nach diesem einmaligen intensiven Lebensgefühl und froh sein, dass das vorbei ist. Also wie Eisbaden. Eigentlich. Weshalb auch dieses Motiv eben so stark gewählt ist. Die Auswegslosigkeit der Depression ist für mich sehr gut geschildert, auch die Reaktionen des Umfeldes. Perfekte Beschreibung der Depression: „Ich bin einfach an einem Nicht-Ort, und du hast einen Ort im echten Leben verdient.“ Noch nie so gut gehört.

Mein Lieblingssatz: „Lass uns zusammen verwildern“ – das wäre auch ein schönes Tattoo. Ein Plädoyer für das Nicht-Funktionieren – und das ist für mich auch dieses Buch in seiner Gesamtheit. Nicht mehr funktionieren. Leben. Mit all seinen Farben.

Wie kann ein Mensch ein so gutes Debüt schreiben? 300 Sterne für Elli Kolb!

Bewertung vom 23.09.2024
D'Andrea, Luca

In Zeiten des Todes


sehr gut

Ein Thrill-Panorama

„In Zeiten des Todes“, der neue Thriller von Luca d’Andrea, erschienen 2024 bei Tropen, ist ein sehr untypischer Thriller, der das Lesen jedoch auf jeden Fall lohnt. Situiert im schönen Tirol, eine Region, die die meisten von uns vom Urlauben kennen, liegt unter der Idylle eiskalter Dreck verborgen, der Schicht für Schicht vom Ermittlungsteam aufgetaut wird.

Die Handlung erstreckt sich über viele Jahre. An einem kalten Winterabend wird die Leiche einer Prostituierten entdeckt. Der Fall wird dem jungen Commisario Luther Krupp übertragen, der sich schnell die spritzige Streifenpolizistin Arianna Lici an seine Seite holt. Gemeinsam kommen Sie schnell zu dem Verdacht, dass es sich hier um mehr als einen Fall handelt und es eine viel größeren Zusammenhang gibt als der erste Mord suggeriert. Zeitgleich macht sich auch der Journalist Alex Milla um den Fall verdient, der ihn einfach nicht loslässt. Und ohne zu viel zu spoilern. Es ist nicht nur die Seite der Kriminalität in diese Ermittlungen tief verstrickt.

D’Andrea lässt das Panorama seines Thrillers mit viel Zeit entstehen – nicht umsonst hat der Thriller weit über 700 Seiten im Gepäck. Das bietet Raum für spannende formale Experimente, Lokalkolorit und Arbeit in die Tiefe der Charaktere und Geschichte. Insgesamt hatte ich dennoch den Eindruck, dass die Handlung mit 100 Seiten weniger auch noch gut ausgekommen wäre. Immer wieder geraten die Ermittlungen ins Stocken, es gibt aber auch immer wieder unerwartete Dynamiken im Plot, so dass ich insgesamt gerne gefolgt bin und oft auch voller Spannung. Dass sich die Handlung von 1992 bis ins Heute zieht, ist ein schöner Coup. Die Figuren kommen immer wieder hart an ihre Grenzen und auch die Fälle haben mich immer wieder frieren lassen. Insgesamt also eine absolute Leseempfehlung, an die ich nur den Wunsch von doch etwas mehr Kompaktheit gehabt hätte. Der ideale Thriller also vielleicht für einen langen Winterabend oder zwei oder drei. Allerdings: Geht man nach dem Lesen wahrscheinlich erst einmal nicht raus.

Bewertung vom 21.09.2024
Lenze, Ulla

Das Wohlbefinden


gut

Stark angefangen und dann stark nachgelassen

„Das Wohlbefinden“, der neue Roman von Ulla Lenze, erschienen 2024 bei Klett-Cota und auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2024 zu finden, ist ein Roman, von dem ich im vorderen Bereich noch dachte, dass er Thomas Manns „Zauberberg“ locker auf die hinteren Ränge verweisen wird, der dann aber in der zweiten Hälfte dieses Versprechen leider doch nicht erfüllen konnte.

Klappen- und Umschlagstext des Buches versprechen und eine Geschichte zwischen zwei ungleichen Frauen, der Fabrikarbeiterin Anna und der Schriftstellerin Johanna, die sich in den Lungenheilstätten Beelitz vor den Toren Berlins begegnen und eine starke Verbindung eingehen, die sie am Ende zu Rivalinnen macht. Diese Geschichte und auch viele Informationen über die Heilstätten Beelitz hätten mich sehr interessiert, es kam jedoch anders.

Der Roman spielt auf drei Zeitebenen, 1907/8, 1967 sowie 2020 im Coronajahr, was als Thema sehr dezent und gut gemacht einfließt. Neben Johanna und Anna gibt es noch eine dritte Protagonistin, Vanessa, die durch einen Zufall 2020 auf die Spur von ihrer Verwandten Johanna gerät und das Thema dann nicht mehr loslassen kann.

Lenze deckt in ruhigem Tempo anfangs Schicht für Schicht die Geschichte und Beziehungen ihrer Figuren auf, führt ein in die jeweiligen Zeiten und stellt erste Bezüge zu prominenten Persönlichkeiten der jeweiligen Zeit und zu Themen, die die Welt beschäftigten, wie z.B. der Okkultismus, der eine große Rolle spielt in dem Roman, her. Das gelingt sehr geschickt und charmant. Die Kapitellänge ist gut, der Schreibstil für mich oft ein bisschen unnötig Schleifen-förmig (es wird etwas erwähnt, woran mensch sich sofort ein Fragezeichen macht, einen Absatz oder 1-2 Seiten später kommt die Erklärung, für mich etwas überflüssig, erzeugt nix bei mir), aber ansonsten in sich geschlossen, bildstark und gut lesbar, manchmal literarisch etwas gewollt. Es gibt viele kleine Anspielungen auf den Zauberberg für Kenner:innen und auch der Titel des Buches wird ganz wundervoll eingewoben. Henze verwebt geschickt historische und fiktive Elemente zu einem neuen Ganzen (hier hätte ich mir ein Nachwort gewünscht.). Die erste Begegnung zwischen der hellsichtigen Anna und der spröden Johanna ist kraftvoll und voller Verheißung, hier steht sofort ein Geheimnis im Raum.

Das Problem ist, dass der Roman sich von hier aus eigentlich kaum entwickelt. Es kommt keine wirkliche Handlungsdynamik auf, für mich zog immer mehr Stagnation ein, die Handlung 2020 erweist sich zunehmend als eigentlich überflüssig, die Handlung 1967 mochte ich persönlich zwar, aber auch sie ist bei näherer Betrachtung tatsächlich auch verzichtbar. Beide Handlungen nehmen aber Raum, der meiner Meinung nach besser darauf verwendet worden wäre, deutlich mehr über die wirklich spannenden Heilstätten Beelitz (und auch deren Problematik) zu erzählen und die Beziehung von Anna und Johanna mehr in der Tiefe auszuloten. Das hätte ich von der Beschreibung des Romans her erwartet – und hier wurde ich enttäuscht. Zunehmend fand ich deshalb auch Sprache und Erzähltempo anstrengend, es fiel mir persönlich schwer, bei der Stange zu bleiben. Und auch die gewählte Auflösung am Ende konnte mich leider nicht überzeugen. So ganz erklärt sich mir der Platz auf der Longlist nicht, auch wenn die Autorin streckenweise wirklich literarisch-stilistisch beeindruckend schreibt und das Grundkonzept viel Potenzial aufweist. Ich gehe mit sehr gemischten Gefühlen aus der Lektüre und empfehle auf Youtube mal ein bisschen über die Heilstätten Beelitz selbst zu recherchieren – da wird mensch fündig und kann eventuell auffüllen, was das Buch schuldig blieb.

Bewertung vom 14.09.2024
Karim Khani, Behzad

Als wir Schwäne waren


sehr gut

Feststecken in der Aquariumwand

Behzad Karim Khanis neuer Roman „Als wir Schwäne waren“, erschienen 2024 bei Hanser Berlin, schließt von der poetischen Wucht her nahtlos an „Hund, Wolf, Schakal“ an, lässt aber auch viele Lücken und kommt so aus einer einseitig wirkenden Betrachtungsweise nicht ganz heraus.

Das Buch startet mit einem Paukenschlag von Prolog, gerichtet an ein 5-jähriges Kind, von dem wir nicht entschlüsseln werden, ob es sich hier um den Autor selbst handelt. Direkt der erste Absatz hat mich mitten ins Herz getroffen, hier steckt schon so viel drin! Lieblingssatz daraus: „Und ich, tausend Lügen klüger, sagte nicht, dass fair ein so einfaches Wort ist, und Gerechtigkeit ein so schwieriges“. Um diese Gerechtigkeit wird es viel gehen auf den knapp 200 Seiten die folgen und um das Konzept von Heimat, und die Suche nach einer solchen, nach einem Ankommen, sie treibt den Protagonisten Reza den ganzen Roman lang um. Sehr berührend und auch bedrückend die Kindheitsschilderung angekommen in Deutschland, in Bochum, abgeschieden vom Rest der Stadt, das Fremde, die Versuche, Gemeinschaft zu finden, die sich schnell immer wieder im Keim ersticken, aber auch die eigene, selbstgewählte Abgrenzung. Die Diskriminierung und der Alltagsrassismus bis hin zur offenen Provokation. Gewalt als einziger Weg nicht unterzugehen. Mit wenigen klaren und sprachspielerisch großartigen Sätzen schafft der Autor es immer wieder, Kulturunterschiede deutlich zu machen. Ich liebe dabei seinen Humor, mit dem er immer so viel Leichtigkeit in die Schwere bringt. Viel Zeitkolorit der 90er Jahre, dass er auch mit wenigen Informationen greift. Der Stolz der Perser als wichtiges Thema, etwas, dass unsere Gesellschaft immer wieder einfach ignoriert, aber auch die Sanftmut, die unendliche Geduld, die große Gastfreundschaft, das immer helfende Herz, die ausgeprägte Höflichkeit, die leisen Stimmen.

Behzad Karim Khani schreibt episodenhaft und fragmentarisch, er erzählt ein schnelles Aufwachsen, das sich immer mehr mit Gewalt und Verachtung füllt, ohne dass man lesend den Finger darauf legen kann, worin diese fußen. Reza hat einen starken Hang, sich unbeteiligt zu geben, wirkt emotional abgekoppelt, fast dissoziiert teilweise, wie er zwischen hoher Gewaltbereitschaft und der absoluten Unlust auf Gewalt und Konflikt pendelt. Gefühleanhalten nennt er selbst diesen Zustand. Da wir nichts über seine Reise nach Deutschland erfahren, ist es schwer zu sagen, ob es ein zugrundeliegendes Trauma gibt. Das ist ein nicht wegzuredendes Manko des Romans, der Autor gibt uns keinerlei Hintergrundinformationen zu seinem Protagonisten. So wird die Gewalt- und Abstiegsspirale, in die er sich aktiv begibt, schwer nachvollziehbar, die Anklagehaltung findet keine lesbaren Wurzeln. Reza fühlt sich in seiner Würde stark verletzt, es wird jedoch nicht identifizierbar, wann und wodurch das geschah.

Was aber sehr deutlich wird, ist das Gefühl, nicht mehr heilen zu können und keinen wirklichen Platz auf der Welt zu haben. Hierfür findet der Autor ein starkes Bild, wenn er von einem Aquarium spricht, wo er immer unter Beobachtung steht, aber auf der anderen Seite der Wand ist kein Leben möglich. Und so wird er sich in die Wand bohren – wie er das macht, das erfährt man im Buch.

„Hier gibt es nichts für dich, wofür es sich zu brennen lohnt.“ Sagt Rezas Mutter und sie trifft für mich den Nagel auf den Kopf. Aus diesem Zustand gibt es viele Auswege, einer ist Adrenalin. Was können wir tun, gegen die Leere, in die viele Geflüchtete geraten?
Behzad Karim Khani findet durchweg eine starke Sprache für dieses Gefühl, unfassbar schöne Bilder, man möchte jeden Satz unterstreichen, ausschneiden, aufhängen. Doch es bleiben auch sehr viele Fragen offen, was der lesenden Person oft die Möglichkeit zur Empathie nimmt.

Seinen Frieden nur zu finden, indem man versucht, sich im Dazwischen einzurichten, weil das das Beste ist, was man überhaupt erreichen kann – das finde ich persönlich ganz furchtbar. Damit dürfen wir uns auseinandersetzen, um Alternativen zu finden zum Adrenalin. Vielleicht durch das Lesen dieses Buches.

Bewertung vom 14.09.2024
Thomas, Ruth-Maria

Die schönste Version


ausgezeichnet

Im Schlammbecken der misogynen Gesellschaft hilft auch keine schönste Version

Mit „Die schönste Version“, erschienen 2024 bei Rowohlt Hundert Augen, ist Ruth-Maria Thomas ein polarisierender Roman gelungen, der auf jeden Fall Emotionen weckt. Die Bandbreite in meinem Bekanntenkreis geht dabei von Ekel und Abwehr hin zu purer Begeisterung – Spoiler: Ich reihe mich bei Begeisterung ein.

Was hat es auf sich mit der schönsten Version? Die Protagonistin Jella hat eine Beziehung mit Yannick, die von Anfang an unter dem Deckmantel romantischer Verheißung sehr problematisch ist – und immer mehr eskaliert, bis sich ein nicht mehr schönzuredener Übergriff ereignet. So weit, so bekannt – das Besondere an diesem Buch ist, wie genau und schonungslos ehrlich Ruth-Maria Thomas den Weg dahin zeichnet – und damit ins Herz unserer misogynen Gesellschaft blickt, in der weiblich gelesenen Menschen noch immer vermittelt wird, dass sie auf keinen Fall genug sind, so wie sie sind und dass sie immer Aufwand betreiben müssen, um zu gefallen, immer arbeiten müssen, immer besser werden müssen, auf keinen Fall einfach nur so sein können, wie sie sind, immer herausfinden müssen, was ihr Gegenüber sich gerade von ihnen wünscht und das dann anbieten müssen: Die schönste Version ihrer Selbst.

Das Härteste an dem Buch ist dabei diese Normalität, die unter allem liegt – und dass mich einfach gar nichts überrascht. Ich kenne das alles, es ist das, was immernoch große Teile der Mann-Frau-Beziehungen ausmacht. Auch die Eskalation habe ich vergleichbar erlebt.
Und diese ganze Täter-Rhetorik, mit der wir weiblich gelesenen Menschen aufwachsen, die wir von Anfang an inhalieren und zu unserer Wahrheit machen – und oft ein ganzes Leben brauchen, um uns davon zu befreien. Wie kann es sein, dass wir unseren Wert anhand von Männern definieren, warum sind wir dazu da, dass es ihnen gut geht? Das Patriarchat haut so dermaßen durch in diesem Werk. Erschreckend, dass die Protagonistin zu keinem Zeitpunkt wirkliche Lust erlebt oder Selbstbestimmung. Selbst als sie sich daran versucht, opfert sie sich nur und dreht das System nur scheinbar um, schadet sich dadurch aber nur noch mehr. Viele Teile davon kenne ich auch, kennt jede Frau. Hier auf die Spitze getrieben in einer endlosen Reihung. Wie sogar eine klare Vergewaltigung noch mit Täter-Rhetorik bagatellisiert wird durch sie selbst, es ist einfach erschütternd. Ruth-Maria Thomas beschreibt das so gut, schreibt so dicht und so nüchtern, daraus entsteht eine karge Härte, die mich total berührt.

Ich weiß nicht, ob auch von anderen Menschen verfolgt wird, wie sehr aktuell Gewalt gegen Frauen wieder zunimmt. Nicht, dass sie je wenig gewesen wäre. Wenn mensch sich durch dieses Buch gekämpft hat, dann ist klar, warum es so wichtig ist, Femizide genau so zu bezeichnen und nicht als Beziehungstat oder Eifersuchtsmord. Die Zahl der Femizide und der täglichen Gewalttaten an Frauen ist auch in Deutschland viel zu hoch (jede Zahl mehr als 0 wäre das), die Euphemismen, die täglich gebraucht werden, unendlich, die psychische Gewalt und Diskriminierung, die wir erfahren, einfach unerträglich. Wir leben in einer strukturell misogynen Gesellschaft. Das muss endlich aufhören. Ruth-Maria Thomas schreibt dieses Elend einfach perfekt zusammen. Und auch wenn sie mich gegen Ende einmal kurz verloren hat, weil ich eine Volte, die sie schlägt, wirklich nicht mehr glaubhaft und begründbar fand:

Vor uns liegt ein bewegendes, aufrüttelndes Buch, dem ich viele Leser:innen wünsche, vor allem aber viele Leser. Es ist Zeit, aufzustehen gegen die Misogynie, gegen das, was wir von klein auf lernen: Dass wir gefallen sollen – und dass es unsere Schuld ist, wenn das nicht klappt. Und, das ist das Schlimmste: Dass wir dann nichts wert sind. Beenden wir das. Nicht die schönste Version sein. Wir sind genug. Wir müssen niemandem gefallen. Außer uns selbst.

Warum es Feminismus braucht? Lest dieses Buch.

Bewertung vom 10.09.2024
Hempel, Patricia

Verlassene Nester


gut

Zwischen Nostalgie und Hoffnung

„Verlassene Nester“ von Patricia Hempel, erschienen 2024 bei Tropen und nominiert für den Alfred-Döblin-Preis 2023, ist ein Roman, der sich anfühlt wie einer dieser letzten Spätsommertage, warm, aber auch schwer, der Herbst schon spürbar, es liegt ein letztes Bienensummen in der Luft und die Menschen sind etwas träge, der nahende Winter macht alle ein wenig melancholisch, aber noch ist es ja Sommer.

Es ist 1992, noch relativ kurz nach der Wende, wir befinden uns in den neuen Bundesländern, recht grenznah der ehemaligen Grenze zwischen DDR und BRD. Pilly, ein 13-jähriges Mädchen, befindet sich mitten im Umbruch, einerseits kickt die Pubertät, andererseits kickt die Wiedervereinigung. Pillys Mutter ist vor einigen Jahren unter nicht geklärten Umständen verschwunden, Pillys Vater ist alkoholsüchtig und hat das Herz am rechten Fleck, aber auch einen Koffer, der ein großes Geheimnis birgt und den Kopf voll mit Sorgen, die ihn davon abhalten, sich gut um Pilly zu kümmern. Das Leben tropft vor sich hin, der Westen rückt irgendwie immer näher, und die Dagebliebenen pendeln zwischen sehnsuchtsvoller Verheißung und Festhalten am Alten, von dem ja vieles auch schön und gut war. Zwischen Spielplatz, Kleingartenparzelle und Plattenbau entspinnt sich das Leben mit all seinen Grausamkeiten – aber auch mit einer tief verwurzelten Gemeinschaft.

Hempel schreibt sehr atmosphärisch und lässt mit vielen Details die beschauliche und übersichtliche Kindheitswelt von Pilly entstehen. Beschaulich ist diese nur auf der Oberfläche, darunter brodeln die Konflikte – aber man hat gelernt: Reden ist Silber, Schweigen ist Gold. Jede Menge Zeitkolorit und ausführliche Beschreibungen lassen die Zeit kurz nach der Wende sehr lebendig werden, allerdings gibes wenig Erläuterungen, so dass für Menschen ohne DDR- oder Geschichtswissen Google wahrscheinlich der beste Freund beim Lesen dieses Buches wird; hier wäre ein Glossar vielleicht eine hilfreiche Maßnahme gewesen. Die Beobachtungen sind nüchtern und unsentimental, ich hatte teilweise beim Lesen eine Dokumentarfilm-Erzählerstimme im Kopf, aber das war für mich stimmig. Das Erzähltempo ist langsam, was sich zu Beginn des Romans noch gut anfühlt, mit zunehmendem Handlungsfortgang dann aber doch etwas anstrengend wird. Es werden sehr viele Handlungsstränge und Figuren aufgemacht, die leider nicht alle und nicht einmal fast alle zu einem Ende geführt werden. Dabei bleiben auch einige zentrale Fragen offen, was mich in diesem Fall doch sehr gestört hat, da die Antworten auf die offenen Fragen entscheidend wären. Das Ende des Buches war für mich sehr herbeigeholt, fast hatte ich das Empfinden, die Autorin hat keinen anderen Ausstieg aus einer Geschichte gefunden, die sie nicht weiter am gleichen Ort fortschreiben wollte. Das fand ich schade, denn der Konflikt der Dagebliebenen hätte mich gerade vor Ort weiter interessiert.

Es ist ein Buch, dass ich über weite Strecken sehr gern gelesen habe und in dem ich wirklich viel über die DDR und das Leben nach der Wende gelernt habe. Aber auch ein Buch, das mich irgendwann ein bisschen verloren hat und sehr unbefriedigt zurücklässt, weil es keine wirklichen Entscheidungen treffen möchte. Was mir gut gefallen hat, ist die immer wieder auftretende Einbindung des Buchtitels in die Handlung – und dass zu keinem Zeitpunkt gewertet wird. Wir müssen noch heute die Wiedervereinigung, die doch eher ein Verschlucken war, aufarbeiten. Dass das nicht geschieht, ist ein großer Fehler, der sich aktuell in Wahlergebnissen darstellt. Die Wurzeln davon kann man in diesem Buch spüren. Insofern auf jeden Fall eine Leseempfehlung und der Vorschlag, sich in die Köpfe der Menschen hineinzuversetzen, die noch beide Systeme erlebt haben. Insgesamt reicht es leider dennoch nur für 3,5 Sterne, da ich die gleichbleibende Ausführlichkeit irgendwann ermüdend fand und mir ein starkes Ende fehlt.

Bewertung vom 08.09.2024
Chevalier, Tracy

Das Geheimnis der Glasmacherin


sehr gut

Ein Buch wie eine Glasperle

Tracy Chevalier legt mit „Das Geheimnis der Glasmacherin“, erschienen 2024 bei Atlantik/Hoffmann und Canmpe, einen sehr besonderen historischen Roman vor, der insbesondere für Venedig-Liebhaber:innen ein Must-Read ist. Das Buch kommt mit einem motivisch zauberhaften Schutzumschlag und ist zudem mit einem Farbschnitt versehen, der seinesgleichen sucht, eine Pracht im Bücherregal!

Erzählt wird die Geschichte von Orsola Rosso, Tochter einer Glasmacherfamilie auf der Insel Murano vor Venedig im Jahr 1486, die nach dem plötzlichen Tod ihres Vaters heimlich die Kunst des Glasmachens und der Glasperlenherstellung erlernt, um den Familienbetrieb zu retten. Der besondere Kniff dieses Romans, der sehr viele Informationen über die Kunst des Glasherstellens behält und einen tollen Einblick in die Historie und viel Lokalkolorit der Lagungenstadt Venedig und der Insel Murano bietet, ist, dass Chevalier dabei die Zeit auf der Insel Murano in einem anderen Tempo als auf dem Festland und in Venedig vergehen lässt – was ihr die Gelegenheit gibt, ein zeitliches Panorama vom 15. Jahrhundert bis in die heutige Zeit zu spannen – ein wirklich beeindruckendes Projekt. Dabei werden insbesondere die Ereignisse rund um die Lagunenstadt seziert und die Lesenden lernen viel über die besondere Beziehung der Lagunenbewohner zu den Festland-Italienern. Auch lässt Chevalier immer wieder italienische Worte einfließen, was als Stilmittel genutzt die Lesenden sehr das italienische Flair spüren lässt.

Ich fand es sehr spannend, über die strikten Regeln der Glasmacherkunst zu lesen, die eine ganz eigene Welt formen – und natürlich hat auch Orsolas Geschichte ihre Besonderheiten, über die ich nicht zu viel verraten will. Insgesamt war es mir manchmal fast ein bisschen viel der Information, weshalb ich mich nicht ganz zu 5 Sternen durchringen kann, aber ich habe diesen Roman insgesamt sehr genossen und bin vor allem von dem Formexperiment (diese lassen sich ja bei historischen Romanen doch eher selten finden) sehr begeistert. Eine klare Leseempfehlung für dieses Buch, das selbst wie ein wunderschönes Muranoglas schimmert.