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Europeantravelgirl

Bewertungen

Insgesamt 481 Bewertungen
Bewertung vom 04.11.2022
Smith, Jennifer E.

Die unsinkbare Greta James


ausgezeichnet

Zwei Schiffe in der Nacht

Es war immer so klar in der Familie: Greta hatte eine enge Verbindung zu ihrer Mutter, ihr Bruder Asher ist der Liebling des Vaters. Nun ist Gretas Mutter unerwartet und plötzlich verstorben, und Greta fühlt das Ungleichgewicht deutlich. Der Tod der Mutter hat sie so aus der Bahn geworfen, dass nach einem Zusammenbruch bei einem Konzert nun auch ihre Karriere als Musikerin auf dem Spiel steht. Ausgerechnet nun soll sie einspringen und ihren Vater auf einer Kreuzfahrt nach Alaska begleiten, die dieser ursprünglich mit ihrer Mutter geplant hatte. Völlig verloren trifft sie dort auf Ben, der ebenfalls an einem Wendepunkt im Leben angekommen ist.

Mich hat dieser Roman komplett und uneingeschränkt abgeholt. Gretas Gefühle, Zweifel und Ängste konnte ich sehr gut nachvollziehen. Sie lebt ihren wahrgewordenen Traum und ist eine erfolgreiche Rockmusikerin, aber für ihren Vater zählt so etwas Unsolides gar nicht. Ich mochte die Charakterformung in dieser Geschichte, weil niemand zur Karikatur überzeichnet wurde, sondern alle Figuren realitätsnah und überzeugend gestaltet sind. Dabei ist der Roman in ruhigem Tempo erzählt, eben wie eine gemächliche Kreuzfahrt, so dass sich die Beziehung zwischen Greta und ihrem Vater, aber auch die Annäherung von Greta und Ben ruhig aufbauen kann. Das Setting auf dem Boot, äh Verzeihung, natürlich Schiff bildet nicht nur den äußeren Rahmen, sondern formt auch eine von der sonstigen Wirklichkeit und dem Alltag abgegrenzte Atmosphäre und schafft somit gleichermaßen Grenzen wie Möglichkeiten. Besonders schön fand ich auch die Schilderungen der Landschaft von Alaska und vor allem des Gletschers in seinen geradezu unwirklichen Blaufärbungen. Diese Faszination und Ehrfurcht waren beim Lesen deutlich zu spüren. Und während Greta und Ben wie zwei Schiffe in der Nacht durch ihr jeweiliges Leben treiben, sind es am Ende vor allem Hoffnung und der Blick nach vorn, die die Richtung vorgeben.

Für mich ein wunderschönes Leseerlebnis!

Bewertung vom 03.11.2022
Sten, Viveca

Kalt und still / Hanna Ahlander Bd.1


ausgezeichnet

Eiskalte Spannung im verschneiten Schweden

Hanna Ahlander hat kein Problem. Sie hat eine ganze Menge Probleme. Nicht nur dass sie in ihrem Job bei der Stockholmer City-Polizei nicht mehr willkommen ist, weil sie einen internen Skandal aufgedeckt hat. Nein, auch ihr Verlobter hat sie verlassen und wirft sie aus der gemeinsamen Wohnung. Während Hannas Leben entgleitet, erweist sich ihre ältere Schwester Lydia als der rettende Engel. Sie quartiert Hanna in ihrem Ferienhaus in Åre ein und regelt ihre Angelegenheiten für sie. Dort ist Hanna gut aufgehoben, im friedlichen Skisport-Ort in der Nähe der norwegischen Grenze. Doch die Idylle zerbricht in ein Meer von Scherben, als ein Mädchen nach einer Luciafeier verschwindet. Und plötzlich wird Hannas Hilfe gebraucht, nachdem sie schon dachte, dass keiner sie mehr haben will.

Der Thriller lebt von seinem eisigen Setting im verschneiten Umland von Åre. Die lebensfeindliche Kälte wird selbst zum Protagonisten im Spiel gegen die Zeit und trägt maßgeblich zur Dramatik bei. Heftige Schneestürme, beißende Todeskälte, all dies so hervorragend geschildert, dass es einen beim Lesen regelrecht fröstelt. Die Charaktere überzeugen, haben Hintergrund, sind realistisch ausgestaltet. Vor allem bieten sie genügend Möglichkeiten, ihnen gegenüber Emotionen zu entwickeln; nicht nur Empathie, auch Wut oder Unverständnis kochen da beim Lesen hoch. Dazu ein hochspannender Kriminalfall, der einen zwischen Hoffen und Bangen gefühlsmäßig Achterbahn fahren lässt. Ich habe bei der Aufklärung des Falles mitgefiebert wie selten. Eine hervorragende Mischung aus Schnee und Hochspannung!

Für mich eine klare Leseempfehlung für diesen hervorragenden schwedischen Thriller!

Bewertung vom 30.10.2022
Bell, Emily

Maybe this year - Dieser eine Tag im Winter


gut

War es der Mann, oder war es der Mondschein?

Diese spannende Frage stellt sich die Londonerin Norah. Vor zehn Jahren hatte sie auf einer Reise nach Verona eine kurze Romanze mit dem Iren Andrew. Damals hatten sie sich das Versprechen gegeben, falls sie an Weihnachten 2019 noch Single seien, sich an Heiligabend vor einem Pub in Dublin zu treffen. Sozusagen als gegenseitiges Backup. Der Kontakt zu Andrew ist vor ein paar Jahren versandet, aber der magische Zeitpunkt ist nun gekommen. Norah ist nicht nur von ihrem Freund getrennt, sondern wurde auch von ihrer Mutter versetzt. Weihnachten ganz allein? Was läge da näher, als es darauf ankommen zu lassen? Damit die weihnachtliche Reise mit ungewissem Ausgang nicht völlig zum Debakel wird, kommt ihr bester Freund Joe spontan mit nach Dublin. Ob Andrew auftauchen wird um 18 Uhr vor dem Bewley´s Café auf der Grafton Street?

Der Weihnachtsroman bringt einiges mit, um an eisigen Wintertagen für herzenserwärmende Lesestunden zu sorgen: Glückliche Tage der jungen Norah mit Andrew vor der wunderschönen Kulisse von Verona mit herrlich italienischem Flair. Kalte Vorweihnachtstage in London. Eine aufregende und interessante Reise nach Irland mit vielen liebevollen Details, welche die Landschaft, die Menschen dort und das schöne Setting der Altstadt von Dublin zum Leben erwecken. Dazu die Suche nach den Vorfahren von Norahs Vater, zu dem sie eine ganz besonders innige Beziehung hatte. Und immer wieder die Liebe zur Musik, die auch Vater und Tochter miteinander verbunden hatte.

Nur ein klitzekleines Detail fehlt diesem Roman, das leider ausgerechnet für einen weihnachtlichen Liebesroman enorm wichtig ist: Die Gefühle wollen einfach nicht überspringen! Weder kann man die Romanze von Norah und Andrew mitfühlen, noch springt der Funke im Lauf der Handlung in Dublin über. Kein Prickeln, kein Knistern, kein Seufzen. Auf der Gefühlsebene passierte beim Lesen leider so gar nichts, die Liebesgeschichte konnte nicht berühren und nicht verzücken. Ein schönes Buch über so manches Thema, aber als gefühlvolle, romantische Weihnachtsgeschichte leider allenfalls nett.

Bewertung vom 30.10.2022
Meester, Janine

Bergische Nacht


ausgezeichnet

Starke Heldin

Nach dem Tod ihres Opas kehrt Ria aus Lübeck ins Bergische Land zurück, um dessen Autowerkstatt zu übernehmen. Dort war sie nach dem Unfalltod ihrer Eltern aufgewachsen, und nachdem sie frisch getrennt von ihrem Freund ist, will sie noch einmal ganz neu anfangen. Doch mit der ländlichen Idylle ist es bald vorbei, als Ria Drohbriefe ins Haus flattern, die ihr nahelegen, wieder abzureisen. Plötzlich weiß Ria nicht mehr, wem sie noch vertrauen kann? Welches Geheimnis hat ihr scheuer Mieter Simon? Pflegt ihr Kunde, der exzentrische Herr Caruso, wirklich Kontakte zur Mafia?

Der Regionalkrimi liefert in vorbildlicher Weise alles, was für spannende Unterhaltung erforderlich ist: Ria ist eine tolle Protagonistin. Als Mechatronikerin und Bikerin ist sie eine interessante, starke Frauenfigur, und auch die anderen Charaktere überzeugen voll und ganz. Dazu eine spannende Story, schöne regionale Bezüge zum Bergischen Land und ein feiner Humor. Mich brachte vor allem zum Lachen, wie Ria sich anfangs an dem kalbgroßen, eigensinnigen Hund ihres Großvaters abarbeitet. Es sei verraten, dass sich Bruno im Lauf der Geschichte vom Problemhund zum treuen Beschützer mausert und in mein Herz gemogelt hat! Apropos Herz: Natürlich kommt auch die Liebe nicht zu kurz in diesem schönen Roman, und so begegnet Ria gleich zwei interessanten Männern, nämlich ihrer heimlichen Jugendliebe und einem anfangs recht unfreundlichen Kommissar, der ihr aber dann doch hilfreich zur Seite steht, als sich die Bedrohung zuzuspitzen beginnt.

Ein sehr schöner Krimi zum Mitraten, der leider viel zu schnell ausgelesen war!

Bewertung vom 28.10.2022
Leevers, Jo

Café Leben


sehr gut

Was bleibt

Was bleibt vom eigenen Leben, wenn dieses zu Ende geht? Biographische Daten zu Werdegang und Familie? Glückliche Erinnerungen, die man bewahrt wissen möchte? Offene Fragen, die man geklärt haben möchte? Die Idee eines Lebensbuchs führt die krebskranke alte Dame Annie ins Café Leben. Sie hat keine Nachkommen und Verwandten, möchte sich aber vor ihrem Ableben den Ballast von der Seele reden. Vielleicht hätte es auch funktioniert, ihre Version ihres Lebens zum Besten zu geben, wenn sie dort nicht auf die übereifrige Henrietta getroffen wäre. Diese vielfach gescheiterte junge Frau, die noch keinen Platz im Leben gefunden hat, entdeckt beim Zuhören ungeahnte detektivische Talente in sich und beginnt nachzuforschen.

Mich hat die Begegnung der beiden zunächst völlig fremden Frauen und ihr behutsames Vortasten und Annähern sehr berührt. Beim Lesen beginnt man immer mehr, hinter die Fassaden dieser beiden auf den ersten Blick so unterschiedlichen Persönlichkeiten zu blicken. Nach und nach erkennt man den Menschen dahinter, entdeckt schwere Schuldgefühle und Einsamkeit.

Das Thema Sterben wird eher unaufgeregt behandelt, die Trauer ist ein Begleiter, nicht nur bei den Besuchern des Café Leben, auch bei den Angestellten. Ab einem gewissen Punkt rückt dann jedoch nicht nur die entstehende menschliche Verbindung zwischen Annie und Henrietta, sondern auch der Umgang mit dem Sterben und der Trauer ein wenig in den Hintergrund. Stattdessen wird der Fokus sehr auf die Enthüllung der Geheimnisse der Vergangenheit gelenkt. Auch dies eine überaus faszinierende und spannende Geschichte mit raffinierten Wendungen, aber ich persönlich hätte mir bei Lesen den Blick ein wenig mehr Tiefe im Blick auf das zwischenmenschliche Verhältnis der beiden Frauen, auf den Umgang mit dem bevorstehenden Tod gewünscht.

Dennoch eine klare Leseempfehlung für diesen Roman, weil die Charakterentwicklungen hervorragend herausgearbeitet wurden und der Weg der beiden Frauen aus ihrer Einsamkeit und aus ihren Schuldgefühlen so bewegend ist.

Bewertung vom 25.10.2022
Baumeister, Jens

Die Legenden von Andor: Varkurs Erwachen


weniger gut

Mageres Leseerlebnis

Dieser Rezension sei vorausgeschickt, dass dieses Buch auf dem Spiel Die Legenden von Andor basiert, das ich jedoch nicht kenne. Die Graphic Novel ist ansprechend gezeichnet. Leider ist die zugrundeliegende Geschichte recht mager. Der Einstieg erfolgt abrupt, dennoch lässt sich die Story recht gut verfolgen, bei der ein unbekannter junger Mann verletzt am Strand gefunden wird. Außer seinem Namen Varkur kann er sich an nichts erinnern. Er wird von Ranja aufgenommen und gepflegt. Nachdem sich bei Varkur unkontrollierte magische Fähigkeiten zeigen, vertreiben ihn die feindseligen Dorfbewohner, und Ranja, die sich mehr vom Leben erhofft als eine einfache Fischersfrau zu sein, folgt ihm auf der Suche nach Antworten und seiner Vergangenheit.

Es ist allerdings ein recht kurzes Lesevergnügen mit äußerst wenig Handlung, denn nach einer guten halben Stunde ist das dünne Buch schon ausgelesen. Insgesamt ein mageres Leseerlebnis, wenn man dieses ins Verhältnis zum Preis des Buches setzt. Ich würde behaupten, dass diese Graphic Novel ausschließlich für Fans des Spiels geeignet ist.

Bewertung vom 13.10.2022
Friend, Natasha

NO GAME - Jetzt ist Schluss mit Schweigen!


ausgezeichnet

Lehrstück über Empowerment

Als die Highschool-Schülerin Nora erwacht, liegt sie halbnackt neben ihrem Erbrochenen auf dem Golfplatz und hat nicht die geringste Ahnung, wie sie dort hingekommen ist, geschweige denn, was passiert ist. Das letzte, was woran sie sich erinnert, ist dass sie auf dem Fest der Studentenverbindung ein (alkoholfreies) Root Beer getrunken hat. Nach und nach erfährt sie, dass ihr Schulkamerad Adam Xu drei Kerle mit dem Baseballschläger verjagt hat, die sich an ihr zu schaffen machen wollten. Er hat auch Noras beste Freundin Cam alarmiert, die Nora nun zur Seite steht und auf Aufklärung drängt. Nora hingegen will erst gar nicht darüber nachdenken, was passiert sein könnte, verweigert komplett und verdrängt die Angelegenheit einfach.

Natürlich lässt sich eine so traumatische Erfahrung nicht wirklich verdrängen, und so muss Nora der Wahrheit ins Auge sehen, dass sie unter Drogen gesetzt und beinahe vergewaltigt wurde. Zumal Videos und Bilder auftauchen. Und von der rätselhaften Nummer, die ihr die Täter mit Filzstift in den Schritt gemalt haben, hat sie noch gar niemandem erzählt. Bis schließlich klar wird, dass dies kein Einzelfall war, sondern ein „Spiel“ dahintersteckt.

Das Buch ist mit der Altersangabe ab 14 Jahren versehen und wird abwechselnd aus der Perspektive von Nora, Cam und Adam erzählt, wodurch die Klassifizierung als Jugendroman trotz des drastischen Themas auch stimmig ist. Dabei entwickelt die Geschichte einen derartigen Sog, dass ich sie nahezu an einem Stück gelesen habe. Die Charaktere Nora und Cam sind mit ihren Verhaltensweisen als „Role models“ angelegt, auf welche Weise mit dem Vorgang umgegangen wird, wobei die äußerst schmerzhafte Charakterentwicklung bei Nora hervorragend geschildert ist. Schmerzhaft nicht nur wegen des Vorfalls an sich, sondern weil es im Verlauf dessen Aufklärung zu einer regelrechten Demontage ihres großen Vorbilds kommt, was hier aber nicht gespoilert werden soll. Behandelt werden auch die Themen Außenseitertum, Rassismus und schlussendlich die Auflehnung gegen das Patriarchat.

Dies alles auf eine hervorragend lesbare, unaufdringliche Weise, was dieses Buch für mich zu einem wertvollen Lehrstück über Empowerment macht, das zudem auch Wege aufzeigt.

Bewertung vom 09.10.2022
Ahrens, Michelle C.

Trust and Fly (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Zwei Schweden in Schottland

Für den Musiker Arvid war es Liebe auf den ersten Blick, als er seine schwedische Heimat verließ und in Edinburgh in einem Café die Schwedin Maya sah. Für Maya nicht, denn sie war frisch verheiratet und glücklich. So verbringt Arvid sehnsuchtsvolle Jahre als erfolgloser Musiker, in denen ihn mit Maya wenigstens eine tiefe Freundschaft verbindet. Ihn quälen jedoch nicht nur seine unterdrückten Gefühle, sondern er muss immer mehr erkennen, wie unglücklich Maya in ihrer Ehe ist und wie schlecht sie von ihrem Ehemann Colin behandelt wird. Das Schicksal erlaubt sich jedoch eine bittere Ironie: Gerade als Mayas Ehe endgültig in die Brüche geht und ihr Herz frei für Arvid wird, nimmt dessen Karriere einen kometenhaften Aufstieg. Arvid muss sich zwischen seinen beiden tiefsten Herzenswünschen entscheiden, der Liebe zu Maya oder einer erfolgreichen Musikkarriere.

Die Geschichte ist einfühlsam erzählt, dazu breitet das wunderschöne Setting in der Altstadt von Edinburgh und vor allem in Mayas Café wieder seinen ganzen Zauber aus. Dabei nimmt sich die gefühlvolle Story ausreichend Zeit, um sich zu entfalten, ehe sich die Ereignisse dann plötzlich überschlagen. Ich persönlich habe schwer mit Maya gefühlt und gelitten, die in diesem Roman harte Schicksalsschläge erleidet. Die Charakterentwicklung ist nachvollziehbar und nachfühlbar, so dass man beim Lesen erschüttert eintaucht in die Gefühlswelt der beiden und die ganze Bandbreite an Emotionen miterlebt: Wut, Zukunftsängste, Sehnsucht und Verzweiflung. Dabei ist es kein Zwei-Personen-Kammerstück, denn gerade die wertvollen Menschen, die Maya zur Seite stehen, bilden das Herzstück der Geschichte. Sehr schön fand ich das Wiedersehen mit einigen liebgewonnenen Personen aus dem ersten Band, aber auch ganz wunderbaren neuen Freunden, mit denen selbst Maya nicht gerechnet hatte. Ich habe Alice, Harvey und John fest in mein Herz geschlossen, aber allen voran Michael mit seiner Fürsorge und seinen klugen Worten: „Nur glaube ich, dass es im Leben Augenblicke gibt, in denen die Menschen, die uns wichtig sind, Priorität haben sollten.“

Passend zum Musikerthema sind die Kapitel in Songs einer Playlist eingeteilt, und immer wieder fassen Arvids Songtexte sein Seelenleben wunderbar in Worte.

Ein rundum gelungenes Leseerlebnis!

Bewertung vom 30.09.2022
Sand, Marie

Ein Kind namens Hoffnung


sehr gut

Eine unbequeme Heldin

Selten ist es mir so schwergefallen, eine Rezension zu einem Buch zu verfassen. Ich habe lange überlegt, warum ich nicht einfach ohne Vorbehalte Begeisterung verspüren kann? Weil es ein gutes Buch ist, ein wichtiges Buch, aber eben kein gefälliges Buch. Und das ist in Ordnung.

Es ist das Jahr 1938, und für die jüdische Familie Sternberg in Berlin endet der unerschütterliche Glaube, dass alles gut werden wird, abrupt an einem kalten Winterabend: Das Haus wird gestürmt, die Eltern werden als „Judenpack“ abgeführt, das Haus konfisziert. Der kleine Sohn der Sternbergs entgeht der Verhaftung nur haarscharf dank der Geistesgegenwart der Köchin und Hausangestellten Elly, die ihn als ihren Sohn ausgibt und mit ihm noch in dieser Nacht flüchtet. Es folgt die Geschichte ihrer Flucht unter höchsten Gefahren mit einem fremden jüdischen Kind. Bei Ellys Eltern im Pfarrhaus bei Bonn, ihrer ersten Anlaufstelle, sind sie jedenfalls nicht willkommen, und so setzt Elly ihre Flucht ziellos fort bis ihr von unerwarteter Seite Hilfe zu Teil wird, doch der harte Weg durch Krieg, Hunger und Not ist noch lange nicht zu Ende.

Der Roman bedient sich einer nüchternen Sprache, hüllt nichts in romantisierende oder verklärende Formulierungen, sondern zeigt den quälenden Hunger und das Leid schonungslos und schroff. Das liest sich nicht immer wirklich gefällig, man findet jedoch bald in den Klang der Erzählung hinein. Der Leidensweg von Elly und dem kleinen Leon Sternberg ist schmerzhaft anschaulich dargestellt, und wir verfolgen den erschütternden Weg der beiden 20 Jahre lang bis weit ins Jahr 1958. Geschichtlich wahnsinnig interessant, aufrüttelnd, schmerzhaft. Was eindeutig Unbehagen beim Lesen hervorruft, ist jedoch die Figur der Elly. Sie ist entgegen des Untertitels keine klassische Heldin. Sie ist zwar mutig, aber oft genug unsympathisch. Ihr Handeln konnte ich in weiten Teilen kaum nachvollziehen. So zeigt sie für Leon Sternberg eine fanatische Liebe, an ihre früheren Arbeitgeber Sara und Hanns Sternberg denkt sie mit verklärter Hingabe. Für andere Menschen, sogar die eigene Tochter, hat sie kein Herz. Ja, das konnte ich überhaupt nicht nachvollziehen, und ja, das hat mich an Elly sehr gestört. Aber müssen Heldinnen in Romanen immer gefällig sein? Immer liebreizend, heldenhaft und sympathisch? Ich freue mich, dass die Autorin den Mut hatte, mit Elly einen unbequemen Charakter zu schaffen weitab aller Ideale, denn genau diese Fehler, Ecken und Kanten verleihen der Figur eine zutiefst menschliche Seite.

Bewertung vom 24.09.2022
González Harbour, Berna

Goyas Ungeheuer


gut

Eine Geschichte der Besessenheit

Von „Goyas Ungeheuern“ besessen sind die Charaktere dieses spanischen Romans. Ein Unbekannter, der Tiere ermordet, um damit Szenen aus Goyas Zeichnungen nachzustellen, versetzt ganz Madrid in Aufruhr, denn es wird nicht bei toten Tieren bleiben... Die Geschichte taucht tief in Goyas Werke ein; vor allem die Pinturas negras, der Zyklus der Caprichos, werden genau beleuchtet. Es ist ein fundierter Ausflug in das Schaffen und die Biographie von Francisco de Goya mit allen Licht- und Schattenseiten. Die Charaktere sind allesamt regelrecht besessen von Goya und seinem Werk, wir erhalten Einblicke in die Szene von Künstlern, Hausbesetzern und Aktivisten. Heimliche Hauptdarstellerin im Hintergrund ist die spanische Hauptstadt: „Madrid, das mit einem Fuß in der Gegenwart und mit dem anderen in der Vergangenheit stand.“ Immer wie verknüpft die Autorin kunstvoll Historisches mit Zeitgeschehen und lässt Madrid und die Politik ihrer spanischen Heimat dabei nicht immer gut aussehen.

Für mich, die ich Madrid im Jahr 2019 besucht habe und mit Goyas Werk durchaus vertraut bin, war dieser Roman eine bereichernde Vertiefung, die mir Vertrautes vor Augen geführt und in neuem Licht gezeigt hat.

Allerdings kommt dieser Roman ja im Gewand eines Kriminalromans daher, und da kommt mein großes ABER… Dieses Buch ist der vierte Band einer spanischen Buchreihe, jedoch der erste auf Deutsch übersetzte und veröffentlichte. Leider merkt man dies der Handlung stark an, worauf man jedoch weder bei der Beschreibung noch im Klappentext hingewiesen wird. Der Kriminalfall an sich ist sterbenslangweilig, weil Motiv und Täter sehr schnell bekannt sind und die Handlung dann relativ ziellos vor sich hintreibt. Spannung kommt nicht auf, wirkliche Rätsel gibt es auch nicht, nur grenzenlose Verwunderung über das seltsame Verhalten der Beteiligten. Dies wiederum gründet in den unbekannten vorigen Teilen.

Mein Fazit: Für mich persönlich war es eine äußerst interessante Leseerfahrung, aber ich kann dieses Buch leider nicht weiterempfehlen.