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galaxaura
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Köln

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Insgesamt 113 Bewertungen
Bewertung vom 01.03.2025
Bracht, Helene

Das Lieben danach


gut

Bleibt im eigenen Erleben stecken

„Das Lieben danach“ von Helene Bracht, erschienen 2025 im Carl Hanser Verlag, beschäftig sich mit einer wichtigen, vielleicht zu seltenen Frage, nämlich der, wie Personen, die sexualisierter Gewalt ausgesetzt waren, in ihrem späteren Leben zu einem erfüllten Liebesleben und einer gesunden Sexualität finden können. Das schlanke Buch kommt in einem Schutzumschlag mit einem sehr passenden, wunderschönen Cover von schon überblühten Blumen, die eine ganz morbide Stimmung setzen.

Bracht, in ihrer Kindheit starker sexualisierter Gewalt durch einen engen Bekannten der Familie ausgesetzt, gehört erst einmal Respekt dafür, dass sie aus dem Dunkelzifferbereich heraus so stark in die Öffentlichkeit tritt und sich damit auch erneut verwundbar macht. Dieses Teilen ihrer Geschichte ist ein wertvoller Schritt für Betroffene – und vielleicht ja auch für Täter:innen, die sich hier noch einmal ein klares Bild der lebenslangen Konsequenzen ihres Handelns machen können. Bracht stellt kluge Fragen in ihrem Buch und macht sich auf die Suche nach Antworten: Haben früh von sexualisierter Gewalt betroffene Personen ein spezielles Bindungsverhalten? Was bedeutet eine kindliche Erfahrung von sexualisierter Gewalt für die spätere Entwicklung von Geschlechtsidentität und Rollenfindung? Welchen Unterschied macht das Geschlecht der Täter:innenperson für den Lebensweg der Betroffenen und die Wahl der Menschen, zu denen diese sich später hingezogen fühlen?

Für das Buch spricht die meist sehr sachliche Analyse und theoretische Fundierung der Auseinandersetzung sowie überhaupt der Ansatz, nicht bei der Beschäftigung mit dem Trauma stehenzubleiben, wie viele andere Bücher, sondern nach dem Leben danach zu fragen und hier nach Möglichkeiten und Wegen zu schauen.
Leider aber bleibt für mich vieles doch im Mikrokosmos von Bracht stecken. Da ist zum einen die sehr akademische Sprache mit vielen Bildungsreferenzen und Fremdwörtern – warum nicht vom Elfenbeinturm herunterkommen und ein solches Buch niederschwellig schreiben? Auch wenn diese Art sicher der Distanzierung dienen mag, so hält sie doch auch sehr viele Menschen von diesem Buch fern. Aber wir reden hier über ein generelles gesellschaftliches Problem, dessen Analyse möglichst vielen Menschen zugänglich sein sollte. Bracht formuliert selbst, dass das Wort „Missbrauch“ eben sehr misslich ist, beinhaltet es doch, dass es auch regelkonformen „Gebrauch“ von Menschen geben könne – und auch generell ist das Wort viel zu schwach und euphemistisch für die Tat. „Sexualisierte Gewalt“ schlägt die Autorin deshalb völlig richtig vor – und nutzt doch selbst immer wieder das Wort Missbrauch. Damit bleibt sie in der Täter:innenperspektive verhaftet. Bracht kritisiert heftig die me-too-Bewegung als Generalisierung einer Opfer-Perspektive, die im Opfersein stehenbleibe. Dabei hat me-too genau das Gegenteil zur Zielsetzung und auch erreicht: Der Zusammenschluss, das Zusammentragen vieler Opferperspektiven macht das Systemische sichtbar und zeigt deutlich: Es gibt Millionen von individuellen Fällen aber: keinen Einzelfall. Es gibt kein Frausein ohne das Erleben von sexualisierter Gewalt. Was durchstrahlt durch das Buch ist auf eine gewisse Weise doch ein Stehenbleiben von Bracht in ihrem individuellen Fall und ein Kampf mit dem individuellen Trauma, der noch nicht ausgefochten ist, weshalb ihr dieser eigene Fall nach wie vor in seiner Individualität sehr wichtig ist. Darauf hat sie als Mensch jedes Recht der Welt. Aber diese Herangehensweise verhindert größere strukturelle Erkenntnisse, die ich mir persönlich von diesem Buch mehr erhofft hätte.

Sehr interessant sind Brachts Gedankengänge zu Grenzen, zum Setzen von Ja und Nein – und gerade hier wäre die me-too-Bewegung ein großartiges Beispiel um aufzuzeigen, warum das Setzen von Grenzen so schwer ist: Weil wir von klein auf sozialisiert werden, die Grenzen auch schon im Kleinen nicht zu setzen. Alle Übergänge zwischen gewohnter kleinerer sexualisierter Gewalt hin zur großen sind fließend und daher ist es im Prozess fast unmöglich, den Punkt für das Nein zu finden. Bracht ist der Meinung, Erotik sei immer mit Macht verbunden, diese Setzung macht sie einfach. Hier kann ich überhaupt nicht zustimmen, Erotik kann genau auch das Gegenteil ausmachen, nämlich die vollkommene Abwesenheit von Macht.

Lange Rede, kurzer Sinn: Brachts starke individuelle Prägung ist in ihrer Analyse immer spürbar und so bleibt das Buch doch eher ein Erfahrungsbericht. Mein voller Respekt für diesen angesichts der starken Verletzung, die Bracht erleiden musste. Für mich weist aber wenig über diesen Fall hinaus. Insofern ist das Buch sehr interessant zu lesen als ein Teil eines Puzzles. Für das Große Ganze müssen vielleicht eher andere Bücher herhalten.

Bewertung vom 17.02.2025
Unterlehberg, Mascha

Wenn wir lächeln


ausgezeichnet

Am Puls der Erwartungen

„Wenn wir lächeln“ von Mascha Unterlehberg, erschienen 2025 bei DuMont, ist ein Roman, der sich auf eine ganz eigene Art mit der Erwartungshaltung an Frauen auseinandersetzt, die davon ausgeht, dass diese nach wie vor bitte vor allem dafür da sind, Männern zu gefallen.

Mascha Unterlehberg erzählt die Geschichte von Anto und Jara, zwei Besties, die das Leben zusammenwürfelt und die beide genau das Gegenteil von dem sind, was zu sein sie den Anschein haben: Anto, das toughe Rap-Chick, immer lässig, immer wütend, immer klauend, trinkend, herumlungernd, ohne Ziel – doch eigentlich ein Richkid mit allen Möglichkeiten. Jara, aus sozial schwachem Umfeld, per Klischee genau für Antos Karriere gemacht, die jedoch versucht, sich hochzuziehen, Gymnasium, abhängen mit den zukünftigen Jurastudenten, weiterkommen. Aus einer Begegnung wird eine enge Abhängigkeitsbeziehung, in der beide sich ein Zuhause geben – und doch alles andere als das Beste aus der anderen herausholen. Dennoch strahlt die Nähe aus jeder Zeile ihres Seins.

Gemein ist ihnen das Leben in einer patriarchalen Männerwelt, in der beide immer Erwartungen erfüllen sollen. Lächel mal, sei doch nicht so, mach dich mal locker, willst du f***en? Hey, war doch nur Spaß. Beide erleben in diesem Kosmos immer wieder die Reduktion auf ihren Körper, beide erleben immer wieder, dass Nettsein die kleine Schwester von Missbrauch ist. Bis eines Tages vollkommen unerwartet nicht Anto auf Gewalt mit Gegengewalt reagiert.

Unterlehberg schreibt kraftvoll und wütend, jeder Satz gedrängt und voller Beat, das Buch peitscht scheinbar chaotisch in Fetzen voran und macht es einem nicht immer leicht zu verstehen, was genau passiert. Es ist der Puls einer langen Partynacht und eines bösen Katers danach, es ist der Kampf, ein System zu durchbrechen, dass dich immer nach unten drückt. An einer Stelle stellt Mascha Unterlehberg eine Liste der vielen Momente mit Männern zusammen, der wir Frauen täglich begegnen. Es ist eine deprimierende Liste, eine wütend machende Liste, die nachvollziehbar macht, dass der Baseballschläger, der lässig durch die Nacht getragen wird, handeln möchte. Damit die Schreie nicht mehr unsere Schreie sind.

Ein spannendes Stück Literatur, eine begabte Stimme. Lesen.

Bewertung vom 15.02.2025
Edel, Rabea

Portrait meiner Mutter mit Geistern


ausgezeichnet

Keine Angst vor Geistern.

„Portrait meiner Mutter mit Geistern“ von Rabea Edel, erschienen 2025 bei C.H. Beck, ist so ein Jahrhundertroman, dem man mit einer Rezension einfach nicht gerecht werden kann. Ein Jahres-Highlight schon jetzt, im Februar 2025. Ein Roman, wie man ihn nur ganz selten lesen darf und einer, den ganz viele Menschen unbedingt lesen sollten.

Rabea Edel erzählt uns die Geschichte einer ganzen Mehrgenerationenfamilie mit Fokus auf die weibliche Linie, sich erstreckend über knapp 100 Jahre. Ausgehend von dem Kind Raisa, die schon immer mit ihrer Mutter allein zusammenlebt und bis zur Einschulung mit dieser die Welt bereist in Kreisbewegungen um die Heimatstadt herum, Raisa, die von ihrer Mutter nichts, aber auch gar nichts über ihren Vater und ihre Familie erfährt oder Antworten darauf bekommt, warum nachts so oft das Telefon klingelt, von Raisa also, die mit so viel Schweigen aufwächst, machen wir uns auf den Weg weit zurück in die Geschichte der Familie und lernen Raisas Mutter Martha kennen und deren Mutter Selma und deren Mutter Dina und auch noch Meta und Jakob und Edom und Oskar, Phillipe, Eric, Carl, Heinrich, William, Franz, Berendine und, auch ganz wichtig, Mats. Es sind viele Namen und viele Generationen, weshalb der Stammbaum im Innencover eine große Hilfe ist, denn wir reisen durch die Zeiten und Welten und springen dabei hin und her.

Edel schreibt großartig und intensiv, die Geschichte dieser Menschen und die Art, wie sie geschrieben ist, hat eine totale Sogwirkung. Das Buch formt einen eng verwobenen Teppich von Momenten und kleinen Rätseln, Andeutungen, hingeworfenen Ausschnitten, so dass jede Unterbrechung einen beim Lesen erst einmal zurückwirft. Geheimnis reiht sich an Geheimnis und nur ganz langsam schält sich eine mögliche Wahrheit heraus. Die Figuren haben allesamt etwas Versehrtes, Karges an sich und obwohl viel gesprochen wird, spürt man beim Lesen auch durchweg ein ganz großes Schweigen. Die Kinder, die nicht geboren werden, der Nationalsozialismus, der über allem droht, die kleinen Ausblicke in die Jetztzeit, das viele, was nicht gelebt werden kann. Ein extrem berührender Lebensteppich. Keine Beziehung scheint einfach, Menschen müssen ihren Glauben verleugnen, ihre Gefühle, ihre Erlebnisse, werden in andere Länder verfrachtet. Vieles bleibt zunächst offen und verwirrend, wenn man das beim Lesen irgendwann einfach loslässt und mit dem Flow der bildhaften Sprache geht, ist es einfach großartig.

Über die Geschichte, über das, was in dieser Familie vorgefallen ist und sich wiederholt, über das Trauma, das weitergegeben wird von Generation zu Generation möchte ich gar nichts erzählen, das muss man unbedingt beim Lesen dieses Meisterwerks an Konstruktion selbst entdecken. Erzählen möchte ich über einen Zauberspruch, der im Buch steht: „Keine Angst vor Geistern. Sie sind nur Möglichkeiten, die wiederkommen.“ Es sind die Geister der Vergangenheit, die immer mit uns auf den Familienfotos sind – und wenn es keine guten Geister sind, dann können wir es schaffen, uns ihrem Zugriff zu entziehen. Weil die Geister aufzunehmen in uns nur EINE Möglichkeit ist. Es gibt aber auch die Möglichkeit, sich dagegen zu entscheiden. Wir können den Geistern ihre Kraft nehmen und so das Trauma durchbrechen, das immer weitergegeben wird in Familien, über viele Generationen. Wir können selbst neu anfangen in unserer Familie und frei werden. Dass das möglich ist, ist ein großes Plädoyer, das der Geschichte von Raisa, Martha, Selma und Dina zugrunde liegt.

Uff, was für ein Roman. Jetzt schon ein Jahreshighlight. Ein herausforderndes literarisches Puzzle – das mich mit seiner emotionalen Intensität und seiner besonderen Sprache und Konstruktion ganz in seinen Bann gezogen und mich sehr fasziniert hat! Unbedingte Leseempfehlung.

Bewertung vom 14.02.2025
Stuertz, Sebastian

Hausenheim Hood News und Kinderlalaland / Tür zu, es zieht! Bd.1


sehr gut

Gar nicht lalala im Kinderland

„Tür zu, es zieht! Hausenheim Hood News und Kinderlalaland“ erzählt von Sebastian Stuertz und Lukas Nimscheck, erschienen 2025 bei Oetinger, ist ein Kinderbuch für alle Fans der großartigen Band „Deine Freunde“ – und natürlich auch für Menschen, die das noch werden worden. Bunt und peppig illustriert von Renato Klieger, nehmen Deine Freunde uns mit auf eine wilde Reise über etwas mehr als 200 Seiten.

Was geht ab in Hausenheim? Romy ist auf der Suche nach einer Story für ihren Hausenheim Hood News Podcast und kommt dabei den fiesen Machenschaften von Dr. Degenhardt Dämmerich auf die Schliche, der alle Kinder für immer zum Stillsitzen verdammen will. Zeitgleich sind die Freunde Flo, Lukas und Pauli einem anderen Geheimnis auf der Spur, auf dem Dachboden des ehemaligen Schulgebäudes stoßen sie auf eine magische Tür. Was das wohl alles mit den Gerüchten zu tun hat, dass es in der Schule spukt? Was hat Dämmerich vor und wird Romy ihn zusammen mit Flo, Lukas und Pauli aufhalten können?

Natürlich geht es auch um Musik und fette Bässe, denn sonst wäre es ja kein Deine Freunde Buch! Der Erzählton ist locker und voller Wortwitz, natürlich fehlen auch jede Menge Anspielungen auf Deine Freunde Hits nicht, aber keine Sorge, auch ohne Kenntnis der Musik lässt sich das Buch verstehen. Über weite Strecken gelingt hier eine peppige Story mit Anlehnungen an die Unendliche Geschichte von Michael Ende – aber ganz 2025, hier staubt nichts. Manchmal allerdings wird es dann doch etwas überkomplex für Kinder und sind es ein paar Referenzen zu viel, denen Kids wohl nicht mehr werden folgen können. Und im hinteren Teil verliert sich die Spannung ein bisschen im Gefüge der zwei Handlungsstränge.

Über weite Strecken aber gibt es richtig viel zu lachen und jede Menge coole Identifikationsfiguren. Wer also Bock auf eine chillige Story mit ganz viel Bass hat, die:der sollte hier unbedingt mal reinsliden! Der Verlag empfiehlt das Buch für Kinder ab 7 Jahren, ich wäre eher für ab 8.

Bewertung vom 09.02.2025
Berend, Alice

Frau Hempels Tochter. Roman (eBook, ePUB)


sehr gut

Leichtfüßiges Zeitportrait

„Frau Hempels Tochter“ von Alice Berend wurde vom Reclam Verlag für die tolle Reihe DAMALS – HEUTE – MORGEN: Reclams Klassikerinnen aus der Versenkung geholt – vollkommen zu Recht. Aber zuerst ein paar kurze Worte zu dieser Reihe, mit der Reclam versucht, den vielen weiblichen Autorinnen der Literaturgeschichte mehr Sichtbarkeit zu verleihen – eine wirklich großartige Idee mit einer Vielzahl lesenswerter und liebevoll designter Bücher, denen ich nur ganz viele Käufer:innen wünschen kann. Da macht Reclam einfach ganz viel richtig!

Nun aber zu „Frau Hempels Tochter“. Das Buch hat einen festen, direkt bedruckten Einband mit einer extrem angenehmen Haptik und kommt zur Freude mit einem farblich passenden Lesebändchen. Berend erzählt die Geschichte von der Schustertochter Laura, die gemeinsam mit ihren Eltern in einem Berliner Mietshaus wohnt, in dem sich ganz unterschiedliche Menschen begegnen. Gegenüber wohnt ein Graf – der diesen Titel nur noch als Titel trägt und nicht mehr wirklich mit Geld hinterlegen kann, der aber dennoch vollkommen ausreichend als Projektionsfläche für Lauras Sehnsüchte ist. Warum es für ihr Glück ein ganzes Schwimmbad braucht und was ein Schutzmann damit zu tun hat – das müssen Lesende selbst herausfinden, aber versprochen werden kann eine äußerst vergnügliche Lesereise.

Alice Berend schreibt in einem heiteren Plauderton und greift die Atmosphäre im Berlin der Jahrhundertwende gekonnt, dicht und detailreich auf. Herrlich schildert sie das Milieu der Arbeiterklasse und Kleinbürger mit viel Komik und sehr genauer Beobachtungsgabe, ohne dass sie die Figuren vorführt. Das Besondere an ihrem Schreiben sind die tätigen Frauen. Die Männer rücken in den Hintergrund, hier bewegen und bewältigen starke Frauen den Alltag, das Leben, die Träume und die Realität. Das macht Alice Berend aus heutiger Sicht zu einer feministischen Autorin, die der Frau in ihrem sozialen Umfeld viel Handlungsspielraum einräumt und sich gegen gesellschaftliche Konvention auflehnt.

Ihr Bücher wurden im Nationalsozialismus verboten, da sie, zwar evangelisch getauft, dennoch nach den Rassegesetzen der Nationalsozialisten eine Jüdin war. Sie musste ins Exil gehen und starb dort 1938 krank und verarmt. Sich mit diesen Schicksalen auseinanderzusetzen und ihnen eine Stimme zu geben, war immer schon wichtig – aktuell wird es wieder wichtiger. Und da „Frau Hempels Tochter“ beim Lesen einfach wundervoll viel Spaß macht: Ist dieses Stück Zeitgeschichte gerne jedem ans Herz gelegt. Vielen Dank also an den Reclam-Verlag für diese tolle Lesereihe!

Bewertung vom 09.02.2025
Thomsen, Jona

Dunkle Asche (eBook, ePUB)


gut

Tiefer Schlick an der Ostsee

„Dunkle Asche“, vermutlich der Auftakt zu einer neuen Ostsee-Krimi-Serie aus der Feder von Jona Thomsen (Pseudonym), ist ein solider Ostsee-Krimi, der zwei sehr sympathische neue Ermittlerinnenfiguren auf einen Cold Case loslässt und am Ende mit einer überraschenden Wendung aufwartet.

Die beiden neu zusammengewürfelten Kriminalistinnen Gudrun Möller und Judith Engster, letztere frisch aus Rostock hinübergewechselt zur Landespolizei Schleswig-Holstein, erstere ein Gewächs der Kieler Förde, die deshalb den alten Fall selbst als Jugendliche miterlebt hat, sind Teil einer neue aufgesetzten Cold Case Unit und befassen sich mit dem Mord an Sanna Hansen, der in den 90ern geschah und zu dem es nun neue Erkenntnisse gibt. Platziert am Strandbereich Kalifornien, fängt Thomsen das Ostseekolorit und die bestehende Spaltung der Bevölkerung in die Rich Kids und die Working People, in die Unterschiede zwischen den Städten Hamburg und Kiel und den dazwischen liegenden ländlichen Regionen souverän ein. Nachdem zunächst Schwung in die Ermittlungen kommt und Gudrun und Judith über den Fall hinweg zunehmend ihr gegenseitiges Misstrauen einander gegenüber ablegen können, treten die Nachforschungen nach einiger Zeit doch zunehmend auf der Stelle. Gibt es vielleicht gar keinen Fall? Waren die Erkenntnisse der damaligen Zeit vollkommen korrekt und die ganzen Mühen sind umsonst? Doch wer einmal eine Wattwanderung gemacht hat, der weiß, wie tief der Schlick der See ist. Und so gerät gerade Gudrun, die aufgrund ihrer Vernetzung an der Förde mehr weiß und erahnt, als für sie gut ist, zunehmend in den Fokus des damaligen Täters.

Thomsen schreibt flüssig und hält über weite Strecken einen guten Spannungsbogen. Er charakterisiert das Figurenpersonal mit wenigen Strichen und vielleicht insgesamt deshalb etwas klischeehaft. Dagegen hat mir sehr gut gefallen, wie selbstverständlich er Queerness ohne weitere Bedeutung in seine Erzählung als Teil der Gesellschaft integriert. Der Fokus wechselt klug zwischen verschiedenen Verdächtigen und auch wenn ich relativ früh erahnt habe, wer der eigentliche Täter ist, war die Motivation dennoch überraschend. Allerdings liegt in der Überraschung auch ein bisschen ein Wermutstropfen begraben, denn Thomsen muss schon tief in die Zufalls- und Konstruktionskiste greifen, um aus dem geschriebenen Showdown wieder herauszukommen, für mich ein Manko dieses Krimis, der über weite Strecken sehr unaufgeregt erzählt wird, was für mich auch am Ende durchaus hätte der Stil bleiben dürfen. Sehr gelungen sind die Beziehungen im Ermittler:innenteam, die zum Glück noch nicht auserzählt sind, so dass hier noch ausreichend Potenzial für weitere Fälle besteht. Insgesamt ein solider Serienauftakt, dem ich vor allem wegen Gudrun und Judith gern gefolgt bin. Für die weiteren Fälle würde ich mir noch etwas mehr Komplexität und Feinheit in der Ausarbeitung wünschen, werde aber sich auch in Band 2 gerne hineinschauen.

Bewertung vom 06.02.2025
Müller, Lucca

Die Eigensinnige


gut

Leider falscher Fokus
„Die Eigensinnige“ von Lucca Müller, erschienen 2025 bei Bastei Lübbe, ist eine fiktionale Romanbiografie, bei der das Wort „fiktional“ nicht groß genug gedacht werden kann. Über knapp 450 Seiten verfolgt Lucca Müller das Leben und leider sehr wenig das Werk von Marie von Ebner-Eschenbach von der Jugend bis ins Alter und zeigt, streckenweise durchaus feministisch, die Schwierigkeiten einer unkonventionellen Frau in Kunst und allgemeinem Leben im 19. Jahrhundert auf.
Das Buch startet schwungvoll und mittendrin. In einem kurzen, im Theater spielenden Prolog, der weit vorgreift in der Geschichte, wird Marie auf wenigen Seiten sofort ganz klar charakterisiert und ihr ungewöhnlicher Charakter wird direkt deutlich. Wie gefesselt muss diese spannende Frau in ihrer Zeit gewesen sein! Dieser Eindruck hat sich für mich durch das ganze Buch gezogen. Was für ein unterdrücktes Frauendasein strahlt einem da aus jeder Zeile entgegen, und wie dankbar können wir allen Frauen sein, die für Emanzipation und Freiheit gekämpft haben. Unvorstellbar, so reduziert leben zu müssen.
Nach dem kurzen Prolog im Theater macht das Buch einen gut nachvollziehbaren Zeitsprung in Maries Jugend – hier helfen auch die durchweg im Buch vorhandenen zeitlichen Einordnungen am Kapitelbeginn. Lucca Müller schreibt sehr gut, es gelingt ihr, immer eine sehr klare Atmosphäre und Emotion zu schaffen, ohne dass sie dafür viele Beschreibungen der Umwelt braucht. Das Drehbuchschreiben, von dem Müller kommt, merkt man dem Roman an – im positiven Sinne, insbesondere auch in der Dialoggestaltung! Freiheit gegen Form – dieses Thema dominiert immer wieder den Roman, in dem Marie sich, immer wieder auch von Rückschlägen geprüft, zunehmend ihren Raum erobert – und den für sie richtigen Mann erobert. Dieser wirkt im Buch auf jeden Fall erstaunlich modern für seine Zeit, und er teilt mit Marie die Erfahrung, für etwas zu brennen und Pionier zu sein. Schnell kommt es aber auch zu den ersten historischen Irritationen, beispielsweise die Darstellung der verhindernden Rolle der Stiefmutter für Ebner-Eschenbachs Schaffen, historisch dagegen hat Xaverine Kolowrat-Krakowsky Marie von Ebner-Eschenbach gefördert und unterstützt.
Nicht zufällig spielt Lucca Müller mit Referenzen an Drei Haselnüsse für Aschenbrödel und Sissi-Romantik, einerseits toll, weil hier indirekt deutlich wird, wie sehr starke Frauen am Ende eben immer auch Prinzessin sein sollen, andererseits legt sie hier aber auch den Grundstein, der sich durch den Roman zieht, dass der Fokus streckenweise doch sehr auf Eheleben, Schmonzette und gesellschaftlicher Präsenz liegt, wodurch das literarische Schaffen zunehmend in den Hintergrund rückt.
Müller zeigt auf, dass die Frau in der Kunst in der Öffentlichkeit immer unter anderen Bewertungskriterien beurteilt wird als der Mann (bis heute leider). Aber selbst unterläuft ihr derselbe Fehler, indem sie nicht darauf vertraut, hier wirklich die Künstlerin in ihrem Schaffenskampf zu zeigen, sondern eher auf die populären Anteile einer Biographie mit Groschenromanvibe setzt, Begegnungen mit Kaiserin Sissi inklusive.

Mich hat das Buch auf jeden Fall neugierig gemacht, mal wieder etwas von Marie von Ebner-Eschenbach zu lesen, durch den Filter dieses einerseits sehr egozentrischen, aber andererseits doch auch feministisch starken Lebens gelesen, wird das bestimmt sehr interessant. Insgesamt empfinde ich „Die Eigensinnige“ aber als zu wenig ausbalanciert und hätte mir gewünscht, den Eigensinn mehr aus der Kunst heraus zu lesen als aus der Romanze.

Bewertung vom 04.02.2025
Hach, Lena

Tomke gräbt


ausgezeichnet

Großartig Selbstvergessen

„Tomke gräbt“, geschrieben von Lena Hach und illustriert von Julia Dürr, ist ein wundervolles Kinderbilderbuch, dass sich mit dem besonderen Fokus von Kindern und ihrer Fähigkeit, ganz im Moment zu versinken, beschäftigt.
Tomke ist im Garten zu finden, bei einer wichtigen Tätigkeit: Es wird ein Loch gegraben. Und dieses Loch wächst und wächst und wächst und nur die Erwachsenen um Tomke herum haben viele Fragen an den Prozess: Was ist das Ziel dieses unendlichen Grabens? Doch Tomke gibt keine Antwort, völlig gefangen im Jetzt des Buddelns, selbstgenügsam nur in dieser Handlung aufgehend, geht das Loch vielleicht sogar bis zum Erdkern.
Lena Hach kommt für dieses Buch mit wenigen Sätzen aus, die dennoch die Situation und die Menschen in ihr ganz genau greifen. Julia Dürr illustriert liebevoll und in einem großartigen Mix aus Tusche, Filzstift, Collagenartigem, so dass wir uns auch hier durchweg in Kinderbildern bewegen. Die Buchseiten sind fest und geschmeidig zugleich, ein richtig schönes Buch, um gemeinsam zu blättern und viele kleine Details zu entdecken.
Dieses Buch ist von vorn bis hinten gelungen und findet hoffentlich viele kleine Leser:innen und große Vorleser:innen – die dann ganz schnell raus müssen, um auch ein Loch zu graben. Einfach, weil man’s kann!

Bewertung vom 03.02.2025
Menz, Lars

Die Schanze


sehr gut

Eiskalter Thriller am Abgrund

„Die Schanze“, das Thrillerdebut von Lars Menz, ist ein packender Pageturner, in dem die Eiseskälte nicht nur im Schnee an der Sprungschanze herrscht. Ein Highlight die Buchgestaltung, ein wirklich geniales Cover, ein neongrüner Farbschnitt, glänzend schwarze Buchstaben, eine irre Perspektive, eine wirklich großartige Gestaltung auch im inneren des Buches, einfach 10 von 5 Sternen dafür.
Zur Story kann natürlich nicht zu viel verraten werden: Die Ärztin Ellen kehrt nach Studium und Arbeit im Krankenhaus in Hamburg nach einer Trennung zurück in ihre Heimat, ein 10.000-Seelen-Kaff in Süddeutschland, und übernimmt dort die örtliche Hausarztpraxis von dem Arzt, der sie selbst noch in ihrer Kindheit und Jugendzeit behandelte. Genau am Tag ihrer Rückkehr geschieht dort ein Mord – und schnell wird klar, dass Ellens Vergangenheit und der Grund für ihren Wegzug mit diesem Mord und der weiteren Handlung eng verknüpft sind. Dabei ist es schwer, Freund und Feind auseinanderzuhalten, während Ellen versucht, Fuß als Ärztin zu fassen und ihr Trauma zu bewältigen.
Menz schreibt knackig und dynamisch, die Atmosphäre eines eiskalten Winters voller Schnee in den Bergen ist so spürbar, dass ich mir beim Lesen eine Decke geholt habe. Die Charaktere werden lebendig beschrieben und das Personal ist angenehm überschaubar, so dass man lesend jederzeit mit der Handlung mithalten kann. Irgendwann sind einfach alle verdächtig und auch wenn ich die Lösung sehr früh erahnt habe, lag das eher am Verständnis für Dramaturgie als an Offenkundigkeit. Das Tempo ist hoch, die Handlung drängt sich in wenige Tage – und ich habe tatsächlich diesen 300-Seiten-Thriller in gerade mal einem verschlungen.
Ein gelungenes Debut also, bei dem ich mir nur vielleicht doch noch ein paar Irrpfade mehr und eine Triggerwarnung zum Thema Selbstverletzung gewünscht hätte, die für einige Lesende viel wert sein dürfte. Auf jeden Fall aber weist Menz deutlich Talent für dieses Genre auf und lässt hoffentlich weitere Thriller folgen.

Bewertung vom 05.01.2025
Given, Florence

Women Living Deliciously


sehr gut

Frauenpower meets Flowerpower

„Women living deliciously“, die Nachfolgerin zu „Frauen schulden dir gar nichts“, von Florence Given, erschienen 2024 bei KiWi, ist ein wundervoll empowerndes Buch, dessen großer bunter Blumenstrauß an Gedanken und Ratschlägen durchaus auch für Männer lesenswert ist, und wir wissen es ja eh: Vom Feminismus profitieren nicht nur weiblich gelesene Menschen!
Aufgemacht in besten Flowerpower-Look in knalligen Farben mit viel Pink und jeder Menge großartig ehrlicher Illustrationen von natürlich Florence Given selbst, macht dieses Buch einfach auf jeder Seite mega gute Laune und Hoffnung. Given unterteilt ihren Lebensretter in drei Abschnitte: Jäten, Pflanzen und Blühen. Es geht also ums Aufräumen, es geht ums Neue Wege Beschreiten und ums Wachsen und Ernten. Die Kapitel innerhalb der einzelnen Abschnitte sind kurz genug gehalten, um als Snack genossen zu werden, wann auch immer frau dafür Zeit findet.
Florence Given schafft es in ihrem Buch, die Wut, die viele Frauen so sehr zu Recht empfinden umzuwandeln in eine liebende und sich selbst gebende und gönnende Haltung, die das Leben umarmt. Es gibt zu viele kluge Sätze und Gedanken in diesem Werk, um sie alle aufzuzählen – aber das würde ja auch das Selbstlesen verhindern und selbst lesen: Sollte frau hier schon unbedingt! Vor allem das Kapitel „Kein Opfer“, in dem Given nachdrücklich klar macht, warum wir uns, gerne auch mit Angst, selbst durchweg an das Steuerrad unseres Lebensgefährts setzen sollten.
Einziges Manko ist die teilweise doch sehr pathetische Sprache und die Redundanz, wir folgen ein bisschen Givens Bewusstseinsstrom, was mich auf Dauer etwas ermüdet hat. Darum empfehle ich, das Buch snackend zu genießen in kleinen Happen, dann trägt die Redundanz wahrscheinlich nicht so auf. Given würde wahrscheinlich sagen „Ich bin halt viel und darf das sein!“ Recht hat sie! Ich habe viel mitgenommen auf der bunten Lesereise und fühle mich sehr gestärkt in meinen Gedanken. Das Buch bekommt auf jeden Fall seinen festen Platz in meinem feministischen Regalabschnitt.