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leseleucht
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Insgesamt 187 Bewertungen
Bewertung vom 22.02.2025
Glattauer, Daniel

In einem Zug


gut

"Was befähigt einen Autor, über die Liebe zu schreiben?"
Treffen sich zwei im Zug. Der eine ist Autor für Liebesromane und langjährig verheiratet. Doch im Moment will ihm zu Liebesromanen nichts einfallen. Und zu seiner eigenen Liebe? Darüber möchte er nicht reden. Mit einer Therapeutin, deren Beruf und mittlerweile auch Hobby es ist, Menschen und Beziehungen zu analysieren. Sie glaubt nicht an lange Beziehungen. Und an die Liebe? Der Autor, der so lange so viel und so beruflich erfolgreich über die Liebe geschrieben hat, sträubt sich sehr gegen das ihm aufgezwungene Gespräch mit einer zufälligen Abteilbekanntschaft. Aber die Therapeutin, die ja eigentlich nicht an die Liebe glaubt, erhofft sich wohl, da sie nun einmal einen Experten in puncto theoretischer und praktischer Liebesbeziehungen gefunden zu haben glaubt, neue Antworten oder Perspektiven. Oder vielleicht auch nur ein Scheinwortgefecht, um ihre Meinung bestätigt zu sehen? Und so lässt sie nicht locker, dem Autoren Antworten aus der Nase zu ziehen während der Zugfahrt von Salzburg und München.
Ein Gespräch mit einem Autor für Liebesromane wird nicht automatisch zu einem Liebesroman. Es bleibt ein Roman über die Liebe. Das strukturelle Anlage ist bewährt: Nur schreiben sich diesmal nicht zwei Liebende in witzig spritzigen Dialogen emails, sondern sitzen vis à vis. Es geht auch nicht um ihre Beziehungen zueinander, sondern über Beziehungen allgemein und dabei auch um die Beziehung des Autors zu seiner Frau, die er bei dem Gespräch für sich nicht ausblenden kann, auch wenn er sich nicht zum Gegenstand machen will. Das Witzig-Spritzige aus dem Erstlingserfolg von Glattauer wirkt hier allerdings bisweilen ein wenig bemüht. Und auch die „Tiefen der Liebe, die hier ausgelotet werden sollen“, erweisen sich dann doch nicht immer als so tief, sondern ein wenig konstruiert.
Für Glattauer-Fans sicherlich eine vergnügliche Fortsetzung einer langbewährten Beziehung, für die Skeptiker langer Beziehungen stellt sich die Frage nach etwas Neuem, Überraschendem, das Schwung in eine Beziehung bringt.

Bewertung vom 16.02.2025
Kirakosian, Racha

Berauscht der Sinne beraubt


gut

Der Sinne verwirrt
Die Autorin versucht, eine möglichst allumfassende Geschichte der Ekstase zu schreiben, religions-, kultur-, aber auch zeitgeschichtlich, mal medizinisch betrachtet, wissenschaftlich fundiert, mal aus dem Nähkästchen plaudernd, mal philosophische, mystische Quellen paraphrasierend, ohne Konjunktiv, aber im Präsens, um sich von dem faktenschaffenden Präteritum abzugrenzen. Mal geht es um den einzelnen, mal um den Massenwahn, mal um den Höhepunkt der Freude, um Erkenntnisgewinn, mal um Schmerz und Rausch. Die Kapitel folgen zwar der Struktur der Bewegung einer Schaukel, aber so recht will sich das Thema nicht in eine Form bringen lassen. Das liegt zum einen am Thema selbst, an seiner schweren Fassbarkeit, wie es die Autorin im Vorwort auch selbst einräumt. Allerdings helfen die vielen „Exkursive“, wie sie die Autorin recht eigenwillig nennt, um sie an den Begriff „Diskursive“ anzugleichen, für den man umgekehrt auch einfach hätte „Diskurs“ sagen können, dabei wenig. Und auch nicht die vielen Abschweifungen über Greta Thunberg als zweifelhafte Prophetin und die Lebensmittelindustrie mit ihren Vitaminpillen. Oder die persönlichen Erlebnisse der Autorinnen. Die Mediävistin verfügt unbestritten über ein enormes Wissen und hat fleißig Quellenstudium betrieben, doch gelingt es nicht immer, die Flut an Informationen zu bändigen. Man spürt, dass ihr alles wichtig ist und sie das alles dem Leser gerne zuteil werden lassen möchte. Aber als Laie fühle ich mich von den vielen Ein-, Aus- und UmdieEcke-Blicken zuweilen ein wenig überfordert bei der Frage: wo waren wir eigentlich gerade stehen geblieben. Dabei ist doch die Materie schwer genug zu fassen, zumal wenn man sich wie ich dabei ertappt, selbst von einem eurozentristischen, vom Primat der ratio dominierten Weltbild beherrscht zu werden, der es schwer macht, die Weltsicht der Mystiker, die in Leiden und Schmerz Erkenntnis und Erlösung suchten, nachzuvollziehen.
Leichter macht es bisweilen der ein wenig übertrieben elaborierte Stil auch nicht.
Das Buch schildert sicherlich viele spannende Details, die Autorin ist auf jeden Fall belesen und klug, aber das Gelesene entzieht sich mir einer Stringenz, sodass mich die Fülle ein wenig verwirrt und mir die Struktur fehlt, die Erkenntnisse fassen zu können.

Bewertung vom 16.02.2025
Kapitelman, Dmitrij

Russische Spezialitäten


ausgezeichnet

Lustig, ernst, melancholisch, sprachwitzig
Der Ich-Erzähler liebt seine Mutter und die russische Sprache, aber auch Kjiew, das er als Heimat empfindet. Zusammen mit seiner Familie lebt er in Leipzig; seine Familie verkauft russische Spezialitäten. In ihrem Laden kaufen „die Unsrigen“, Osteuropäer, Russen, Ukrainer. Sie fühlen sich verbunden. Und der Ich-Erzähler ihnen auch. Zugleich hat er Angst, nicht ihre Sprache zu sprechen, dass sein Russisch nicht ausreichen könnte. Seine Mutter schaut russisches Fernsehen. Und als Russland den Krieg gegen die Ukraine beginnt, fällt die Gemeinschaft der „Unsrigen“ auseinander. Die Mutter verfällt den Lügen des Propagandafernsehens und ihr Sohn kann sie nicht verstehen, sich nicht mehr mit ihr verständigen. Den einzigen Weg, den er sieht, ist in die Ukraine zu fahren, um seine Mutter von der Wahrheit zu überzeugen. Ein gewagter Schritt in das vom Krieg gebeutelte Land.
Das Buch aus der Perspektive des Jungen, der zwischen allen Identitäten sitzt, vermischt eine Vielzahl an Stimmlagen. Da ist der geniale Wortwitz mit gewaltigen Neologismen, die bisweilen etwas sperrig sind. Mit denen verteilt der Autor einige Seitenhiebe in Hinblick auf Sowjetmentalität und Kritik an alle Leichtgläubigen, die sich von Russischer Staatspropaganda hinter das Licht führen lassen. Neben der Situationskomik auch innerhalb der Familie klingen zarte und ernste Themen an. So sucht der Junge zwischen den ehemaligen Leipziger Sowjetblocks nach einer Zugehörigkeit. Wenn ihm schon eine nationale fehlt, so gerät auch die familiäre ins Wanken, als die Mutter ein so ganz anderes Weltbild hat, als es mit seinem vereinbar ist. Da ist die Angst, nicht dazuzugehören, zu den „Unsrigen“, da, russisch-stämmig, schon in der Ukraine geboren und unmittelbar nach Leipzig verzogen der Erzähler sich nicht traut, mit den anderen Osteuropäern zu kommunizieren. Und auch melancholisch erinnert das Buch an eine Welt, in der die Familie und die anderen Zugezogenen noch so etwas wie ein kulturelles Gedächtnis hatten, das sie verband, auch wenn es vielleicht nur in Sowjet-Limo oder den tausend Weißkohlsorten der Wolgadeutschen bestand.
Ein Roman von großer Wortkunst, mal witzig, mal beißend ironisch, mal herzlich und vor allem auch sehr sehr ernst in einer Welt, die auseinanderzufallen droht.

Bewertung vom 16.02.2025
Sabbag, Britta

Ab ins Bett, Winnifrett!


ausgezeichnet

Einschlafspaß mit Winni, dem Frettchen
Winni, das Frettchen versucht alles, um das Schlafengehen hinauszuzögern, es versteckt sich, springt auf dem Bett herum, hört Musik, gibt vor zu lesen. Mama Frettchen hat ihre liebe Müh und Not, den kleinen Racker ins Bett zu bringen, auch wenn sie ihn mit lustigen kleinen Reimen zu locken sucht.
Das Buch liest sich mit seinen Reimen prima vor. Es ist eine lustige kleine Zubettgehgeschichte, in der sich die lieben Kleinen gut wiederfinden dürften, die ja bisweilen das Schlafengehen auch ganz schön in die Länge ziehen können mit genau den Tricks, die auch Winni eingefallen sind. Die bunten Bilder laden ein zum Verweilen und Entdecken von vielen liebevolle Details. Sie sind sehr stimmungsvoll gezeichnet und mit ihren weichen Konturen und gedeckten Farben gemütlich beim Schein der Nachttischlampe zu betrachten. Da fällt es schon schwer, das Licht auszumachen und von wilden Frettchen zu träumen.

Bewertung vom 13.02.2025
Sonneson, Josefine

Wie man einen Bammel auf Hosentaschengröße schrumpft


ausgezeichnet

Nochmal Bammel gehabt
Schon der Titel „Wie man seinen Bammel auf Hosentaschengröße schrumpft“ ist sehr lustig – und Programm. Elli und Jaro sind schon immer beste Freunde gewesen. Eines Tages beschließen sie, keine Angst mehr haben zu wollen, vor „dem Kläffer“ und vor Wasser. Kann man „keine Angst haben“ lernen? Ihr Selbstversuch wird auf eine harte Probe gestellt durch die Neue im 2. Stock. Und auf einmal müssen Elli und Jaro Angst um ihre Freundschaft haben!
Ein wortwitziges, komisches, ernstes, herzliches und Mutmachendes Hörbuch über Ängste und Freundschaft, über Mut und Freundschaftskrisen. Wer könnte Kindern besser die Angst (vor der Angst) nehmen als tapfere, mutige, sympathische und lustige, aber auch ängstliche, zweifelnde und traurige Gleichaltrige wie in diesem tollen Jugendbuch, mitreißenden gelesen von einer absolut passenden Stimme und damit gleich doppeltes Vergnügen beim Mitfiebern und Zuhören!

Bewertung vom 13.02.2025
Qunaj, Sabrina

Die Tochter der Drachenkrone


sehr gut

Episch
Der epische historische Roman „Die Tochter der Drachenkrone“ zeigt das Schicksal der Fürstentochter Gwenllian, die nach dem Tod zwischen die Fronten der um die Herrschaft rivalisierenden Brüder gerät. Als Frau bleibt ihr zur damaligen Zeit nur ein Mittel der Wahl,
Einfluss zu nehmen: die Heirat mit einem anderen Herrscher. Dabei ist aber nicht nur taktierendes Kalkül im Spiel, sondern zunehmend auch Gefühle.
Der Roman öffnet den Blick auf die rauen Zeiten im 12. Jahrhundert in Wales. Irren und Wirren von Kriegen, Intrigen und Liebe nehmen den Leser mit sich. Gwenllian ist sicherlich keine typische Frau der damaligen Zeit, sie versucht, das Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen, nicht nur für sich selbst, sondern auch in der Suche nach Frieden für ihr Volk. Spannend, bisweilen aber auch ein wenig lang, und gefühlvoll, bisweilen aber auch ein wenig gefühlsselig schildert die Autorin Sabrina Qunaj, die Expertin für historische Schmöker ist, das Schicksal einer besonderen Frau in unruhigen Zeiten in einer männerdominierten Gesellschaft.

Bewertung vom 09.02.2025
Naumann, Kati

Fernwehland


ausgezeichnet

Schwimmende Freiheit
Die „Völkerfreundschaft“ ist ein schicksalsträchtiges Schiff, das im Roman das Leben der drei Protagonist:Innen verbindet. Die kleine Frieda erlebt die Schiffstaufe im schwedischen Göteborg; da hieß es noch „Astoria“. Später trifft sie auf ihrer ersten Reise auf dem Schiff ihren zukünftigen Mann.
Henri, dessen Vater schon von der Seefahrt träumte, überwindet als Matrose auf der „Völkerfreundschaft“ die Grenzen der DDR. Und auch für die Stewardess Simone wird auf dem Schiff der Traum von der großen Freiheit war, besonders als sie für eine schwedische Reederei fahren und somit auch Westhäfen anfahren.
Viele Jahre später begegnen sich alle drei auf der ehemaligen „Völkerfreundschaft“. Das Schicksal hat sie auf sehr unterschiedliche Wege geführt, aber was sie verbindet ist ihre gemeinsame Liebe zu dem alten Schiff. Und aus Nostalgie fahren sie noch einmal auf die Reise.
Auf drei manchmal vier (Zeit)ebenen spielt die Handlung des Romans. Sehr anschaulich lässt die Autorin die drei Leben am Auge des Lesers vorüberziehen. Sie erschafft eine kleine Welt sympathischer Figuren, deren Wege sich immer wieder einmal kreuzen, anfänglich ohne dass die drei davon Notiz nähmen. Was der Roman auf jeden Fall sehr gut vermittelt ist die Sehnsucht nach Freiheit, aber auch Zugehörigkeit zur Familie, aber auch zur Crew auf der „Völkerfreundschaft“. Bei allen Einschränkungen gelingt es den Figuren immer wieder, das Beste aus ihrem Schicksal zu machen und das Glück, wenn es sich denn zeigt, auch zu genießen. Der Leser geht gerne

Bewertung vom 09.02.2025
Siegert, Jens

Wohin treibt Russland?


ausgezeichnet

Der Blick nach vorn geht nur über den Blick zurück
Die Frage, ob Russland überhaupt demokratiefähig und die russische Bevölkerung demokratiewillig ist, beantwortet der Autor Jens Siegert mit einem Blick in die jüngere und die länger zurückliegende Vergangenheit Russlands. Die Herrschaftsfolge seit der Stabilisierung im Zarenreich, russische Revolution und stalinistische Diktatur haben das Selbst- und Politikverständnis des russischen Volkes und ihr Verhältnis zum Westen geprägt, genau wie die Öffnung in den 90er Jahren und die daraus resultierenden Enttäuschungen, die mit dem Ende des Kalten Krieges auch das Ende einer russischen Weltmachtstellung brachten. Dies wiederum bereitete den Nährboden für eine neue diktatorische Herrschaft unter Putin, in dem viele der Russen den Hersteller der alten Größe und Bedeutung des russischen Reiches sehen, wofür sie auch empfindliche Einschränkungen im Hinblick auf persönliche Freiheit und große Opferbereitschaft in Kauf zu nehmen bereit sind. Aber auch jetzt gibt es immer noch Gruppierungen im Land, die unter hohen Kosten Widerstand zu leisten bereit sind und damit Keim der Hoffnung auf eine demokratische Zukunft jenseits Putin.
Sehr kurz und kompakt gibt Siegert einen Überblick über russische Geschichte und trägt viel zum Verständnis russischer Denkweise heute bei. Er vermittelt ein realistisches Bild der politischen Lage in Russland. Er bezieht schon eine klare Position, aber ohne Polemik oder Schuldzuweisung. Er zeigt auf, wie Demokratie in Russland wieder erstarken könnte und auf wem die Hoffnung ruht. Ein aktuelles Buch, dass die notwendigen Informationen vermittelt, um Russlands Weg heute zu verstehen und Möglichkeiten seiner zukünftigen Entwicklung aufzuzeigen, und damit den Diskurs um die aktuelle russische Politik und die Haltung des Westen dazu bereichert.

Bewertung vom 04.02.2025
Claire, Anna

Das Geheimnis der Rosen / Die Glücksfrauen Bd.3


weniger gut

Schwaches Finale
Im dritten Teil der „Glücksfrauen“ von Anna Claire wartet der Leser gespannt auf die Auflösung der Rätsel um die drei Freundinnen Luise, Maria und Anni. Während es in den ersten beiden Bänden um Luise ging, die mit dem Geld der Freundinnen in New York ein Café eröffnen wollte, wohin sie vor den Nazis geflohen war, und um die Jüdin Maria, die im letzten Moment auf einer abenteuerlichen Fluchtroute den Nazis entkommen konnte, so geht es im letzten Band um Anni. Sie ist eigentlich glücklich liiert mit Siegfried. Der allerdings arbeitet für die Gestapo, und im Laufe der Zeit wird Anni immer misstrauischer den Zielen der Nazis gegenüber und auch gegenüber Siegfried, der sich nicht so für das Gute einzusetzen scheint, wie er vorgibt. Ein drastisches Erlebnis und ein Verrat durch Siegfried veranlassen Anni zu einer spontanen Flucht nach England, wo sie als Agentin gegen die Deutschen arbeitet. Später dann verschlägt es sie nach Tansania, wo sie eine Rosenfarm gründet, auf der die Enkelinnen von Luise und Maria dann auch Annis Enkelin finden, damit sie gemeinsam den letzten Teil des Rätsels lösen. Dabei geht es auch um die Enkelinnen, ihre Lebensentscheidungen und natürlich um die Liebe.
Schon die ersten beiden Bände zeigen Schwächen bei der Umsetzung einer interessanten Idee mit interessanten Figuren. Aber der dritte Teil übertrifft diese, wie ich finde, bei weitem. Er ist ein mehr als unbefriedigendes Ende einer Buchreihe, die vor allem wegen der Suche nach der Lösung des Geheimnisses von Luise lesenswert erscheint. Allerdings ist diese Lösung wenig plausibel und passt nicht in den Handlungsverlauf. Man fragt sich unwillkürlich, ob man etwas Wichtiges überlesen hat. So geht es an anderen Stellen auch recht unlogisch zu. Und der Stil ist sehr hölzern und schlicht. Die Figur der Anni ist in sich schon nicht stimmig angelegt. Dem naiven Mädchen, die dem Erzählstil eine Kleinmädchenausdrucksweise verleiht, ist eine Karriere als Agentin nicht wirklich zuzutrauen. Das Konzept geht leider gar nicht auf. Sehr schade, denn die Geschichte hätte auf jeden Fall Potential für mehr gehabt. Und auch das Schicksal der Spioninnen im 2. Weltkrieg ist sicherlich ein dankbarer Plot für ein spannendes Buch. Aber Anni kann diesen Erwartungen nicht gerecht werden.

Bewertung vom 02.02.2025
Wiesböck, Laura

Digitale Diagnosen


ausgezeichnet

Bist du noch gesund oder diagnostizierst du schon?

Erschreckend sind die ganzen selbsternannten Heiler und Therapeuten, aber auch die echten, die auf Social-Media-Kanälen wie TikTok oder Instagram Geld mit der vermeintlichen Krankheit anderer Leute machen. Und dabei liefern sie selbst erst einmal die Definitionen, mit Hilfe derer sich unsichere, überforderte, in dieser großen, weiten Welt orientierungslose Menschen eine Krankheit diagnostizieren, deren Lösung dann wieder in der Ratsuche auf eben jenem Kanal besteht, der einem die Diagnose bescherte. Ein Teufelskreis, wie es scheint!
In ihrem Buch „Digitale Diagnosen“ erklärt Laura Wiesböck sehr klug und weitsichtig die Zusammenhänge zwischen gesellschaftlichen Definitionen von Gesundheit und Krankheit und darauf basierenden Heilsversprechen des Internets. Dabei zeigt sie stets Respekt für alle medizinisch diagnostizierten psychischen Erkrankungen und verneint auch nicht die Errungenschaften moderner digitaler Kommunikation, die für die Betroffenen Möglichkeit des Austausches mit Leidensgenoss:Innen sein kann, Enttabuisierung bestimmter Krankheitsbilder möglich macht und den Erkrankten eine Plattform bietet, sich anonym öffnen zu können. Insbesondere auch dann, wenn professionelle Hilfe nicht erreichbar oder finanzierbar ist. Gleichzeitig zeigt sie aber auch sehr deutlich, welches Schindluder auf allen Seiten mit diesem Trend betrieben wird: Da sind zum einen die, die es besser wissen müssten: die ausgebildeten professionellen Therapeuten, die auf einen Trend aufspringen, um an den großen finanziellen Gewinnmöglichkeiten beteiligt zu sein. Da sind die Influencer:Innen, die ohne Vorbildung und oft ohne Kenntnis, Bilder von dem entwerfen, was einen gesunden Menschen ausmacht, oder sich zu einem ästhetischen Bild des leidenden Kranken stilisieren, das sich gut vermarkten lässt, gestützt auf eine ganze Industrie von Selfcare-Produkten und Angeboten, mit denen man Menschen auf der Suche nach einem Sinn im werte- und traditionsleeren Leben ködern kann. Und dann sind dann zum Schluss eben diese Menschen, die häufig nach medizinischen Standards vielleicht gar nicht krank sind, sondern gerade eine miese Zeit haben, ein Tief oder eine schlechte Erfahrung gemacht haben, die zum menschlichen Leben dazugehört wie die Sonnenseiten. Diese nutzen dann die angebotenen Diagnoseverfahren, die ihnen ermöglichen, sich ein Krankheitsbild anzueignen, das sie von jeder Selbstverantwortung, das Leben wieder auf die Reihe zu kriegen, entbindet oder für das es im Netz zahlreiche „Therapiemöglichkeiten“ gibt, die der Selbstoptimierung mit dem Versprechen der Heilung dienen.
In Anbetracht eines zunehmenden Trends, die Sinnleere des eigenen Lebens mit Achtsamkeits-, Meditations-, Yoga oder sonstigen Lifestyle-Retreats zu füllen, ist dies ein wichtiges Buch, das eine ganze Industrie hinter diesem Trend entlarvt und der Gesellschaft den Spiegel vorhält, die das, was gesund ist, zu wenig schätzt und diejenigen, die wirklich krank sind, nicht genügend ernst nimmt, wenn sie glaubt, Krankheit mit einem Videotutorial oder frei verkäuflichen Gesundheitspräparaten welcher Art auch immer begegnen zu können.