Benutzer
Benutzername: 
lillywunder

Bewertungen

Insgesamt 44 Bewertungen
Zur ersten SeiteZur vorherigen Seite...Weitere Seiten 2 Zur Seite 2 3 Zur Seite 3 4 Zur Seite 4 5 Aktuelle SeiteKeine weiteren Seiten
Bewertung vom 11.07.2021
Bazyar, Shida

Drei Kameradinnen


ausgezeichnet

Dass es Alltagsrassismus gibt, dass rassistische Diskriminierung strukturell verankert ist in deutschen Institutionen, dass Vorurteile an Aussehen und Nachnamen gebunden sind und diese die persönlichen Chancen einschränken,... als nüchterne Fakten mag das den meisten schon bekannt sein, der Roman von Shida Bazyar vermittelt diese Wahrheiten allerdings noch einmal wesentlich eindrücklicher und auf seine ganz eigene Art. Hier geht es nicht um statistische Zusammenhänge, hier erfährt man durch die Lektüre ganz unmittelbar das Gefühl, stets unter Verdacht zu sein, sich immer mehr anstrengen zu müssen als andere, sich keinen Fehltritt erlauben zu dürfen, ständig Zuschreibungen aufgrund der eigenen Herkunft zu erfahren und Hass aushalten zu müssen.

Aus nächster Nähe kennenlernen dürfen wir diese Lebenswirklichkeit durch Kasih, eine junge Frau, die als Kind aus einer Einwandererfamilie in einer deutschen Stadtrandsiedlung der 90er aufgewachsen ist. Zusammen mit ihren Freundinnen Saya und Hani, die sie nun, anlässlich einer Hochzeit, für einige Tage wieder trifft. Kasih erzählt uns von der gemeinsamen Kindheit in der Siedlung - von Vorurteilen der Kindergärnterinnen über Unverständnis der Lehrkräfte für die Lebenssituation Eingewanderter bis hin zum Schubladendenken bei der Job-Beratung. Von kleinen oder größeren diskriminierenden Erfahrungen aufgrund von Kopftüchern, Nachnamen oder Hautfarben, welche die drei Freundinnen immer mehr wahrnehmen und schließlich beginnen, Worte dafür zu finden und ihren eigenen Umgang damit. Hani, indem sie sich anpasst, anstrengt und über Alltagsrassismus möglichst gelassen hinwegsieht und Saya, indem sie die Auseinandersetzung und Provokation sucht, wütend, radikal und kämpferisch.

Kasih schreibt ihre Geschichte in einer einzigen langen Nacht auf, in der Nacht nach einer Brand-Katastrophe, an die sie den Leser Seite für Seite näher heranführt und die dazu führen wird, dass Saya im Gefängnis landet. Und bevor die Presse ihre Sicht der Dinge inklusive Vorverurteilung verbreiten kann, macht sie gleich zu Beginn klar, dass sie den Leser nicht schonen wird mit ihrer Sicht auf die Dinge, dass das hier allein ihre Geschichte ist. Sie spielt mit dem Leser, ebenso wie mit der Wahrheit - gerade denkt man, man hätte verstanden, da ist sie schon wieder einen Schritt weiter und schlägt der Selbstgewissheit des Lesers ein Schnippchen. Geschickt hält sie dem Leser den Spiegel vor - hier, so fühlt es sich an, wenn andere alles über dich zu wissen glauben. Wenn es ein "Wir" und ein "Ihr" gibt. Wenn andere die alleinige Deutungshoheit haben. Wenn deine Herkunft stellvertretend für deine Eigenschaften steht.

Kasih stellt eingefahrene Denkmuster in Frage. Sie sagt uns nicht, aus welchen Herkunftsländern sie und ihre Freundinnen kommen, damit uns die Schubladen fehlen, in die wir einsortieren können. Sie benennt auch nicht den NSU-Prozess, der im Roman gerade beginnt und den Kasih und ihre Freundinnen gebannt verfolgen, da die Bedrohung und der Hass genauso gut sie meinen wie die tatsächlichen Opfer und weil die deutschen Institutionen bei der Aufklärung versagt haben.

Wenn man sich darauf einlässt, lernt man die verschiedenen Perspektiven der drei Freundinnen kennen, verschiedene Positionen werden gegenübergestellt, reflektiert, in Frage gestellt - und transzendiert durch die Freundschaft zwischen den drei Frauen, die bedingungslos und solidarisch zusammenstehen. Ein berührender Roman, der eine Lebenswirklichkeit nahe bringt, Unordnung in Schubladen verursacht und ein erhellendes Spotlight auf die eigenen Privilegien und Voreingenommenheiten wirft - wenn man denn bereit ist, Kasih einfach einmal zuzuhören.

Bewertung vom 11.07.2021
Pauling, Valerie

Der Himmel ist hier weiter als anderswo


gut

Dieser Roman schmeckt nach Rhabarberkuchen, duftet nach Kirschblüten, klingt nach dem Plätschern eines Baches und fühlt sich an wie ein warmer Sonnenstrahl am Frühlingsmorgen. Das wunderschöne Cover trifft genau die Melodie dieses Buches und erweckt bereits auf den ersten Blick ein behagliches Gefühl, das einen durch die Geschichte tragen wird und mühelos alle kleineren und größeren Dramen in Zuckerwatte einhüllt. Kurzum, ein Wohlfühlroman.

Dabei klingt die Geschichte erst einmal gar nicht so locker-leicht, denn Fee, unsere Protagonistin, hat vor kurzem ihren Mann verloren und erzieht nun alleine ihre vier Kinder. Als sie dann auch noch ihren Job als Geigenlehrerin verliert und die Familie aus ihrer gemeinsamen Wohnung ausziehen muss, scheint die Katastrophe perfekt. Doch die Geschichte von Fee und ihren Kindern ist keine von Verlust und Trauerbewältigung, sondern vielmehr eine von Abenteuer und Neuanfang. Denn die Familie zieht kurzerhand aus der Stadt hinaus ins Alte Land, in einen alten Gasthof, und versucht hier, sich ein neues Leben aufzubauen. Fee eröffnet ein kleines Café und lernt den sympathischen Nachbarn Jesko kennen und natürlich bahnt sich zwischen den beiden eine Liebesgeschichte an, die allerdings noch die ein oder andere Hürde zu nehmen hat.

Die Autorin lässt uns in die Idylle im Alten Land eintauchen, und erzählt mit so atmosphärischen Beschreibungen von frischgebackenem Brot, Kräuterlimonaden, Lagerfeuer, Radtouren und Segelausflügen, dass man wirklich ins Träumen kommt. Die vier Kinder von Fee sind ganz wunderbar gezeichnet, und mit ihren Eigenheiten, Interessen und Wünschen einfach zum Gernhaben. Sie bringen ihre ganz eigenen Herausforderungen mit, verlieben sich, werden von Schulkameraden geärgert, haben Schwierigkeiten in der Schule und zusammen mit einem renovierungsbedürftigen Haus, Geldmangel, Intrigen und Missverständnissen könnten die Sorgen fast überhand nehmen, würde der Roman nicht in einer Welt spielen, in der für jedes Problem auch eine Lösung gefunden werden kann. Nicht jeder Handlungsstrang wird dabei auserzählt, die Motive und Gefühle von Fee bleiben für mich oft unverständlich und der Umgang mit den (zu) vielen Schwierigkeiten und verwirrenden Gefühlen von Fee bleibt oberflächlich.

Insgesamt ist der Roman keine anspruchsvolle Lektüre, kann aber durchaus ein angenehmer Begleiter zum Seele-baumeln-lassen auf der Gartenbank oder im Strandkorb sein. Der pastellige Grundton überwiegt und wer sich darauf einlässt, darf gespannt mit Fee ihren Neuanfang erleben und auf ein Happy End hoffen.

Bewertung vom 11.07.2021
Green, John

Wie hat Ihnen das Anthropozän bis jetzt gefallen?


sehr gut

Bei diesem tollen Titel braucht das Buch für mich kein Marketing mehr. Na klar, tausende Jahre Menschheitsgeschichte sind bereits vergangen - da wird es doch langsam einmal Zeit, dass jemand mal ein Resümee zieht.

Ich kann allerdings nicht empfehlen, mit der Erwartung eines klassischen, wissensorientierten Sachbuchs in die Lektüre zu starten, denn diese Erwartung wird von John Green nicht erfüllt. Ich musste mich in das Buch eine Weile einlesen, um ein Gefühl für den Stil des Buchs zu bekommen und bin dann im Nachwort auf einen Satz gestoßen, den ich mir ganz wunderbar prägnant auch für die etwas verschwurbelte Einleitung gewünscht hätte, hier sagt er nämlich: "Ich habe versucht, einige der Orte zu kartografieren, an denen mein kleines Leben an die große Kräfte stößt, die die menschliche Erfahrung gegenwärtig prägen".

Und das beschreibt schon sehr gut das Vorgehen des Beststeller-Autors John Green in seinem ersten Sachbuch. In kurzen Kapitelchen greift er einzelne Aspekte des menschlichen Lebens heraus und beschreibt unter Überschriften wie "Sonnenuntergänge", "Pest", "Mario Kart" oder "Flüstern" seine Gedanken dazu. Am Ende eines jeden Kapitels vergibt er abschließend bis zu fünf Sterne, was an die heute weitverbreiteten Bewertungsskalen anschließt und nebenbei eine nette Spielerei ist. Die einzelnen Kapitel sind dabei sehr unterschiedlich. Mal steht die Wissensvermittlung im Vordergrund wie bei "Piggly Wiggly" oder "Yips", mal sind es neue Gedankenanstöße wie in "Kentucky Bluegrass", manchmal ist es spannend wie ein Krimi wie in "Monopoly" und dann wird es auf einmal sehr berührend wie in "Sonnenuntergänge" oder "Mein Freund Harvey". Trocken liest sich das Buch an keiner Stelle - John Green gelingt es, auch Fakten verständlich und sehr anschaulich zu vermitteln, mit Bildern die hängen bleiben. Mit feinsinnigem Humor treibt er Aussagen auf die Spitze, betrachtet sie aus einem ironischen Blickwinkel und verteilt kleine Seitenhiebe auf die gesellschaftlichen Verhältnisse. Und rührt dann wieder beinahe zu Tränen, wenn er die großen Gefühle in einem Menschenleben einfühlsam beschreibt.

Man erfährt in diesem Buch sehr viel über John Green persönlich - über einzelne Stationen in seinem Leben, prägende Erlebnisse, seine Gedanken und auch über seine psychischen Erkrankungen. Gerade mit seiner Verletzlichkeit geht er sehr offen um, was einiges an Respekt verdient. Was mich etwas gestört hat, ist der sehr amerikanische Blickwinkel. Viele Themen werden anhand von typisch amerikanischen Beispielen behandelt und wenn dann zum Beispiel auch noch der amerikanische Unabhängigkeitstag anhand eines Hotdog-Wettessens abgearbeitet wird, ist mir persönlich das etwas too much. Ich hätte mir außerdem gewünscht, dass transparenter gemacht wird, worum es eigentlich geht. Zum einen was den autobiografischen Anteil des Buchs angeht, zum anderen in Bezug auf die einzelnen Kapitel, denn da er oft eigentlich über die Dinge hinter den Dingen schreibt, musste ich teilweise zur Kapitelüberschrift zurückblättern, da ich zwischenzeitlich vergessen hatte, was eigentlich sein Aufhänger war.

Wer Freude hat an kurzweilig-klugen Spotlights auf Errungenschaften, Begleiterscheinungen, Schrecken und Wunder des menschlichen Lebens und gleichzeitig den Autor John Green besser kennenlernen möchte, dem sei das Buch wärmstens ans Herz gelegt.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 11.07.2021
Rietzschel, Lukas

Raumfahrer


sehr gut

Nach dem Erfolg seines Debütromans ist auch Lukas Rietzschels zweiter Roman "Raumfahrer" wieder ein Stück ostdeutsche Zeitgeschichte. Über zwei Generationen hinweg erhalten wir Einblick in ostdeutsche Leben zur Zeit der DDR und heute.

Jan, der 1989 im Jahr der Wende geboren wurde, hat die DDR selbst nicht mehr kennengelernt. Er wohnt nun als junger Mann zusammen mit seinem Vater in der sächsischen Provinz, aus der sich zuerst die Bewohner und dann auch die Gewerbegebiete zurückgezogen haben und arbeitet in einem Krankenhaus, das aufgrund von mangelnden Patienten kurz vor der Schließung steht. In diese melancholisch-triste Stimmung ist die Familiengeschichte von Jan eingebettet, über die er zunächst selbst wenig weiß, die aber plötzlich aktuell wird als er von einem älteren Mann einen Karton mit Fotos und Aufzeichnungen erhält. Langsam wird deutlich, dass Jans Familie mit der des Künstlers Georg Baselitz und seinem Bruder Günther schicksalshaft verbunden ist.

Erzählt wird in erster Linie aus der Perspektive von Jan, je weiter das Buch fortschreitet, desto häufiger springt die Erzählung jedoch in die Vergangenheit: mal in die Nachkriegszeit, zum Mauerbau, zur Nachwendezeit, zurück in die Gegenwart. Man könnte das vielschichtig und komplex nennen, für mich waren diese Sprünge allerdings eher fragmentarisch, im Aufbau hätte ich mir mehr Struktur gewünscht. So erfordert das Lesen einiges an Konzentration, eigenes Schließen der Leerstellen und Zusammenfügen der Fäden. Die Trennung durch die Mauer, die Stasi-Bespitzelung, der Wegzug in den Westen und die Verlassenheit der Zurückgebliebenen - all das bekommt einen Stellenwert im Roman. An diesen ostdeutschen Themen hangelt sich die Geschichte entlang und vermittelt auf diese Weise weniger offensichtliche Zusammenhänge als viel mehr ein Einfühlen in diesen verlassenen Landstrich und seine "Raumfahrer", die sich irgendwo in Raum und Zeit verloren haben. Zwischen Sehnsucht und Resignation, zwischen Lachen und Weinen über die Absurdität ihrer Lebensumstände und dessen, was die Politik oder die Medien daraus oft machen. Und hier liegt die besondere Stärke des Roman, denn diese ganz besondere Atmosphäre durchdringt den Text, ist fast greifbar und bleibt auch nach dem Lesen noch lange hängen.

Zur ersten SeiteZur vorherigen Seite...Weitere Seiten 2 Zur Seite 2 3 Zur Seite 3 4 Zur Seite 4 5 Aktuelle SeiteKeine weiteren Seiten