Benutzer
Benutzername: 
Christina19

Bewertungen

Insgesamt 86 Bewertungen
Bewertung vom 23.08.2024
Auh, Dayeon

Ein Berg, ein Sturz, ein langes Leben


ausgezeichnet

Eine Parabel voller Optimismus und mit kunstvollen Illustrationen

Eines Tages begab sich der Großvater auf den Weg zum Markt. Er musste dazu einen nahegelegenen Berg besteigen, dem man Unheilvolles nachsagte: Wer hier stürzt, so hieß es, habe nur noch drei Jahre zu leben. Es kam, wie es kommen musste, der Großvater stolperte und fiel. Sorgenvoll blickte er in die Zukunft, bis seine Enkelin einen klugen Gedanken hatte…

„Ein Berg, ein Sturz, ein langes Leben“ ist das Bilderbuch-Debüt der Illustratorin Dayeon Auh. Die Geschichte beruht auf einem koreanischen Volksmärchen. Dadurch ermöglicht sie einen kleinen Einblick in eine fremde Kultur, was ich sehr aufschlussreich und inspirierend finde.
Die Handlung ist mit wenigen Sätzen eher knapp gehalten, muss für mein Empfinden aber auch gar nicht ausführlicher beschrieben werden. Von den Ereignissen rund um den sogenannten „Samnyeongogae“, dem „Berg des Grauens“, erzählt uns die Autorin auf eine sanfte Art und Weise. Gerade diese ruhigen, leisen Töne, die in der Geschichte anklingen, mag ich sehr gerne.
Im Kontrast zur Erzählweise stehen die kraftvollen Illustrationen. Sie sind durchweg seitenfüllend sowie farbintensiv gestaltet, wodurch sie ausdrucksstark daherkommen. Dayeon Auh bedient sich bei der Gestaltung ihres Buches unterschiedlicher Techniken: Sie malt und zeichnet, sie schneidet und klebt. Ihre Bilder zeugen von der besonderen Fantasie der Illustratorin, die beispielsweise Pflanzen und Tiere ganz außergewöhnlich darstellt. All diese Merkmale – von Farb- und Formgebung bis hin zu den angewandten Techniken – verleihen Dayeon Auhs Bildern einen einzigartigen, kunstvollen Stil, der, wie ich finde, gut zum Inhalt passt.
Im Gegensatz zu den deutschen Volksmärchen, die oft Gut und Böse gegenüberstellen, teils gewalttätige Inhalte haben und damit Angst verbreiten, spendet „Ein Berg, ein Sturz, ein langes Leben“ Hoffnung: Die Parabel veranschaulicht nämlich, welch weitreichende Auswirkungen es haben kann, Gegebenheiten aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Dayeon Auh zeigt uns damit die Kraft unserer Gedanken auf – im negativen, vor allem aber im positiven Sinne. Sie lässt Erleichterung, Frohsinn und Optimismus einziehen, die sich auf den Leser übertragen und auch lange nach dem Lesen des Buches erhalten bleiben.
„Ein Berg, ein Sturz, ein langes Leben“ ist ein wertvolles Bilderbuch für Optimisten und Menschen, die es werden wollen!

Bewertung vom 13.08.2024
Hennig von Lange, Alexa

Vielleicht können wir glücklich sein


ausgezeichnet

Schicksale in der 1940er Jahren – ein Werk gegen das Vergessen

Isabell findet im Nachlass ihrer Großmutter Klara über 130 Tonbandaufnahmen. Darin erzählt diese über ihr Leben in der Kaiserzeit, der Zeit des Nationalsozialismus und im geteilten Deutschland.
In „Vielleicht können wir glücklich sein“ begleiten wir Klara im letzten Jahr des Zweiten Weltkrieges. Ihre Stelle als Leiterin des Frauenbildungsheims hat sie aufgegeben, um sich um ihre vier Kinder kümmern zu können. Klaras Mann Gustav, der sich früher als Lehrer verdingte, wurde schon vor Langem eingezogen und kämpft nun mit seiner Einheit in Schlesien. In ständiger Anspannung wegen der zunehmenden feindlichen Angriffe versucht Klara ihren Alltag zu bewältigen. Zu ihrer Sorge um die Kinder und ihren Mann an der Front mischt sich auch die Angst um Tolla, ihre jüdische Ziehtochter, die nach Theresienstadt deportiert wurde…

Im dritten Band ihrer Heimkehr-Trilogie fängt Alexa Hennig von Lange den Alltag in den Kriegswirren 1944/45 ein. Damit schließt der Roman beinahe lückenlos an den zweiten Teil „Zwischen den Sommern“ an. In ihrer Reihe hat die Autorin mit Klara eine Figur geschaffen, die durch ihre eigene Familiengeschichte inspiriert ist. Entsprechend wirklichkeitsnah schildert sie auch im letzten Band wieder die Ereignisse in Sandersleben. Alexa Hennig von Langes Erzählstil ist dabei sehr lebendig, sodass man durchweg mit der Protagonistin fühlt: Für Klara ist es eine belastende Situation, wochenlang auf ein Lebenszeichen von ihrem Mann und ihrer Ziehtochter zu warten, die Verantwortung für ihre Kinder zumeist alleine tragen zu müssen, immer wiederkehrend Nachrichten vom Tod alter Bekannter zu erhalten und nicht zu wissen, was die Zukunft bringt.
Die Hauptfigur steht hier stellvertretend für Millionen von Schicksalen im zweiten Weltkrieg. So kann der Roman als Dokumentation der traumatischen Erlebnisse gesehen werden, die die Menschen damals durchstehen mussten. Wir erfahren, was es bedeutet, wenn ein Volk unter Lebensmittelknappheit leidet, Medikamente nur noch eingeschränkt verfügbar sind, wenn die Sirenen erklingen und die nächsten Angriffe ankündigen. Wir spüren – teils unmissverständlich beschrieben, teils zwischen den Zeilen –, wie schon Kinder in ihren jungen Jahren unter dem Krieg litten und sich Paare ein Stück weit entfremdeten. Kurzum: Wir können verstehen und nachempfinden, wie sehr der Krieg das Familienleben beeinflusste und die Menschen ein Leben lang prägte.
Trotz aller Widrigkeiten ist während des gesamten Romans die Liebe zu spüren, die Klara für ihre Familie in sich trägt. Und so keimt zwischen den Schrecken des Krieges vereinzelt auch Hoffnung auf: „Vielleicht können wir glücklich sein“.
Alexa Hennig von Langes Roman(-reihe) ist ein ergreifendes Werk gegen das Vergessen und daher eine unbedingte Empfehlung!

Bewertung vom 04.08.2024
Bidian, Maria

Das Pfauengemälde


weniger gut

Ein Exkurs in Rumäniens politische Vergangenheit

Nachdem ihr rumänischstämmiger Vater Nicu verstorben ist, durchlebt Ana ihren Alltag in stetiger Trauer. Zwei Jahre nach seinem Tod erhält sie unerwartet Post aus dem Heimatland ihrer Vorfahren. Die Familie, die einst von den Kommunisten enteignet wurde, soll endlich ihr Haus zurückerhalten. Ana hofft, im Zuge dessen auch das Pfauengemälde zurückzubekommen, von dem Nicu so oft gesprochen hat. Sie reist daraufhin nach Rumänien, wo sie viel über ihren Vater, dessen Familie und ihre eigene Herkunft erfährt – und wo sie nach Monaten der Trauer endlich Ruhe und Frieden finden möchte.

Bereits vor einigen Wochen habe ich „Das Pfauengemälde“ bis zur Hälfte gelesen. Ich hatte jedoch Schwierigkeiten, in die Geschichte zu kommen und mir die Vielzahl an Figuren zu merken, weshalb ich das Buch zunächst abgebrochen hatte. Vor ein paar Tagen habe ich es nun noch einmal von vorne zu lesen begonnen, wobei ich im zweiten Anlauf etwas leichter in das Erzählte gefunden habe. Dennoch verlief der Roman ganz anders, als ich das nach dem Klappentext erwartet hatte: In Rückblenden erfährt man viel über Anas Familiengeschichte, die eng mit den politischen Geschehnissen in Rumänien verknüpft ist. Zugleich lernt man damit auch die jüngere Vergangenheit des Landes am Schwarzen Meer kennen, die geprägt ist vom Sozialismus und Kommunismus. Es geht hierbei um Ikonen des Landes, um Unruhen und blutig niedergeschlagene Aufstände. Im Fokus stehen vor allem diejenigen Menschen, die dem Regime im Kampf für die Freiheit Widerstand leisteten und dabei teils ihr Leben ließen. Der Einsatz der Bürger für ihre Freiheit und für ihr Heimatland ist beeindruckend. Trotzdem waren mir die politisch geprägten Passagen der Geschichte zeitweise zu viel. Zudem empfand ich manche Figuren als recht eindimensional dargestellt sowie Begegnungen zu konstruiert. Da ich mich außerdem bis zuletzt nicht mit der Erzählweise anfreunden konnte, kann ich dieses Buch nur bedingt empfehlen.

Bewertung vom 30.07.2024
Thomas, Ruth-Maria

Die schönste Version


ausgezeichnet

Wie wichtig es für Frauen ist, Grenzen zu setzen (und zu wahren!)

In Yannick glaubte Jella, den perfekten Partner gefunden zu haben: Er war gutaussehend, gebildet und sorgte sich rührend um seinen pflegebedürftigen Großvater. Die Beziehung der beiden begann zunächst romantisch, doch schon bald steht Jella nicht nur vor den Scherben ihrer einst großen Liebe, sondern findet sich auch auf dem Polizeirevier wieder...

In „Die schönste Version“ erzählt Ruth-Maria Thomas die Geschichte einer Liebe, die aus den Fugen gerät. Wir lernen Jella kennen, die ihre Kindheit und Jugend in einer ostdeutschen Kleinstadt verbringt. In der Pubertät verliebt sie sich zum ersten Mal und beginnt, sich hübsch zu machen, um ihrem jeweiligen Schwarm zu gefallen. Jella hat erste Dates und sammelt Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht. Dabei lernt sie, was sie tun muss, um bei den jungen Männern gut anzukommen. Thomas zeigt hier deutlich auf, wie häufig die Protagonistin ihre eigenen Grenzen missachtet. Sie schreibt aber auch davon, wie Jellas Befinden in unserer vom Patriarchat geprägten Welt teils von ihren Verehrern ignoriert wird – eine Übergriffigkeit, die nicht nur sprachlos macht, sondern ein Gefühl der Ohnmacht hervorruft. Später lernt Jella Yannick kennen. Die Beziehung der beiden ist intensiv, beinah turbulent. Umso mehr es auf und ab geht, desto gefährlicher wird das Verhältnis zwischen den zweien. Wieder werden Grenzen überschritten, bis Jella die Reißleine zieht.
Ruth-Maria Thomas regt mit ihrem Debütroman dazu an, über ebensolche Grenzen nachzudenken: Wo verlaufen diese und was geschieht, wenn sie überschritten werden? Sie thematisiert Schuld und Unschuld, wobei ihre Geschichte keine platte Schwarz-Weiß-Malerei darstellt. Mit den facettenreichen Charakteren kommen auch alle Grauschattierungen zur Sprache. In Jella zeigt die Autorin mögliche Folgen von psychischer und physischer Gewalt auf: Nach dem Schock über das, was ihr widerfahren ist, stellt sich zunächst eine gewisse Ohnmacht ein. Jella wird von Übelkeit und Erbrechen heimgesucht und entwickelt Panikattacken. Erst sehr spät ergreift sie die Initiative und befreit sich aus der toxischen Beziehung. Thomas‘ Buch kann daher als Appell verstanden werden
- sein wahres Ich nicht zu verstecken, um anderen Menschen zu gefallen
- auf das eigene Bauchgefühl zu hören sowie Grenzen abzustecken und zu wahren
- für sich und seine Bedürfnisse einzustehen.

Bewertung vom 22.07.2024
Schönegge, Mira

Komm, wir trösten den kleinen Stern


sehr gut

Ein bezauberndes Kinderbuch mit atmosphärischem Setting

Mit ihrem Hängebauchschwein Rolf lebt Schnipsel auf der Vulkaninsel Ometepe. Gemeinsam schauen die beiden eines Abends in den Himmel. Sie entdecken dort den Stern Ninjesi, der ganz betrübt dreinschaut. Ninjesi erzählt ihnen, wie einsam er sich fühlt und dass ihm eine Umarmung guttäte. Mit Hilfe des Mondes machen sich Schnipsel und Rolf auf den Weg in den Himmel und versuchen, Ninjesis Wunsch zu erfüllen.

„Komm, wir trösten den kleinen Stern“ lädt Kinder ab 3 Jahren auf eine fantasievolle Reise ein. Mit einer Geschichte in Reimform entführt Mira Schönegge ihre Leser zunächst nach Ometepe. Sie erzählt davon, wie die Insel einst aus zwei Vulkanen entstand und später von Schnipsel, ihrer Mutter und dem Hängebauchschwein Rolf bezogen wurde. Ich bin ein großer Fan des Settings und der Art, wie die Autorin diese Welt in ihren Illustrationen festhält. Die Bilder sind großflächig gestaltet, strahlen etwas Exotisches aus und sind ganz besonders stimmungsvoll. Wir sehen ein farbenfrohes Häuschen, Palmen und Kakteen, Ylang-Ylang sowie Schnipsel, die mich mit ihren buschigen Augenbrauen ein wenig an Frida Kahlo erinnert. Die Illustrationen sind sehr detailreich, sodass es auf jeder Seite viel zu entdecken gibt.
Als Ninjesi in Erscheinung tritt und um eine Umarmung bittet, treten wir gemeinsam ein Abenteuer zu dem kleinen Stern an. Gut gefällt mir, dass der Mond seine Unterstützung anbietet und Schnipsel und Rolf in den Himmel transportiert.
Mit ihrer Geschichte greift Mira Schönegge eine Vielzahl an Themen auf: Sie zeigt mit Schnipsel, was Diversität bedeutet, gibt den beiden Hauptfiguren eine große Portion Mitgefühl und Mut und schenkt Ninjesi Hoffnung. Vor allem aber weist sie auf den besonderen Wert einer Freundschaft hin.
Ein wirklich schönes und empfehlenswertes Kinderbuch!

Bewertung vom 18.07.2024
Pellini, Petra

Der Bademeister ohne Himmel


ausgezeichnet

Eine alltagsnahe Geschichte über die feinen Beziehungen zwischen Menschen

Am liebsten würde sie vor ein Auto laufen. Obwohl Linda gerade erst 15 Jahre alt ist, möchte sie nicht mehr leben. Einzige Lichtblicke in ihrem Alltag sind die gemeinsamen Zeiten mit Hubert und Kevin. Hubert ist 86 und an Demenz erkrankt. Drei Mal pro Woche besucht Linda ihn, um seine polnische Pflegerin zu entlasten und ihr Taschengeld aufzubessern. Kevin ist Lindas einziger Freund. So intelligent er ist, so eigenwillig kann er mitunter sein. Als eines Tages das Schicksal zuschlägt, beginnt Linda ihre Pläne zu überdenken…

Petra Pellini hat mit „Der Bademeister ohne Himmel“ eine berührende Geschichte über die feinen Beziehungen zwischen Menschen geschaffen. In eingängigem und teils humorvollem Schreibstil erzählt sie von Linda und deren Alltag. Neben der Schule verbringt die Protagonistin den Großteil ihrer Zeit bei Hubert. Die Autorin versteht es, dessen Lebensabend einschließlich seiner Demenzerkrankung alltagsnah zu beschreiben. Mit Ewa stellt sie ihm eine Figur an die Seite, die Huberts häusliche Pflege tatkräftig übernimmt und zeitgleich so großherzig und gutmütig ist, dass man sie selbst gerne zur Freundin hätte. Außerdem gibt es da noch den „Nachtfalter“, wie Linda sie nennt. Gemeint ist Huberts Tochter, die zwar dessen tägliche Versorgung organisiert hat, sich selbst jedoch wenig in das Wohlergehen ihres Vaters einbringt. Eine große Rolle in Lindas Leben spielen weiterhin ihre Mutter, die nach der Trennung von dem gewalttätigen Vater alleinerziehend ist, sowie Kevin und dessen Mutter Sara.
Die Charaktere in diesem Roman sind allesamt höchst unterschiedlich und könnten doch kaum lebensechter gezeichnet sein. Ganz zart sind ihre Leben miteinander versponnen. Dabei blitzt an etlichen Stellen des Buches auf, wie wichtig sie füreinander sind: „Wir gleichzeitig Lebenden sind füreinander von geheimnisvoller Bedeutung.“, heißt es an mehreren Stellen. Petra Pellini weist hier insbesondere darauf hin, welchen Wert unterschiedliche Generationen füreinander haben. Junge Menschen brauchen die Älteren und umgekehrt. Mit ihrer Geschichte macht sie uns zudem die Endlichkeit des Lebens bewusst und sorgt damit dafür, das eigene Leben und die Gesellschaft seiner Mitmenschen wieder mehr wertzuschätzen.
Ich habe dieses Buch sehr gerne gelesen und kann es nur empfehlen!

Bewertung vom 23.06.2024
Phillips, Julia

Cascadia


gut

Die sich wandelnde Beziehung von Geschwistern

Sam und Elena sind auf der Insel San Juan im Nordwesten der USA in einfachen Verhältnissen aufgewachsen. Zusammen mit ihrer schwerkranken Mutter wohnen sie noch heute in dem kleinen, sanierungsbedürftigen Haus, das einst ihre Großmutter gekauft hatte. Obwohl beide arbeiten gehen, haben sie in den vergangenen Jahren immer größere Schulden für die Arztbesuche und Medikamente ihrer Mutter angehäuft. Die Schwestern träumen von einer besseren Zukunft und so entsteht der Plan, nach dem Tod der Mutter das Haus zu verkaufen und anderswo neu anzufangen. Als eines Tages ein Bär die Insel betritt, ändert sich Sams und Elenas Leben jedoch drastisch...

Julia Phillips erzählt in „Cascadia“ von dem Band zwischen Geschwistern. Dazu erschafft sie mit Sam und Elena zwei Figuren, die sich zunächst recht ähnlich scheinen, im Laufe der Geschichte jedoch kaum gegensätzlicher handeln könnten. Dem Schreibstil der Autorin lässt sich gut folgen, dennoch hatte ich Schwierigkeiten, die Gedanken und das Verhalten insbesondere von Elena gegenüber dem Bären nachzuvollziehen. Hier war die Figur für mich einfach zu realitätsfern gezeichnet, sodass sie mir immer ein wenig fremd blieb. Gleiches gilt für die eine oder andere Textstelle zu Sam, die im Laufe ihres Lebens einige Eigenheiten entwickelt hat. Für den Verlauf der Handlung war das Verhalten der beiden Protagonistinnen jedoch essenziell: Anfangs wirken die Schwestern unzertrennlich. Sie teilen innige Erinnerungen an ihre gemeinsamen Erlebnisse in Kindertagen. Sam und Elena verstehen sich augenscheinlich gut, halten in schweren Zeiten zusammen und ziehen an einem Strang. Erst der Bär offenbart Differenzen zwischen den Schwestern. Es wird deutlich, dass vor allem Elena mit zunehmendem Alter begonnen hat, ein eigenständiges Leben zu führen und sich von Sam abzugrenzen, während diese sich wiederum an die Vergangenheit klammert.
Julia Phillips macht mit ihrem Buch darauf aufmerksam, wie stark sich die Beziehung zwischen Geschwistern mit dem Erwachsenwerden wandeln kann. Während in der Kindheit gemeinsame Erlebnisse und womöglich auch ähnliche Interessen zusammenschweißen, emanzipieren sich Brüder und Schwestern später und verfolgen ihren individuellen Lebensweg.

Bewertung vom 20.06.2024
Große Holtforth, Isabel

Das dicke Quatsch-Rätselbuch


ausgezeichnet

Fähigkeiten für den Schulanfang spielerisch trainieren

Auf über 100 Seiten vereint „Das dicke Quatsch-Rätselbuch“ insgesamt 150 Rätsel (und die dazugehörigen Lösungen). Diese sind hinsichtlich der Aufgaben und Themengebiete sehr vielfältig, was mir ausgesprochen gut gefällt. So geht es beispielsweise um Tiere und Pflanzen, Spielzeuge, Haushaltsgegenstände, Alltagssituationen und vieles Weitere. Kinder sind dazu aufgefordert, Fehler in Bildern zu suchen, Unterschiede zu finden, Zeichnungen zu ergänzen, Dinge zu zählen oder nach vorgegebenen Kriterien miteinander zu verbinden, Reimwörter zu erkennen… Der Schwierigkeitsgrad ist dabei so gestaltet, dass sich das Buch für Kinder ab 4 Jahren eignet. Ich denke, die ideale Zielgruppe sind Vorschulkinder und Grundschüler der 1. und 2. Klasse, denn mit den Rätseln lassen sich Fähigkeiten entwickeln bzw. festigen, die für den Schulanfang relevant sind. Hierzu zählen u. a. die Wahrnehmung, die ebenso wie die Feinmotorik trainiert wird. Kinder absolvieren erste Schwungübungen, üben außerdem das Zählen, die Orientierung mit rechts und links und können phonologische Bewusstheit erlangen – Fähigkeiten also, die beim Schriftspracherwerb und dem Rechnenlernen essenziell sind. All das geschieht auf spielerische Art und Weise, sodass Kinder eine Menge Spaß beim Lernen haben können. Die farbenfrohe Gestaltung der einzelnen Seiten tut hier ihr Übriges und ist in meinen Augen absolut zielgruppengerecht.
Die Besonderheit dieses Rätselbuches liegt für mich in dem damit verbundenen breit gefächerten Lerneffekt, der das Buch damit zu einem tollen Geschenk für Kinder macht.

Bewertung vom 08.06.2024
Zamora, Javier

Solito


ausgezeichnet

Eine Geschichte, die alles ist: mitreißend, bewegend, überwältigend, traumatisierend

Javier wünscht sich nichts mehr als endlich wieder mit seinen Eltern vereint zu sein. Diese waren in seiner frühen Kindheit aus El Salvador nach La USA geflohen, sodass der Junge seither bei seiner Tante und seinen Großeltern in einfachen Verhältnissen aufwächst. Javier träumt oft davon, wie es wohl wäre, seine Mutter umarmen zu können, seinen Vater zu sehen, bei großen Fastfoodketten zu essen und die Schule der Gringos zu besuchen.
Als er neun Jahre alt ist, nimmt ihn Kojote, der als Schlepper schon vielen Menschen in die USA verholfen hat, mit auf die lange Reise. Vor dem Jungen liegen Wochen voller Strapazen, ungeahnten Herausforderungen und Gefahren. Begleitet wird er von Fremden, die für ihn zur Familie werden – und mit ihm ist immer auch die Ungewissheit, ob er es bis in das Land seiner Hoffnung schaffen wird, ohne von La Migra entdeckt zu werden.

In „Solito“ erzählt Javier Zamora die wahre Geschichte seiner Flucht in die USA. Obwohl er diese erst viele Jahre später als Erwachsener zu Papier gebracht hat, schafft er es die Reise so zu erzählen, als hätte er sie erst gestern erlebt. Seine detailreichen Beobachtungen, Gedanken und Empfindungen sind die eines Neunjährigen, was der Autor mit seiner Erzählweise gut vermittelt. In seine Geschichte fließen insbesondere in der wörtlichen Rede immer wieder spanische Wörter und Sätze ein. Das macht das Erzählte noch authentischer, sorgt allerdings auch dafür, dass der Lesefluss gestört wird, da man immer wieder für die Übersetzung ins Glossar blättern muss.
Zamora lässt uns an allen Einzelheiten seiner Flucht teilhaben (wer vorab keine groben Informationen zum Inhalt wissen möchte, sollte ab hier nicht mehr weiterlesen!). Der Autor nimmt uns mit bei seinem schweren Abschied von seiner Familie in El Salvador und bei langen Busfahrten durch Guatemala. Er erzählt davon, was es wirklich heißt, 18 Stunden lang in einem kleinen und überfüllten Boot auf dem offenen Meer vor Mexiko zu treiben. Er berichtet von der Isolation, wenn er eine Unterkunft tagelang nicht verlassen durfte, von unbequemen Nächten in zu engen Betten und von seiner Wanderung quer durch die Sonora-Wüste. Er schreibt von dem Durst, der ihn plagte, von den Schmerzen in seinen Beinen, der Angst vor der Polizei und der Einwanderungsbehörde, der Sehnsucht nach seinen Eltern und dem Druck, stark sein zu müssen.
Mit Javier Zamora wird die Flucht so lebendig als wäre man selbst dabei gewesen. Seine Geschichte lässt sich daher kaum mit einem Wort beschreiben. „Solito“ ist mitreißend, herzergreifend und traurig, überwältigend und traumatisierend. In jedem Fall ist sie aber eines: eine unbedingte Leseempfehlung!

Bewertung vom 27.05.2024
Brooks, Sarah

Handbuch für den vorsichtigen Reisenden durch das Ödland


gut

Ein unerwartetes Spiel mit den Genres

Als die Transsibirische Eisenbahn nach einer längeren Pause im Jahr 1899 wieder zur Durchquerung des Ödlands aufbricht, ahnen die Passagiere noch nicht, welch außergewöhnliche Reise vor ihnen liegt. Unter ihnen sind Maria, die nicht die ist, die sie vorgibt zu sein, Dr. Grey, der als Wissenschaftler die Besonderheiten des Ödlands erforscht und dafür jegliche Gefahren in Kauf nimmt, sowie Weiwei, die im Zug geboren wurde und ihn seither ihr Zuhause nennt. Alle Passagiere treten die Fahrt aus unterschiedlichen Gründen an, werden den Zug jedoch nicht so verlassen, wie sie sich das vorgestellt haben…

Nachdem ich den Klappentext, der vom Verlag veröffentlicht wurde, gelesen hatte, konnte ich nicht so recht erkennen, in welche Richtung sich dieser Roman entwickeln wird. Auch während des Lesens habe ich mich stetig gefragt, wohin uns die Autorin mit ihrer Geschichte führt. Vor allem in der ersten Hälfte des Buches werden viele Dinge nur angedeutet, sodass manche Zusammenhänge lange im Argen bleiben. Das wiederum sorgte aber dafür, dass meine Neugier und Spannung auf einem hohen Niveau gehalten wurden und ich immer weitergelesen habe. Ab der Mitte der Geschichte verdichtet sich das Erzählte und nimmt zunehmend an Tempo auf, sodass es bis zum Schluss fesselt.
Inhaltlich war mir vorab nicht klar, worauf ich mich einlasse. Handelt es sich um einen Fantasyroman oder doch eher einen historisch angelegten Krimi? Die Autorin spielt während der gesamten Geschichte geschickt mit den Genres, sodass ich das Buch auch nach dem Lesen nicht eindeutig zuordnen kann. Das „Handbuch für den vorsichtigen Reisenden durch das Ödland“ spielt in der Vergangenheit, enthält unwirkliche und magische Elemente, die jedoch als überzeichnete Symbole gedeutet werden könnten, sodass der Roman für mich fast ein wenig den Charakter einer Parabel erhält.
Während des gesamten Romans, dessen Genre mich so sehr in die Irre geführt hat, habe ich nach dem tieferen Sinn der Geschichte gesucht. Mit ein wenig Abstand kann ich nun sagen, dass ich diese für ein Zusammenspiel halte aus Kritik an der Gesellschaft, der Industrialisierung und Kommerzialisierung, mächtigen Konzernen sowie als Mahnung hinsichtlich der mit alldem zusammenhängenden Umweltzerstörung. Das „Handbuch für den vorsichtigen Reisenden durch das Ödland“ kann als Aufbruch in ein neues Zeitalter verstanden werden, in dem die Welt nicht mehr durch einen skrupellosen Machtapparat und dessen finanzielle Interessen bestimmt wird, sondern in dem man in Einklang mit der Natur lebt und diese schützt.