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darkola77

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Insgesamt 101 Bewertungen
Bewertung vom 22.07.2024
Shafak, Elif

Am Himmel die Flüsse


ausgezeichnet

Wie Flüsse, die sich durch Länder und Zeiten ziehen, ineinander münden und zusammen einen reißenden Strom ergeben – Elif Shafak vermag es, aus drei scheinbar ganz unterschiedlichen Erzählfäden ein großes Ganzes und eine fesselnde und mitreißende Geschichte zu erschaffen. Und das Gesamtbild beleuchtet die Länder des ehemaligen Mesopotamiens gleich einem Kaleidoskop in seiner Historie und in Grausamkeiten, Verletzungen und Traumata, die über Grenzen hinweg bis in die Gegenwart und auf den europäischen Kontinent reichen.
Arthur ist ein Kind der Armut, des Elends und der Vereinsamung. Geboren im ausgehenden 19. Jahrhundert in einem London, das nur die Starken und Einfallsreichen den Kampf gegen Krankheit, Kriminalität und Verwahrlosung gewinnen lässt, erweist er sich dank seines herausragenden Intellekts als Überlebenskünstler. Und als Wunderkind. Denn allein durch autodidaktische Schulung gelingt ihm das, woran zahlreiche Wissenschaftler und Experten seiner Zeit verzweifeln: Er vermag es, die Keilschrift der alten assyrischen Kultur auf ihren überlieferten Tontafeln zu entziffern. Ist hiervon geradezu besessen. Und macht dabei eine Entdeckung, die sein Leben für immer verändern und weltweite Aufmerksamkeit erregen wird.
Narin ist ein junges ezidisches Mädchen, das gemeinsam mit ihrer Familie in ihrem Heimatdorf im Südosten der Türkei lebt. Der Bau des Ilisu-Staudamms bedroht nicht nur ihr Zuhause sondern auch die ezidische Gemeinschaft, Bräuche und Kultur, so dass ihre Familie beschließt, sie im Land ihrer Vorfahren, im heiligen Lalisch-Tal taufen zu lassen. Doch es ist das Jahr 2014, und Narin, ihr Vater und ihre über alles geliebte Großmutter werden Zeugen und Opfer des furchtbaren Genozids an den Eziden, der sich vor den Augen der Welt in aller Öffentlichkeit vollzieht.
Und schließlich ist da Zaleekah, Tochter einer Einwanderin aus dem Nahen Osten und aufgrund ihrer Herkunft, des frühen Todes ihrer Eltern und ihrer Kindheit und Jugend im Hause ihres dominanten Onkels in London verwundet und schwer traumatisiert. Die Begegnung mit Nen, einer Tätowiererin, Historikerin und bald einzigen Vertrauten Zaleekahs ändert für die junge Frau alles. Und gibt ihr die Stärke und Mut, welche sie all die Jahre nicht spüren konnte.
Die Figuren dieser Geschichten sind miteinander verbunden wie Tautropfen auf einem Spinnennetz. Es ist das Wasser als das Jahrhunderte und Jahrtausende überdauernde Element, das diese Brücken durch Zeit und Raum schlägt. Und es ist ein Gedicht, dessen Ursprung in Mesopotamien liegt. Und bis heute Menschen aller Herkunft und Länder in seinen Bann zieht.
Was daraus wird: etwas Großes! Ein Sog, der einen beim Lesen nicht mehr loslässt. Und ein Strudel, der in die erzählerischen Tiefen zieht. Und die Wellen über Dir zusammenschlagen lässt. Der Roman hat mir so viel gegeben. Und Elif Shafak mir ein neues Lieblingsbuch.

Bewertung vom 09.07.2024
Lynch, Paul

Das Lied des Propheten


ausgezeichnet

Beeindruckend, erschreckend, hochaktuell – und ein Spiegel und Ausblick dessen, was geschehen kann und wird, wenn wir nicht wachsam sind. Und uns nicht einsetzen und kämpfen für unsere Demokratie. Unsere Werte. Für die Menschlichkeit.
Irland wird zum totalitären Staat! Erst langsam, schleichend, sich zunehmend überschlagend in Geschwindigkeit, Grenz- und Rechtsüberschreitungen, in Morden, Verschleppungen und Folter. Und Eilish ist mit ihrer Familie mittendrin – in Dublin, in dem Schrecken, Grauen und der Unmöglichkeit des Begreifens, Verstehens. Zu gewaltig ist das, was geschieht, zu absurd scheinen allein die Gedanken an das, was sich gerade vor den eigenen Augen vollzieht.
Eilishs persönlicher Albtraum, der Krieg in ihrem Inneren und Außen, beginnt mit der Verhaftung ihres Mannes Larry, eines Gewerkschafters, seinem spurlosen Verschwinden. Und dann geht es Schlag auf Schlag, Einschlag folgt auf Einschlag, auf Erschütterung, Detonation. Ihr ältester Sohn Mark soll zum Militärdienst eingezogen werden, Schule und Studienpläne werden zerstört – und schon ist Eilish mitten im Kampf um ihre Familie, deren Zukunft, ihr gemeinsames Überleben. Doch wird sie zunehmend machtlos, Willkür und Terror, Entsetzen und Trauer schutzlos ausgesetzt – bis auf einmal ihr gesamtes Leben in Trümmern liegt, im Staub des Zements, in den Überresten und der Zerstörung von Bombardement und Entmenschlichung.
Die Handlung, der Fortgang der Geschichte ist teils kaum zu ertragen. Und das ist gut so! Denn bei aller Fiktion ist der Roman so erschreckend, da erschreckend realistisch und zunehmend vorstellbar. Und er rührt an unseren Urängsten: dem Verlust des Zuhauses, dem Tode unserer Liebsten, dem Ausgeliefertsein der Gewalt, Willkür und Gesetzlosigkeit.
„Das Lied des Propheten“ ist so wichtig, gerade jetzt!

Bewertung vom 18.06.2024
Newman, Sandra

Das Verschwinden


ausgezeichnet

Und auf einmal ist alles anders.
Und die Welt steht still, die Sicht verschwimmt. Und als die Augen sich wieder öffnen, sind diese weiblich. Und die Männer sind verschwunden.
Für Jane, Blanca, Ji-Won und all die weiteren Frauen ändert sich innerhalb weniger Minuten damit alles: ihr Leben, ihr Lieben, die Gesellschaft, wie sie so selbstverständlich erschien. Denn ohne deren männliche Mitglieder sind nicht nur zahlreiche der wichtigen Führungspositionen plötzlich unbesetzt sondern auch Zuschreibungen und Rollenbilder in Frage gestellt. Und die Frauen selbst ebenso in einem Prozess der Veränderung und Entwicklung begriffen wie ihre Umwelt – Wirtschaft, Regierungssysteme aber auch die Natur, die wieder erblüht und Heilung erfährt.
In dieser Zeit der Trauer, des Leidens und des Neuanfangs findet eine Frau den Weg bis ganz an die Spitze: Evangelyne – Lichtgestalt, politische Anführerin und ein Magnet für ihre stetig wachsende Anhängerinnenschaft. Und für Jane ist sie nicht nur eine ehemalige Kommilitonin sondern auch einst beste Freundin und Anker ihres brüchigen Lebens. Mit Jane an ihrer Seite bringt Evangelyne Struktur und Richtung in die neue Welt, und ihr Aufstieg scheint kometenhaft.
Wenn, ja wenn… Und da kommen wir zu dem, für das es keine Worte zu geben scheint. Und für die Frauen keine Erklärung. Und für mich verstörende Stunden der Lektüre und ganz große Liebe für einen Roman, der so einzigartig anders ist. Denn mit „The Men“ scheint ein Guckloch in einen anderen Raum geschaffen, eine Dimension, fern der unseren, eine Geisterwelt, in welcher die verschwundenen Männer sich ihren Frauen zeigen. In kurzen Filmen ist ihr Leiden, ihre Qual, ihr Töten zu sehen, in einer Kulisse aus dämonischen Tierwesen und einer Natur in Falschfarben.
Verstörend? Sehr! Genial? Und wie! Und für mich so unerwartet: eine Geschichte mit so viel Kreativität und Schaffensgeist, Überraschendem und Denkanstößen, die mich nicht mehr loslassen wollen. Und mich bis in meine Träume verfolgt haben. Ja, das ist eine dringende Leseempfehlung von mir! Und Pflichtlektüre für diejenigen, die neue Wege denken und Literatur so ganz anders entdecken wollen.

Bewertung vom 02.06.2024
Martínez, Layla

Heiligenbilder und Heuschrecken


ausgezeichnet

Ein Haus voller Schatten, Engeln und Dämonen, ein Haus, das beschützt, bestraft und über dich wacht – in dieser Symbiose, Schutz und Bedrohung leben eine Enkelin und ihre Großmutter. Sie leben in Armut. Sie leben ausgegrenzt von der Gesellschaft. Und sie leben gekettet an ein Haus, das Fluch und Segen zugleich für sie ist.
Doch nicht nur die Trennung nach sozialen Schichten und Milieus hat die Frauen der insgesamt drei Generationen in die Isolation getrieben, abgelegen hinter einem Gebirgskamm, getrennt von der weiteren Bevölkerung. Es ist auch die Unterdrückung, Ausbeutung und Gewalt, welche sie gerade durch die männlichen Dorfbewohner erfahren haben, sei es Ehemann, Partner oder Liebhaber, und das Frauenbild, das ihnen übergestülpt wird. Und es ist auch die hiermit einhergehende Zuschreibung der Hexerei und Verbindung zu übernatürlichen Kräften, welche die Menschen Furcht und Angst verspüren und Abstand zu ihnen halten lässt – ausgenommen die Momente, in denen sie sich die Fähigkeiten der beiden Magiebegabten für ihre eigenen Zwecke zunutze machen.
Ist das Haus mit seinem eigenen Innenleben Zuflucht und Gefängnis für deren Bewohnerinnen, so ist es auch Instrument für deren Rache und Waffe gegenüber den männlichen Peinigern. So wird es zugleich zum Bewahrer ihrer moralischen Abgründe und bindet die Frauen auch durch deren dunkle Geheimnisse an sich.
Dicht und intensiv wie die Erzählung selbst ist auch die Atmosphäre, die durch die klare, direkte Sprache und eine Handlung, welche eine verstörende und um Magie erweiterte Wirklichkeit beschreibt, geschaffen wird. Und so setzt sich das Büchlein mit seinem Reichtum an Motiven, Bedeutungsebenen und Kraft im eigenen Kopf fest, hallt in diesem nach und lässt die Leser*innen gestärkt zurück – wenn auch mit einer Gänsehaut über der eigenen Zufriedenheit.

Bewertung vom 30.05.2024
Othmann, Ronya

Vierundsiebzig


ausgezeichnet

Eindringlich, erschütternd, schonungslos – Ronya Othmanns Worte gehen tief in Mark und Bein, in Kopf und Herz und bleiben dort. Denn tief und existenziell ist ihre Frage nach einem Leben und Fortleben nach dem Moment, in dem die Zeit stillgestanden und das Unaussprechliche eingetreten ist. Und die Uhren sich anschließend trotzdem weiterdrehen. Und die Welt verändert zurücklassen.
Der 3. August 2014 ist dieser Tag – der Tag des Einschnitts, Todes und der Vertreibung. Der Tag des Genozides an der ezidischen Bevölkerung, dem vierundsiebzigsten. Verübt durch den sogenannten Islamischen Staat, in Shingal im Irak. Tausende Menschen fanden den Tod, grausam ermordet oder verhungert und verdurstet in den Bergen Sindschars. Und weitere Tausende, vor allem Frauen und Mädchen, wurden entführt, in Sklaverei verkauft, vergewaltigt, entmenschlicht.
Für das Unaussprechliche Worte finden, dem Schrecken Bild und Ausdruck verleihen – Ronya Othmann begibt sich auf die Reise zu den Orten der Morde und Vertreibungen, in die Camps und Häuser der Menschen, traumatisiert und verwundet in Körper und Seele, auf die Spuren ihrer Verwandten. Ihre Begegnungen, Eindrücke und Erfahrungen in der Türkei, Syrien und Irak setzt sie dabei in Beziehung zu ihrer eigenen Familiengeschichte, verflechtet sie mit ihrem eigenen Leben, geprägt und für immer gezeichnet von dem Völkermord.
Die Sachlichkeit in ihrem Erzählen steht im Kontrast zu den verübten Grausamkeiten und schier endlosem Leid und ermöglicht so einen Zugang zu Geschehnissen, die aufgrund der hohen Emotionalität dessen, was sie bei Schreibender und Lesenden hervorrufen, sonst kaum greif- und ertragbar erscheinen. Und so schafft Othmann Gehör für Ungesagtes und Raum und Bereitschaft für die Auseinandersetzung mit dem Genozid, der in unserem Kulturkreis zu oft, zu lang Kopf und Herzen nicht erreichte. Und zugleich hat sie mit „Vierundsiebzig“ einen Roman erschaffen, der überdauern und bleiben wird – als Mahnung, Erinnerung, Zeugnis einer großen, aufstrebenden Autorin.

Bewertung vom 01.05.2024
Henry, Christina

Böse Mädchen sterben nicht


sehr gut

Was ist, wenn Du plötzlich Dein Gedächtnis verloren hast und Dein Mann ein Fremder für Dich ist? Wie überlebst Du in einer einsamen Hütte tief im Wald – mitten in Deinem liebsten Horrorsetting? Und wie schlägst Du Dich als Kämpferin in einem Survival-Game, in dem aus Spiel blutiger Ernst wird?
Diesen Fragen müssen sich Celia, Allie und Maggie stellen, jeweils in ihrem eigenen Szenario und in einer surreal erscheinenden Umgebung. Und auch die Frage, wie sie in diese Situation und an einen Ort kommen konnten, scheinbar weit entfernt von Zivilisation und Rechtssystem, ist ebenso rätselhaft wie unerklärlich für sie. Was sie allerdings eint, ist ihr starker Überlebenswille. Und der Mut, auch gegen die Ausweglosigkeit zu kämpfen.
Was die drei Welten, die Christina Henry entwirft, für mich dabei vor allem verbindet, ist die atemlose Spannung, der wunderbare Nervenkitzel und die kribbelnde Gänsehaut, die mich beim Lesen ereilt habe. Nicht zu vergessen die detailreichen, auch blutigen Bilder, die vor meinem inneren Auge abgelaufen sind und das Buch zu einem wahren Pageturner machen. Und was es als Bonus oben drauf gab: gänzlich unterschiedliche Settings, jeweils einem eigenen Genre entsprungen. Sei es der heimelige Cozy-Crime, der blutige Horrorschocker rund um einen psychopathischen Killer oder die Dystopie mit einem Kampf um Leben und Tod und von Level zu Level. Christina Henry kennt sie alle und bedient die unterschiedlichen Anforderungen und Erwartungen mit Leichtigkeit und einer Fantasie, welche die Lektüre zu einem Erlebnis macht.
Alles schick, alles schön – so könnte man jetzt denken. Wäre da nicht das Ende, die Auflösung all des Rätselratens, die Krönung, der Punkt, an dem all die Fäden zusammenlaufen. Und der mich einfach nur enttäuscht. Und all die vorherige Fantasie vermissen lässt. Plötzlich reiht sich Klischee an Klischee, Vorurteile werden bedient, eine gesellschaftskritische Message wird gesucht. Und nicht gefunden.
Was mache ich nun damit? Ich erfreue mich an den 360 äußerst spannungsreichen Seiten und wünsche mir, Celias Amnesie für die verbliebenen 50 zu entwickeln. Denn dann stimmt alles.

Bewertung vom 20.04.2024
Bardugo, Leigh

Der Vertraute


ausgezeichnet

Die Gaben, welche die junge Luzia Cotado besitzt, sind gefährlich. Denn auch, wenn ihre Refranes und Zauberformeln ihr ihren harten Alltag als Küchenmädchen erleichtern, so ist es doch stets die Furcht vor der Inquisition, die sie ihre Magie im Verborgenen ausüben lässt. Zumindest bis zu dem Zeitpunkt, als ihre Herrin auf ihre Fähigkeiten aufmerksam wird und diese zu nutzen versucht, um im Madrid des Goldenen Zeitalters ihre eigene gesellschaftliche Position aufzuwerten.
Und so nehmen die Geschehnisse ihren Lauf, und ein Zwiespalt entsteht, der Luzia in Versuchung und damit ins Fadenkreuz der kirchlichen Verfolgung führt. Denn Aufmerksamkeit, Anerkennung und kleine materielle Zuwendungen in ihrer Armut sind mit der Gefahr verbunden, der Hexerei beschuldigt und auf dem Scheiterhaufen öffentlich zur Schau gestellt und verbrannt zu werden. Doch auch Habgier und Geltungsdrang aus weit höheren Kreisen setzen die verunsicherte Dienstmagd einem unberechenbaren Risiko aus. Denn mit Victor de Paredes, Mäzen ihrer Tante Hualit, und Antonio Pérez, dem vom Hofe gejagten Sekretär des Königs, versuchen zwei Schlüsselfiguren des spanischen Machtgefüges der damaligen Zeit, die Gunst des Herrschers zu erlangen – mit Hilfe von Luzias magischen Fähigkeiten und schonungs- und rücksichtslos der jungen Frau gegenüber.
In diesem Ränkespiel nimmt Guillén Santángel, Vertrauter Paredes‘ und eine Gestalt weder Licht noch Schatten, eine undurchschaubare Rolle ein. In seiner Gegenwart fühlt Luzia sich von der Magie in schiere Höhen gehoben und zu allem fähig. Und auch ihre eigene Scheu und Zurückhaltung schwinden im Antlitz seiner bleichen Gestalt und beim Blick in seine eisblauen Augen. Im Rahmen seiner magischen Unterweisungen wächst denn auch nicht nur ihre Macht sondern auch ihre Gefühle für ein Geschöpf, das selbst ein dunkles Geheimnis birgt.
So wie für Luzia war auch für mich der Eintritt in eine Welt der Magie, Gefahr und frei von Skrupeln mit Aufregung, Spannung aber auch einigen Anstrengungen verbunden. Denn in einem Netz aus Beziehungen und Verflechtungen stets die Orientierung zu bewahren, setzt zumindest einen eigenen kontinuierlichen Lesefluss voraus. Doch ist die Belohnung umso schöner, eine Geschichte so magisch und faszinierend, dass die eigene Welt zunehmend in den Hintergrund tritt.

Bewertung vom 03.04.2024
Kopka, Franzi

Was die Wahrheit verbirgt / Honesty Bd.1


ausgezeichnet

Die Wahrheit ist das höchste Gut! Und steht in Sestiby über alles und an erster Stelle. Und rechtfertigt damit auch Methoden und ein System, das auf Unterdrückung, Bevormundung und Einschränkung basiert – und das in seiner schlimmsten Form. Denn den Bewohner*innen wird die Einnahme des Medikamentes VeriTab verordnet, welches die Menschen nicht nur dazu zwingt, immer und umgehend auf jede Frage wahrheitsgemäß zu antworten, sondern auch tiefergehende negative Emotionen unterdrückt. Eine scheinbar heile Welt. Oder doch ein gläserner Käfig, in welchem die Menschen gefangen sind?
Für Mae gilt dies nicht, denn Mae ist anders. Zwar entzündet Veritas auch in ihrer Kehle ein Brennen, so dass ihr Lügen oder ein Schweigen unmöglich ist. Doch Mae ist in der Lage, auch negative Gefühle zu empfinden. Und diese Fähigkeit setzt sie einer großen Gefahr aus, denn die sogenannten Liars werden in dem System von den Aufsehenden verfolgt und im besten Fall in der starren Klassengesellschaft in die unterste Stufe, den Ring acht verbannt.
Die Aufnahme in ein Partnerschaftscamp stellt für Mae damit einen dramatischen Einschnitt in ihrem ohnehin nicht privilegierten Leben dar. Sie steht vor der scheinbar unlösbaren Aufgabe, über acht Wochen ihre Fähigkeit zur „emotionalen Überreaktion“ vor der allgegenwärtigen KI AISS und ihren Mitbewohner*innen zu verbergen. Und diese Herausforderung wird ungleich größer, da mit Grayson ein Mann in ihr Leben getreten ist, der ihr Herzen zum Rasen bringt und ihre Gefühle in Aufruhr versetzt. Und der zudem ein dunkles Geheimnis verbirgt.
Mit dieser Wendung wird der dystopische Pageturner um eine wunderbare Romance erweitert, der Gänsehaut an meinen Armen mit kleinen Herzchen in meinen Augen abwechseln lässt. Diese wunderbare Kombination gemeinsam mit dem äußerst spannenden und faszinierenden Setting hat dazu geführt, dass ich bereits nach wenigen Seiten tief in die Geschichte eingetaucht bin. Und schon jetzt ein Lieblingsbuch des Jahres für mich entdeckt habe.

Bewertung vom 17.03.2024
Scheerer, Jana

Die Rassistin


ausgezeichnet

Dieser Roman ist so viel: Ein Collage. Eine hochaktuelle Geschichte. Ein Denkanstoß. Und zwar ohne den berühmt-berüchtigten moralischen Zeigefinger sondern durch ein intelligentes, glaubhaftes Erzählen. Und viel Komik und Humor.
Nora Rischer sieht sich plötzlich in eine Situation verwickelt, die auf den ersten Blick amüsant erscheint. Und auf den zweiten eine Katastrophe für sie und ihre wissenschaftliche Karriere darstellen könnte. Eher zufällig erreicht sie im Behandlungszimmer ihrer Ärztin die Nachricht, dass es am germanistischen Institut zu einem rassistischen Vorfall gekommen ist. Neugierig und innerlich bereits auf der Seite der Geschädigten muss sie mit Schrecken feststellen, dass es scheinbar ihr eigenes Seminar ist, über das berichtet wird. Und sie als Dozentin folglich diejenige ist, welche sich vor ihren Studierenden rassistisch geäußert und eine diskriminierende Situation geschaffen haben soll.
Was dann folgt, ist für Nora ein Wechselbad der Gefühle, eine Suche nach der eigenen Positionierung und ein Ringen um ein Verstehen des Geschehenen. Das alles verpackt in einem ebenso geschickt arrangierten wie äußerst unterhaltsamen Gedankenstrom, der Situationen aus ihrer eigenen Vergangenheit unter einem sich neu ausgerichteten und moralisch geschärften Kompass beleuchtet und so in Verbindung zu dem Verdachtsfall setzt.
Und wie die Kompassnadel schwankt auch Nora darin, welches Vorgehen als von der Gesellschaft angemessen und von ihrem Umfeld akzeptiert von ihr erwartet wird. Und ob sie sich hierzu bereit fühlt. Ist es eine Entschuldigung, offiziell und öffentlich? Ist es ein Leugnen und Abstreiten? Eine Erklärung und Rechtfertigung? Nora weiß es nicht. Und zahlreichen Leser*innen wird es ähnlich gehen.
„Die Rassistin“ ist ein durchaus mutiger Roman. Eine Geschichte, die eine*n lächeln lässt und zugleich nachdenklich und betroffen macht – und zwar gerade deshalb, weil wir dies selbst alle sein könnten. Betroffene einer derartigen Situation oder Skandals. Und dies möglicherweise zu Recht? Eine klare Antwort hierauf ist kaum zu finden, doch der Roman ist eine wichtige, intelligent konstruierte und reflektierte Annäherung an diese.

Bewertung vom 09.03.2024
Spit, Lize

Der ehrliche Finder


ausgezeichnet

Beste Freunde? Oder eine Abhängigkeit, die ins Verderben zieht?
Jimmy und Tristan kommen aus zwei verschiedenen Welten und doch verbindet sie viel: Tristan, der mit seinen Eltern und Geschwistern aus dem Kosovo geflohen ist, und sich nun im belgischen Bovenmeer ein neues Leben aufbauen muss. Und Jimmy, der Klassenbeste, Außenseiter und nach der Scheidung seiner Eltern einsam und verstört, der sich Anschluss und einen Freund wünscht.
Dem neuen Mitschüler den Start zu erleichtern und ihm beim Lernstoff zu unterstützen, ist eine Aufgabe, die für Jimmy da gerade wieder gerufen ist. Akribisch und mit Feuereifer bringt er Tristan und dessen Familie die niederländische Sprache bei, arbeitet mit ihm die Schulaufgaben und die verpassten Lektionen durch und hilft ihm, sich im täglichen Leben in Bovenmeer zurechtzufinden. Jimmy selbst bezeichnet Tristan dabei als seinen besten Freund, auf den er eifersüchtig einen Besitzanspruch erhebt.
Tristan, mit 12 Jahren älter als Jimmy, nimmt diese Unterstützung gerne an. Dessen tiefe Gefühle der Freundschaft und Verbundenheit scheint er jedoch nicht im gleichen Maße zu erwidern, ist er selbst doch viel zu sehr mit den Auswirkungen und Traumatisierungen seiner Flucht beschäftigt. Und in seinen Ängsten und Schreckensbildern ist es vor allem seine Großfamilie, die ihm Halt und Unterstützung gibt. Es ist ein gegenseitiges Klammern an- und miteinander, in welchem Jimmy lediglich einen Platz unter mehreren einnimmt.
Und wie die Geschichte sich dann entwickelt, zeigt für mich eine wunderbare Parallelen zu „Und es schmilzt“, obwohl Inhalt und Plot ganz verschieden sind. Doch kommt es überraschend, schonungslos und ungefiltert. Und verstärkt damit die starke Aussage dieser Erzählung: dass Flucht keine Entscheidung ist und alle Menschen ein Anrecht darauf haben, in Sicherheit und Schutz aufzuwachsen. Und dass Verzweiflung dramatische Folgen nach sich ziehen kann.
Bei all diesem starken Appell ist „Der ehrliche Finder“ zugleich ein literarischer Hochgenuss mit einer klaren, präzisen und eindringlichen Sprache. Und ein Roman, der bleiben wird. In der Besprechung und im Herzen seiner Leser*innen.