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Monsieur
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Amorbach

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Insgesamt 49 Bewertungen
Bewertung vom 23.11.2024
Le Fanu, Sheridan

Carmilla


sehr gut

Ein Vampir als Verführungskünstlerin

Bram Stokers „Dracula“ gilt als einer der bekannteste Vampirromane der Literaturgeschichte und ist vielen Leserinnen und Lesern ein Begriff. Weniger bekannt ist hingegen „Carmilla“, das weibliche Pendant zu diesem Werk, geschrieben von Sheridan Le Fanu und bereits Jahrzehnte vor „Dracula“ veröffentlicht. Obwohl der Roman auch in Deutschland mehrfach übersetzt wurde und bei verschiedenen Verlagen erschien, blieb er lange im Schatten seines berühmten Nachfolgers. Mit der aktuellen Ausgabe des Klett-Cotta Verlags bietet sich die Gelegenheit, dieses Frühwerk der Schauerliteratur neu zu entdecken und seine literarische Qualität sowie seine Bedeutung für das Genre zu beurteilen.
Das Setting von „Carmilla“ ist wie aus dem Lehrbuch des viktorianischen Gruselromans: Laura, die junge Protagonistin, lebt mit ihrem Vater abgeschieden auf einem Schloss in den österreichischen Wäldern. Bereits diese Kulisse ruft ein Gefühl der Einsamkeit und Melancholie hervor, unterstützt durch spärliche, aber effektive Beschreibungen, die die Atmosphäre von Isolation und unterschwelliger Bedrohung intensivieren. Zwar mag das Bild des gotischen Schlosses für heutige Leser vertraut bis klischeehaft wirken, doch in der Entstehungszeit des Romans war diese Bühne sicherlich weniger ausgelaugt als heutzutage.
Diese Inszenierung des Settings, so schlicht sie auch wirken mag, entfaltet durch ihren Minimalismus eine außerordentliche Wirkkraft. Das Schloss wird zu einer Art Mikrokosmos, in dem die Grenzen zwischen Realität und Fantastik verschwimmen – ein Element, das den Grundstein für die düstere Stimmung des gesamten Romans legt.
Mit dem Eintreffen von Carmilla, dem titelgebenden Charakter, nimmt die Handlung ihren Lauf. Le Fanu gelingt es, diese rätselhafte Figur von Beginn an ambivalent zu zeichnen. Auf der einen Seite fasziniert Carmilla mit ihrer Schönheit und Höflichkeit, die besonders Laura in den Bann zieht. Auf der anderen Seite umweht sie ein Hauch von Gefahr, der dem Leser schnell klar macht, dass sie mehr ist als nur eine charmante Besucherin.
Die Darstellung von Carmilla als Vampir unterscheidet sich erheblich vom später etablierten Bild, das durch Figuren wie Dracula geprägt wurde. Sie agiert weniger als physische Bedrohung und mehr als psychologische Manipulatorin, die ihre Opfer wie eine Sirene in der Mythologie mit Charme und Verführung umgarnt. Dieses Konzept der Vampirfigur ist in „Carmilla“ durchgehend präsent und daher die hauptsächliche Triebkraft der Geschichte. Besonders in der Interaktion mit der naiven Laura entfaltet sich dieser Aspekt in einer Mischung aus psychologischem Terror und unterschwelliger Schwärmerei, die für die damalige Zeit bemerkenswert war.
Jedoch ist der Handlungsverlauf von „Carmilla“ geprägt von einer gewissen Vorhersehbarkeit. Die nächtlichen Besuche schattenhafter Gestalten und die schleichende Offenbarung von Carmillas wahrem Wesen folgen einer klaren Linie, die moderne Leser kaum überraschen dürfte. Die Dialoge sind aufs Wesentliche reduziert und wirken mitunter etwas banal. Dennoch bleibt die Geschichte aufgrund ihrer dichten Atmosphäre und ihres altertümlichen Flairs fesselnd.
Einen großen Anteil daran hat auch die Übersetzung von Eike Schönfeld. Sie bewahrt den nostalgischen Stil des Originals, ohne dabei antiquiert zu wirken. Der Text trägt moderne Züge, die einen leichten Zugang ermöglichen, wahrt jedoch gleichzeitig den historischen Charakter des Romans. Damit vermeidet Schönfeld die meinerseits oft kritisierte vollständigen Anpassung klassischer Werke an zeitgenössische Lesererwartungen, was der Authentizität zugutekommt.
Als literarischer Vorläufer von „Dracula“ zeigt „Carmilla“ interessante Ansätze, insbesondere in der psychologischen Darstellung des Vampirs und der Thematisierung weiblicher Verführungskraft. Diese Aspekte machen den Roman auch heute noch lesenswert, besonders für Liebhaber klassischer Schauerliteratur. Gleichzeitig zeigt sich dem Werk aber auch sein Alter. Der Plot ist wenig komplex, die Figurenzeichnung bleibt oberflächlich, und sprachlich wie psychologisch fehlt es an Raffinesse, die man von moderner Literatur gewohnt ist.
Dennoch: Als kurze, atmosphärische Lektüre bietet „Carmilla“ einen faszinierenden Einblick in die Ursprünge der Vampirliteratur und überrascht durch eine unerwartete zwischenmenschliche Beziehung seiner Protagonistinnen.

Bewertung vom 22.11.2024
Goby , Valentine

Über allen Bergen


sehr gut

Erst weiß, dann grün, dann gelb

Valentine Gobys Roman „Über allen Bergen“ hat mir etwas beschert, was ich in diesem Jahr selten erleben durfte: das Gefühl, einen echten literarischen Glücksgriff in den Händen zu halten. Der Fluchtroman über den jungen Juden Vadim aus Paris, der in den Bergen eine Zuflucht findet, entwickelt rasch eine eigene Dynamik und hebt sich deutlich von der Vielzahl zeitgenössischer Romane über den Zweiten Weltkrieg ab, die nur selten etwas Neues bieten.
Die Brillanz von Gobys Werk liegt in der klugen Erzählperspektive: Der Krieg bleibt ein fernes Echo, während die eigentliche Handlung sich in einer anderen Welt abspielt – einer Welt, die von Natur, Gemeinschaft und der Suche nach Identität geprägt ist. Vadim wird von seiner Mutter in die Berge geschickt, um den wachsenden Schikanen gegen Juden zu entkommen. Dort soll er als „Vincent“ ein neues Leben beginnen, in der Hoffnung, dass er fernab der Stadt sicher ist.
Anfangs schüchtern und unsicher, findet Vincent durch die Herzlichkeit seiner neuen Familie und der Dorfbewohner langsam Anschluss. Über mehrere Jahreszeiten hinweg – vom Winter bis zum Ende des Sommers – taucht der Leser in das einfache, aber muntere Leben in den Bergen ein. Vincent lernt Kühe zu melken, erlebt die Geburt von Kälbern und saugt wie ein Schwamm die Wunder der Natur auf. Besonders auffällig ist seine Sensibilität für Farben: Während der Winter für ihn in reines Weiß getaucht ist, empfindet er den Frühling als Grün und den Sommer als Gelb. Diese Farbempfindung erinnert an den von Goby erwähnten Maler Kandinsky, der in seinen Bildern unter anderem die Zugehörigkeit von Farben an bestimmte Formen nachzuweisen versuchte. Für Vincent haben ebenso auch die Naturspiele ihre ganz eigenen Farbwerte. Für den von Asthma geplagten Jungen wird die Welt abseits der Zivilisation zu einem Ort der Heilung – ein Ort, an dem die Zeit stillzustehen scheint, während er innerlich und äußerlich heranwächst. Gobys Stärke liegt in der einfühlsamen Darstellung von Vincents Reifeprozess, der sich in der Verbindung mit der Natur und der Gemeinschaft vollzieht. Doch nicht nur Vincent, auch die Menschen um ihn herum werden mit viel Wärme und Authentizität gezeichnet. Besonders glänzt der Roman jedoch durch die detailreiche Schilderung des Lebens in den Bergen. Mit einer fast dokumentarischen Präzision beschreibt Goby die bäuerlichen Arbeiten und den Alltag der Dorfbewohner, als wäre sie selbst Teil dieser Welt gewesen.
Stilistisch besticht „Über allen Bergen“ durch einen ruhigen, melodiösen Schreibstil. Die Übersetzerin Marlene Frucht hat diese Leichtigkeit auf beachtliche Weise ins Deutsche übertragen, ohne dabei die unterschwellige Poesie zu verlieren. Die Sätze fließen sanft, wie Blätter, die im Wind tanzen.
Obwohl ich Gegenwartsromane über den Zweiten Weltkrieg oft überdrüssig bin, schafft Goby es, diesem ausgeloteten Genre neue Facetten abzugewinnen. Indem sie den Krieg bewusst in den Hintergrund rückt, eröffnet sie Raum für die kleinen, alltäglichen Dinge des damaligen Lebens, die in vielen anderen Werken unbeachtet bleiben.
Ein kleiner Wermutstropfen bleibt jedoch: Mit knapp 340 Seiten wirkt der Roman stellenweise etwas zu langatmig. Für eine so leise und atmosphärische Erzählung hätte sich eine kürzere Form möglicherweise besser geeignet. Zudem bleibt der Roman, trotz seiner Feinfühligkeit, am Ende doch ein Werk seines Genres und kann sich nicht ganz mit den großen Meisterwerken der Kriegsromane messen.
„Über allen Bergen“ ist dennoch ein kleines literarisches Schmuckstück – ein Nebenwerk von unerwarteter Eleganz und Tiefe. Es erzählt eine Geschichte, die den Leser mit ihrer Wärme und Melancholie fesselt, und seine Veröffentlichung als stiller, poetischer Beitrag zum Genre ist allemal gerechtfertigt.

Bewertung vom 16.11.2024
Buchholz, Simone

Nach uns der Himmel


gut

Kurze und oberflächliche Lektüre

Ein Flugzeug kann während eines schweren Unwetters scheinbar nur knapp einem Absturz entgehen; die Passagiere, von denen die meisten auf der Reise in den Urlaub sind, kommen knapp mit dem Leben davon. Doch die darauffolgenden Urlaubstage bringen, wie der Flug als Vorbote bereits erahnen ließ, nicht die erhoffte Erholung.
Diese Ausgangslage des Romans „Nach uns der Himmel“ von Simone Buchholz hat ohne Frage Potenzial. Der Flug als traumatischer Auftakt lässt auf eine psychologisch tiefgründige Auseinandersetzung mit den Auswirkungen eines solchen Ereignisses hoffen. Doch diese Erwartung wird enttäuscht. Stattdessen bietet Buchholz ein Kaleidoskop an Figuren und Geschichten, die jeweils nur oberflächlich beleuchtet werden. Der Roman ist mit knapp 200 Seiten schlichtweg zu kurz, um gleich acht Hauptprotagonisten und ihre individuellen Konflikte überzeugend darzustellen.
Die acht Figuren befinden sich in unterschiedlichen Lebensphasen, doch wirklich glücklich ist keiner von ihnen. Der Jugendliche Vincent steht aufgrund einer schweren Krankheit am Ende seines Lebens, seine Eltern Sara und Marc stecken in einer emotional leeren Beziehung. Die Studienfreunde Annike und Benedikt versuchen, in ihrem Urlaub Entspannung zu finden, während ihr wohlhabender Freund Claudius als großzügiger, aber distanzierter Gönner auftritt. Trotz dieser vielversprechenden Ansätze bleibt der Leser unberührt: Keine der Figuren wird ausreichend ausgearbeitet, um Empathie oder Interesse zu wecken.
Die einzige nennenswerte Entwicklung durchlebt Vincent, der durch seine Begegnung mit Heidi, einer Startup-Verkäuferin, einen Hauch von Glück in seinem düsteren Leben erfährt. Doch selbst dieser Handlungsstrang wirkt eher erzwungen als berührend. Die restlichen Figuren bleiben leblos, blass und wenig liebenswert. Ihre Geschichten verlaufen in ereignislosen Bahnen, ohne Konflikte oder Überraschungen. Das Fehlen jeglicher Dramatik macht die Lektüre langatmig und monoton.
Auch stilistisch kann der Roman nicht überzeugen. Buchholz scheint bemüht, aus dem Alltäglichen Literatur zu schaffen, doch die abgehackten Sätze und die sperrige Syntax wirken eher anstrengend als kunstvoll. Es fehlt an sprachlicher Eleganz und einem Rhythmus, der den Leser mitreißen könnte. Stattdessen entsteht der Eindruck, dass die Autorin sich in banalen Beschreibungen verliert, ohne echten Gehalt zu liefern.
Zum Ende hin erinnert das Szenario stark an „Die Anomalie“ von Hervé Le Tellier aus dem Jahr 2021, doch Buchholz gelingt es nicht, diesem Vorbild etwas Eigenes oder gar Besseres entgegenzusetzen. Während Le Telliers Roman zumindest durch seine originelle Prämisse punktet, bleibt „Nach uns der Himmel“ blass und uninspiriert. Der Vergleich mit diesem Werk zeigt vielmehr die Schwächen von Buchholz’ Roman auf.
Insgesamt hinterlässt „Nach uns der Himmel“ den Eindruck eines vernachlässigbaren Randwerks. Der Roman scheitert sowohl inhaltlich als auch stilistisch und lässt den Leser ratlos zurück, was die Beweggründe für seine Veröffentlichung betrifft. Die Figuren sind weder interessant noch sympathisch, die Handlung ist belanglos, und der Schreibstil strapaziert die Geduld. Weder in der literaturkritischen Bewertung noch in der kommerziellen Hinsicht dürfte diesem Werk ein Erfolg beschieden sein – eine enttäuschende Lektüre, die man getrost überspringen kann.

Bewertung vom 11.11.2024
Nesbø, Jo

Der König


sehr gut

Eine Krone kann man nicht teilen

Zwei Brüder, die wie Könige über eine kleine norwegische Gemeinde herrschen, das lässt schon im Vorhinein ein interessantes und außergewöhnliches Thema für einen Kriminalroman erahnen. Tatsächlich geht Jo Nesbøs neuer Bestseller „Der König“ weit über die Grenzen des herkömmliches Kriminalromans hinaus. Im Vordergrund der Geschichte stehen die beiden Brüder Roy und Carl, die alles andere als typische rechtschaffene Protagonisten sind, denn ihr Verhalten und ihre Handlungen sind moralisch fragwürdig und in vielerlei Hinsicht skrupellos. Um ihre Ziele zu erreichen, scheuen sie weder vor Manipulation noch vor Mord zurück. Was ihre Taten besonders faszinierend macht, ist die allmähliche Enthüllung ihrer düsteren Vergangenheit. Nach und nach erfahren die Leser von Roys Verbrechen, die der Autor gekonnt in die Haupthandlung einflicht, wodurch ein Spannungsbogen entsteht, der weniger auf actiongeladene Szenen als auf psychologische Tiefe und die schrittweise Enthüllung familiärer Abgründe setzt.
Als Schauplatz dient die Kleinstadt Os im Norden Norwegens, dem eine bedeutende Rolle in der Geschichte zukommt. Die Gemeinde ist nicht einfach nur Kulisse, sondern ein komplexes Gebilde, dessen Bewohner eigene, tragische Geschichten und Geheimnisse verbergen. Neben Roy und Carl werden auch die Nebenfiguren detailliert und authentisch geschildert, was dem Roman eine zusätzliche Ebene der Tiefe verleiht. Die Stadtbewohner sind keine Statisten; sie haben ihre eigenen Lebensträume, Geheimnisse und Abgründe, die Jo Nesbø in zahlreichen kleinen Anekdoten und Rückblenden kunstvoll erzählt. Themen wie Korruption, Missbrauch, Familie, Sport, Achterbahnen, Wirtschaftspolitik und Liebe verweben sich dabei zu einem vielschichtigen Bild, das weniger durch klassische Spannung als durch die Stärke seiner Charakterzeichnungen und Themen überzeugt.
Interessant ist auch die dynamische Entwicklung der Brüder Roy und Carl im Laufe der Handlung. Anfangs wirken sie wie unzertrennliche Verbündete, die gemeinsam für ihre Ziele kämpfen. Doch im Verlauf der Geschichte beginnt diese Verbundenheit zu bröckeln. Die beiden Brüder entwickeln sich in unterschiedliche Richtungen, ihre Ziele und Wertvorstellungen driften auseinander, und schon bald stehen sie sich als Gegner gegenüber. Die Beziehung der Brüder ist dabei alles andere als das Klischee einer typischen Bruderbeziehung. Auf den ersten Blick scheint vor allem Carl der wahre „König“ von Os zu sein, der charismatisch und ideenreich das Leben in der Kleinstadt dominiert. Doch hinter dieser Fassade ist es vor allem Roy, der die Fäden in der Hand hält. Der stille und loyal wirkende Bruder entwickelt sich zu einem eiskalten Vollstrecker, der keine Grenzen kennt, wenn es darum geht, seine Familie und deren Geheimnisse zu schützen. Dabei wird er jedoch nicht als gefühllose Killermaschine dargestellt. Jo Nesbø gelingt es, die Leser seine Beweggründe und inneren Konflikte verstehen zu lassen, sodass Roys Handlungen im Kontext der Geschichte beinahe nachvollziehbar erscheinen. Trotz seiner Skrupellosigkeit ist er eine komplexe Figur mit einem moralischen Kompass, der zwar verbogen, aber nicht vollständig zerstört ist. Seine Loyalität gegenüber seinem Bruder und seine tiefe Verbundenheit zur Familie machen ihn zu einem faszinierenden und zugleich verstörenden Charakter, der uns als Leser zwischen Mitleid und Abscheu schwanken lässt.
Jo Nesbø inszeniert in „Der König“ ein intensives Drama um Macht und Einfluss, das sich nicht wie so oft in Großstädten oder Metropolen abspielt, sondern in einer kleinen, überschaubaren Gemeinde unter einfachen Menschen. Gerade diese bodenständige Darstellung des Kampfes um Geld und Macht verleiht der Geschichte Glaubwürdigkeit und macht sie so eindringlich. Durch das Setting im ländlichen Norwegen gelingt es Nesbø, ein authentisches und realitätsnahes Bild der Gesellschaft zu zeichnen, das dem Leser eine ungewöhnliche Perspektive auf die Mechanismen von Macht und Korruption bietet.
Insgesamt entwirft der Autor ein finsteres Gesellschaftsbild, das zwar erschreckend ist, jedoch durch seine trostlose Darstellung eine gewisse Authentizität gewinnt und die Konsequenzen einer empathielosen Welt eindringlich darstellt.
„Der König“ weist dabei auch deutliche Züge eines Gesellschaftsromans auf, in dem Nesbø tief in die Strukturen und Geheimnisse der Kleinstadt eintaucht. Trotz dieser Schwere und Tiefe kommt jedoch auch die Spannung nicht zu kurz: Liebhaber von Kriminalromanen werden trotz der unkonventionellen Erzählweise am Ende des Tages voll auf ihre Kosten kommen.

Bewertung vom 27.10.2024
Gesthuysen, Anne

Vielleicht hat das Leben Besseres vor


sehr gut

Ein Leben halt

Etwas anders als von ihr gewohnt, aber dennoch typisch für diese Autorin, legt Anne Gesthuysen mit „Vielleicht hat das Leben Besseres vor“ einmal mehr eine Art Familienroman vor, der von den Menschen einer kleinen Dorfgemeinde am Niederrhein erzählt. Dabei verwebt sie Elemente unterschiedlicher Genres miteinander, teilweise trägt die Geschichte kriminalistische Züge, dann wieder erzählt sie vom einfachen Leben normaler Menschen, und ab und zu wird es sogar ein wenig politisch und gesellschaftskritisch.
Im Fokus des Romans steht das Mädchen Raffaela, die aufgrund eines Unfalls in ihrer frühen Kindheit geistig behindert ist, und seither den Mittelpunkt des Lebens ihrer Mutter Heike bildet. Raffaela ist im ganzen Dorf bekannt, nicht verwunderlich also, dass sogleich die Gerüchteküche ins Brodeln gerät, als das Mädchen plötzlich reglos auf der Straße liegend aufgefunden wird, und monatelang nicht aus dem Koma erwacht. Da man ein Verbrechen wittert, werden schnell die ersten Schuldigen ausgemacht. Raffaelas weiteres Schicksal ist eng mit dem Alltag des gesamten Dorfes verknüpft, gleichzeitig hat jedoch auch jeder seine eigenen Probleme und Sorgen. Mit dieser Basis kreiert Gesthuysen das Porträt einer kleinen Gemeinde, in der getratscht und spekuliert, sich gegenseitig verleumdet, aber auch geholfen wird. Mitunter schleicht sich das eine oder andere Klischee über das Landleben in den Text, aber generell gelingt der Autorin eine anschauliche Beschreibung des Dorflebens zur Spargelzeit. Und durch die vielen unterschiedlichen Charaktere, allen voran Anna und Heike, die mit ihren familiären Problemen zu kämpfen haben, kann die Geschichte an der einen oder anderen Stelle sogar mit Tiefgang punkten, ohne je kitschig zu werden. Mit einem guten Gespür für die Kleinigkeiten im Leben ihrer Protagonisten gelingt der Autorin ein facettenreicher Roman, der ansonsten keine Ansprüche auf herausragende Originalität stellt. Nicht unerwähnt bleiben sollte jedoch, wie spießig dieses Buch in seiner Gesamtheit wirkt, was allerdings im Anbetracht dessen, dass das Cover und die generelle literarische Einordnung der Autorin auch nichts anderes suggerieren, nicht als Kritikpunkt verstanden werden soll; als Leser wird man genügend darauf vorbereitet, und sollte sich demzufolge auch nicht beklagen.
Ein frischer Text, trotz aktueller Themen, ist „Vielleicht hat das Leben Besseres vor“ nicht, wen das nicht stört, dem ist eine kurzweilige Unterhaltungslektüre garantiert.

Bewertung vom 18.09.2024
Powers, Richard

Das große Spiel


sehr gut

Eine kleine Insel im Pazifik

In seinem neuen Roman „Das große Spiel“ widmet sich Richard Powers wieder einmal zentralen Themen des Planeten Erde. Anstelle von Bäumen wie in „Die Wurzeln des Lebens“ steht diesmal der Ozean im Mittelpunkt, aber auch die Geschichte der Informatik, von den frühesten Anfängen bis hin zu aktuellen Trends wie Social Media und Künstlicher Intelligenz. Ein ambitioniertes Projekt, das Powers mit gleich vier wesentlichen Protagonisten zu bewältigen versucht. Diese sind in unterschiedlichen Bereichen beheimatet, zum einen gibt es da eine Künstlerin, die auf der Pazifikinsel Makatea an ihren Skulpturen arbeitet, einen vielversprechenden Informatiker, eine berühmte Taucherin, sowie ein Büchernarr. Zudem springt der Roman zwischen den Zeitlinien, denn bei der Nacherzählung des Werdegangs der Hauptfiguren wird mitunter auch die Kindheit und Jugend nicht ausgespart. Im Falle der Taucherin und Meeresforscherin Evie Beaulieu versetzt Powers den Leser sogar bis in die Fünfzigerjahre des vorangegangenen Jahrhunderts zurück, als ihr Vater den Keim für ihre außergewöhnliche Karriere säte. Im Anbetracht der Vielzahl an Figuren und Handlungssträngen ist es kaum verwunderlich, dass der Roman Schwierigkeiten hat, in die Gänge zu kommen. Die ersten knapp Siebzig Seiten lesen sich recht holprig, was auch an den kurzen Szenen liegen mag. Anfangs widmet Powers seinem Personal jeweils nur einige Seiten, es folgt Sequenz auf Sequenz; vermutlich wird damit der Zweck verfolgt, möglichst viele Figuren in kurzer Zeit einzuführen. Nachdem diese holprige Art des Einstiegs überwunden ist, und Powers den Charakteren längere Erzählstränge zubilligt, nimmt der Roman an Fahrt auf. Genaugenommen konnte mich der Autor mit der Kindheitsbeschreibung von Rafi Young zum ersten Mal tief in die Geschichte hineinsaugen. Ungefähr Zweihundert Seiten lang darf der Leser sich daraufhin auf vielschichtige Figuren freuen, die mehr und mehr ihren Platz in der Welt entdecken, und bei aller Eigensinnigkeit gewillt sind, dem Planeten ihren Stempel aufzurücken. Gerne hätte Powers es bei dieser Art der Erzählung belassen können, solange seine Charaktere den Mittelpunkt der Geschichte bilden, kann „Das große Spiel“ in vielerlei Hinsicht überzeugen. Leider jedoch genügt es dem Pulitzerpreisträger nicht, auf einer Mikroebene zu verbleiben. Vor allem im letzten Drittel übernimmt der Autor sich bei dem Versuch, aktuelle Trends und Entwicklungen der Gegenwart zu thematisieren. Zu den Themen Maschinelles Lernen, Social Media, Klimakrise und Meeresökologie kann er jedoch keinen neuen Gedanken beisteuern. Längst braucht es keinen Richard Powers mehr, um die Gefahren unkontrolliert agierender Computersysteme zu erkennen. Dennoch ist ihm ein durchaus lesenswerter Roman gelungen, der zwar kein Meisterstück in seinem Genre ist, aber solide erzählt wird.

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 10.09.2024
O'Mahony, Jacqueline

Sing, wilder Vogel, sing


gut

Auswanderungsgeschichte

In „Sing, wilder Vogel, sing“ entführt die irische Autorin Jacqueline O‘Mahony den Leser an die Westküste Irlands, wo in der Mitte des 19. Jahrhunderts eine erbarmungslose Hungersnot herrscht. In dieser schwierigen Zeit versucht die Außenseiterin Honora gemeinsam mit ihrem Ehemann zu überleben. Unlängst ist jedoch der Wunsch in ihr aufgekeimt, nach Amerika zu reisen, wo sie auf ein besseres Leben hofft. Nach einem verheerenden Schicksalsschlag in ihrer Heimat Doolough wandert Honora wenig später tatsächlich in das Land ihrer Träume aus. Im amerikanischen Westen findet die Odyssee ihres Lebens jedoch ohne Rast ihre Fortführung.
Auswanderungsgeschichten sind keine Seltenheit, auch von irischen Autoren liest man dergleichen immer wieder, die thematisch gerne den Hunger und das Elend ihrer Vorfahren literarisch aufarbeiten. Die treibende Feder von „Sing, wilder Vogel, sing“ ist vor allem seine alles in allem außergewöhnliche Hauptfigur. Die verschlossene und schweigsame Honora hat Schwierigkeiten, sich in ihrem sozialen Umfeld zu integrieren. Im Laufe der Geschichte muss sie jedoch eine Herausforderung nach der nächsten meistern, wobei sie über sich selbst hinauswächst. Wenngleich sie an sich ein interessanter Protagonist ist, hätte sie von der Autorin an der einen oder anderen Stelle besser ausgearbeitet werden können. Ihre wesentlichen Charakterzüge werden leider nur unzureichend durch die Erzählung an sich transportiert, jedenfalls hatte ich beim Lesen selten die Empfindung, dass sie sonderlich zurückhaltend oder wortkarg agiert, das geht im Grunde nur aus den Dialogen zwischen den Figuren hervor. Nichtsdestotrotz ist Honora eine äußerst sympathische Person, die man gerne durch die Geschichte begleitet. Und deutlich besser gelingt der Autorin die Chronik ihres Leidensweges, man fühlt sich als Leser mit ihr verbunden und fragt sich voller Sorge, wie es ihr wohl gelingen wird, den widrigen Umständen ihrer momentanen Lebenslage zu entkommen. Im letzten Drittel des Romans hätte jedoch auf eine zunehmend filmreife Zuspitzung der Situationen verzeichnet werden können: Schießereien, Raubüberfälle und Verfolgungsjagden, das ist nicht gerade der Stoff, aus dem gute Literatur gemacht ist, und es schadet der Geschichte, die durchaus leise, zarte und stimmungsvolle Momente zu bieten hat. Vor allem der erste Teil des Romans, mit Irland als Schauplatz, hat mehrere feinfühlige Momente zu bieten und bildet den stärksten Teil des Romans.
Interessant zu lesen ist „Sing, wilder Vogel, sing“ allemal. Ein wichtiges irisches Thema wurde von O‘ Mahony ordentlich umgesetzt, wenngleich das Buch in vielerlei Belangen Schwierigkeiten hat, sich selbst treu zu bleiben, sowohl was die Figuren, als auch die Geschichte betrifft.

Bewertung vom 29.08.2024
Nicholls, David

Zwei in einem Leben


sehr gut

Zwei auf Wanderschaft

David Nicholls ist mit seinen Romanen, auch wenn sie vorrangig das Ziel der Unterhaltung verfolgen, immer wieder eine gute Wahl, denn sein Gespür für Charaktere und Dialogwitz machten bereits Bücher wie "Zwei an einem Tag" oder "Drei auf Reisen" zu einem besonderen Leseerlebnis.
Bei Fischer Krüger erscheint nun sein neuer Roman "Zwei in einem Leben", wobei bereits beim deutschsprachigen Titel abzusehen ist, dass der Versuch unternommen wird, an frühere Erfolge anzuknüpfen. Die Konstruktion der Geschichte ist typisch für Nicholls, alles dreht sich um zwei Hauptcharaktere, eine Frau und einen Mann, Marnie und Michael. Beide befinden sich in ihren mittleren Jahren und durchleben derzeit eine Art Krise. Marnie, die als selbstständige Lektorin arbeitet, ist seit der Trennung von ihrem Ehemann vereinsamt und verbarrikadiert sich zunehmend in ihrer kleinen Wohnung, trifft kaum noch Freunde oder Bekannte, und erwischt sich hin und wieder dabei, wie sie mit ihren Einrichtungsgegenständen spricht. Ihre Lebenssituation wird wunderbar spezifisch geschildert, es werden nicht nur banale Klischees formuliert, mehr noch wird ihre Einsamkeit mit vielen zutreffenden Details ausgeschmückt.
Der zweite Protagonist Michael, ein Erdkundelehrer, lebt ebenfalls getrennt von seiner Lebensgefährtin, doch das Leben als Alleinlebender stellt für ihn eine Herausforderung dar, weil auch er von Einsamkeit und Zweifeln geplagt wird.
Bei einer gemeinsamen Gruppenwanderung treffen diese beiden Einzelgänger zufällig aufeinander. Ihr ersten Konversationsversuche sind zögerlich und unbeholfen, doch mit einer zunehmenden Zahl gewanderter Meilen beginnen sie, sich einander zu öffnen, und vertrauen sich schon bald sogar ihre Sorgen an. Je vertrauter der Umgang miteinander wird, desto stärker werden auch die Gefühle, die sie füreinander hegen. Der Aufbau des Romans lässt ihrer Beziehung viel Raum zur Entwicklung, die beiden Hauptfiguren nähern sich einander nur langsam an, und nicht zu jedem Zeitpunkt der Geschichte ist abzusehen, wer von den beiden, wenn überhaupt, sich einen weiteren Schritt voran wagen wird.
Vieles von dem, was man an David Nicholls Romanen schätzt, lässt sich in "Zwei in einem Leben" wiederfinden. Zum einen sein Händchen für die Protagonisten, immer wieder gelingt es ihm, bei der Beschreibung ihres Innenlebens den Nagel auf den Kopf zu treffen, ihre Gefühle und Gedanken werden so glaubhaft dargestellt, dass beim Lesen nahezu der Eindruck entsteht, der Autor habe reale Menschen porträtiert. Vor allem zu Beginn der Geschichte sind die Dialoge spritzig, pointiert und teilweise komisch, hier sticht Nicholls‘ Erfahrung als Drehbuchautor durch. Zudem ist er in der Lage, die Stimmungslage zu variieren, denn je näher Marnie und Michael sich kommen, desto tiefsinniger werden auch ihre Gespräche, anstatt einer Prise Humor, sind ihre Unterhaltungen dann von einer untergründiger Melancholie durchzogen, ebenso von neu erweckter Hoffnung. Nur die wenigsten von Nicholls‘ Autorenkollegen können Dialoge auf diesem Niveau schreiben, das ist zu würdigen.
An "Zwei an einem Tag" oder "Drei auf Reisen" kann Nicholls neuer Roman jedoch nicht heranreichen, das mag zum einen am Thema liegen. Die Chronik einer Wanderung bei englischem Wetter birgt zwar viel Potenzial für ruhige Momente, jedoch bietet der Wechsel zwischen englischen Ortschaften weniger Abwechslung als eine Tour quer durch Europa wie in "Drei auf Reisen". Und die Themen Alleinsein und Einsamkeit sind vom Autor an sich zwar gekonnt umgesetzt worden, jedoch fehlt vor allem in der zweiten Hälfe des Romans an einigen Stellen die Interaktion mit weiteren Figuren, weil Marnie und Michael zunehmend nur noch mit sich selbst beschäftigt sind. Womöglich hätte die Einführung eines zweiten Themengebiets die Geschichte noch etwas abwechslungsreicher gestaltet und somit für den letzten Rest Tiefgang gesorgt, den Nicholls Vorgängerromane nicht vermissen lassen. Dennoch bietet "Zwei in einem Leben" als Unterhaltungslektüre eine gelungenen Mischung aus Humor und Welterfahrenheit, nach der auf der Suche nach einer Romanze bevorzugt gegriffen werden sollte, als nach manch anderem Machwerk dieses Genres.

Bewertung vom 19.08.2024
Nelles, Irma

Die Gräfin


gut

Gräfin Diana

In ihrem Romandebüt "Die Gräfin" webt Irma Nelles eine kurze Erzählung rund um Diana von Reventlow-Criminil. Die mittlerweile achtzigjährige Gräfin lebt zurückgezogen auf der Hallig Südfall, ihrer Wahlheimat, wo sie vom Zweiten Weltkrieg weitestgehend unbehelligt bleibt. Im Sommer 1944 jedoch stürzt der englische Pilot John Philip Gunter während eines geheimen Flugauftrags ins Wattenmeer. Die Gräfin quartiert den Verletzten bei sich ein, versteckt ihn, wohl wissend, dass es ein schweres Vergehen ist, einen Feind zu beherbergen. Dank Dianas Englischkenntnissen findet sie schnell Zugang zu dem fremden Piloten, und ihre gemeinsamen Interessen verbinden sie miteinander. Jedoch sind sie unfähig, einander vollends zu vertrauen. Und auch an Dianas Hausbediensteter Meta findet der Pilot gefallen.
Wie dem Autorentext zu entnehmen ist, waren Anekdoten über die Gräfin Diana in Irma Nelles‘ Kindheit keine Seltenheit. Nun hat die Autorin ihr ihren ersten Roman gewidmet, ebenso hat sie die auftretenden Figuren nach realen Vorbildern gestaltet. Wahre Begebenheiten zu beschreiben, das scheint der Autorin zu liegen, denn vor allem in der Ausarbeitung der Protagonisten kann der Roman überzeugen. Diana als Heldin ist in vielerlei Hinsicht interessant. Auf der einen Seite sehnt sie sich nach Zurückgezogenheit, verbarrikadiert sich auf ihrer Hallig vor der Außenwelt. Sie verbringt ihre Tage lieber mit ihren Büchern, als mit ihren Mitmenschen. Gleichzeitig ist sie jedoch voller Empathie und setzt sie sich für Verfolgte ein. Trotz aller Gefahren verhilft sie Flüchtlingen nach Dänemark, um sie vor den Nazis zu retten. Ebenfalls gut gelungen sind der Autorin Dianas Bedienstete. Maschmann zum Beispiel, der im Gegensatz zu seiner Arbeitgeberin aus armseligen Verhältnissen stammt und seit seiner Jugend hart schuften musste. Erst bei ihr auf der Hallig ist er zufrieden mit seinem Leben, denn er fühlt sich wertgeschätzt und gerecht behandelt. Dass er ausschließlich plattdeutsch spricht, stellt jedoch die Nervenstärke des Lesers auf die Probe.
Während die Charaktere und ihr Beziehungsgeflecht gekonnt umgesetzt werden, lässt die Erzählweise jedoch auf eine gewisse Unerfahrenheit schließen. Vor allem zu Beginn hat die Autorin sichtlich Mühe, die Geschichte in Gang zu bringen und die Figuren in die Handlung einzuführen. Wenig galant wird die Wesensart der Figuren gleich bei ihrem ersten Auftreten umfänglich beschrieben, anstatt ihre Eigenschaften durch ihr Verhalten im Fortlauf der Handlung zu illustrieren. Zudem wirkt der Schreibstil insgesamt unausgereift. Die Autorin ist um eine präzise Sprache bemüht, allerdings fehlen dabei häufig fließende Übergänge zwischen den Sätzen, die dadurch teilweise wie lieblos aneinandergereiht wirken. Hier wird viel Potential verschenkt. Nicht auszudenken, was dieser kurze Roman leisten könnte, wenn er besser geschrieben wäre.
Hinsichtlich des Themas und der Protagonisten ist "Die Gräfin" trotzdem ein charmanter kleiner Roman. Auch die Länge ist von knapp 160 Seiten ist gut gewählt. Diese Geschichte auszudehnen hätte nur geschadet.

Bewertung vom 19.08.2024
Geiger, Arno

Reise nach Laredo


sehr gut

Ehemaliger König auf Wanderschaft

Nach langem Warten erscheint wieder einmal ein Roman des österreichischen Schriftstellers Arno Geiger, dessen Werk im Allgemeinen als vielseitig angesehen werden kann. Mit "Reise nach Laredo" veröffentlicht er jedoch seine bisher ungewöhnlichste Geschichte, die im 16. Jahrhundert spielt.
Die ersten knapp vierzig Seiten, eine Art längerer Prolog, erinnern beinahe an Bücher von Gabriel García Márquez, etwa "Der Herbst des Patriarchen" oder "Der General in seinem Labyrinth", in denen ein bejahrter Regent auf seine einstige Herrschaft zurückblickt. Geigers Protagonist Karl, ein ehemaliger Kaiser und König, hat sein Amt niedergelegt und sich in ein Kloster zurückgezogen. Alt und krank erwartet er nicht mehr viel vom Leben. Literarisch bildet dieser Einstieg in den Roman den stärksten Teil des Buches, sowohl sprachlich, als auch inhaltlich. Karl wird als ein altersschwacher Mensch dargestellt, der ohne seine einstige Macht nur noch ein Schatten seiner selbst ist, und mit seinem gebrechlichen Körper kämpft. Seit der Niederlegung der Krone unterscheidet ihn nichts mehr von anderen Männern seines Alters, mit dem Verlust der Macht sind auch seine angeborenen Privilegien entschwunden, und seine Mitmenschen verhalten sich ihm gegenüber nicht mehr mit der zeitlebens gewohnten Ehrerbietigkeit.
Eines Nachts entschließt sich Karl zur Flucht. Gemeinsam mit dem elfjährigen Jungen Geronimo begibt er sich auf eine Reise, dessen erklärtes Ziel die Stadt Laredo ist. Ähnlich wie in Stephen Kings "Der dunkle Turm" ist der eigentliche Zweck des Zielorts kaum definiert. Vielmehr geht es um die Reise an sich, und um die Abenteuer, die Karl und Geronimo währenddessen erleben. Begleitet werden sie schon recht bald von dem Wegführer Honza, sowie dessen Schwester.
Mit dem Antritt der Reise verlässt der Roman nicht nur das Kloster, sondern weitestgehend auch ein sattelfestes literarisches Gebiet. Magische Reisebeschreibungen sind vor allem in der Fantasyliteratur zu finden oder Bestandteil locker fröhlicher Roadmovies- bzw- bücher, beides Genres, die mir persönlich nicht im mindesten zusagen. Auch Arno Geiger bedient sich üblicher Komponenten dieser Genre, thematisch geht es um Freundschaft, Zusammenhalt, der Suche nach Glück, aber auch Tod und Verlust.
Wie bei nahezu allen Romanen Geigers bleibt am Ende der Lektüre die Frage offen, was der Autor dem Leser mitzuteilen versucht. Der Text ist flüssig zu lesen, phasenweise unterhaltsam, und das Zweigespann aus Karl und Geronimo kann verzaubern. Darüber hinaus ist jedoch nur wenig Mehrwert zu erkennen, vor allem in literarischer, wenn gar intellektueller Hinsicht. Als Kunstwerk ist die Geschichte durchaus vielversprechend angelegt, die Handlungswelt wirkt magisch aufgeladen, das Lesen bereitet Freude, und die einzelnen Stationen der Reise werden bildreich beschrieben; nur wirkt die Handlung dabei vor allem im Mittelteil äußerst inhaltsleer und belanglos. Das Niveau der ersten Seiten kann nicht gehalten werden und entwickelt sich zu einem Abenteuerroman für ein breites Publikum.
Weiterhin ist "Unter der Drachenwand" Arno Geigers stärkster Roman. Wie die restlichen Bücher seines Werks ist "Reise nach Laredo" zwar durchaus lesbar und vergnüglich, aber als Beitrag zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur vernachlässigbar.