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lillywunder

Bewertungen

Insgesamt 44 Bewertungen
Bewertung vom 16.01.2022
Everett, Percival

Erschütterung


sehr gut

Ein Buch, das ich an einem einzigen Tag komplett verschlungen habe. Percival Everett schreibt so lebhaft, so aufregend, dass es mir fast nicht möglich war, dieses Buch aus der Hand zu legen.

Dabei ist das Leben des Erzählers, des Paläontologen Zach Wells, bis jetzt in ruhigen Bahnen verlaufen. Er hat einen guten Job, eine tolle Frau, eine bezaubernde Tochter, ein geregeltes Leben. Glücklich macht ihn all das nicht gerade, aber doch hinreichend zufrieden und so hält er sich fern von den großen Idealen und arrangiert sich stattdessen mit einer gleichmütigen Mittelmäßigkeit der Gefühle. Bis zu der Erschütterung, die sein Leben unvermittelt und mit Wucht trifft und bis in die Grundfesten erbeben lässt. Die Diagnose seiner Tochter, die ihn aus der Bahn wirft, ihn aufweckt, alles in Frage stellt.

Erschütterung ist ein Roman über den Umgang mit Schmerz, Verlust und Trauer. Und doch ist er kein bisschen rührselig, ist nicht auf die Tränen der Lesenden aus, sondern zeichnet mit viel Feingefühl die Beben nach, die durch diese Erschütterung ausgelöst werden und die nicht nur für Zach, sondern auch für die Menschen um ihn herum konkrete Auswirkungen haben. Wie bei einem Stein, den man ins ruhige Wasser wirft, und der ringsherum Wellen schlägt, sehen wir sein Leben um ihn herum in Bewegung geraten. Verschiedene Handlungsstränge werden dabei von Percival Everett geschickt verknüpft: als Zach einen mysteriösen Hilferuf in seiner Second-Hand-Jacke findet, kämpft er auf einmal an verschiedenen Fronten, kämpft vielleicht zum ersten Mal überhaupt mit voller Hingabe. Ein nachdenkliches, ein mitreißendes Buch, das mir sowohl für's Herz als auch für den Kopf einiges zu bieten hatte.

Bewertung vom 15.11.2021
Alcott, Louisa May

Little Women. Beth und ihre Schwestern


ausgezeichnet

Wer noch einen gemütlichen Schmöker für lange Abende sucht, etwas herzerwärmendes für die kalte Jahreszeit - dieses Buch bringt euch durch den Winter!

Louisa May Alcotts Klassiker aus dem Jahr 1868 erzählt die Geschichte der vier Schwestern Meg, Jo, Beth und Amy March, die im Nordamerika des 19. Jahrhunderts aufwachsen. Während ihr Vater im Bürgerkrieg kämpft und ihre Mutter allein für die Familie sorgt, werden aus den jungen Mädchen langsam junge Damen. Viele kleine Episoden erzählen von Kindheitsstreichen, Weihnachtsfeierlichkeiten, Romanzen, Luftschlössern, Geheimnissen und Sorgen der vier Schwestern und ihrem frechen Nachbarsjungen Laurie.

Alcott nimmt sich Zeit für ihre "Little Women", vergibt reichlich Temperament, Güte, Stolz, Sturheit, Eleganz, Begabung und Ehrgeiz an ihre vier Heldinnen und lässt sie damit ausgestattet ihren jeweils eigenen Weg in der Welt finden. So lernen wir vier ganz unterschiedliche Charaktere kennen, die ihre eigenen Wünsche ans Leben haben und doch alle ein gemeinsames Ziel verfolgen, nämlich gute Menschen zu werden - oder besser (so der Titel des zweiten Buchteils): "Good Wives". Beim heutigen Lesen spürt man dann auch ganz deutlich, wie die Mädchen bei aller Individualität zuallererst in eine dicke Schicht Zeitgeist gehüllt sind, wenn sie sich gemeinsam darum bemühen, brav, gehorsam und bescheiden zu sein und fast jedes Kapitel mit einer klar moralisierenden Botschaft endet. Dass Alcotts Roman dennoch als Buch mit feministischen Charakter gehandelt wird, liegt ganz besonders an Jo March, die an Louisa May Alcoutt selbst angelehnt ist: mit einem starken Willen ausgestattet wehrt sie sich gegen die traditionelle Rolle der Frau und verfolgt das Ziel, Autorin zu werden.

Little Women ist durchweg charmant erzählt - reich an diesen Bullerbü-Momente, die einfach das Herz erwärmen. Eine Geschichte, die wie gemacht ist für diese wunderbare Reclam-Ausgabe, die so liebevoll von Kera Till gestaltet wurde, dass es jedes Mal aufs Neue verzückt und man sich beim Lesen immer wieder in diesen zauberhaften Illustrationen verliert. Wenn das hier kein Bücherregal-Schatz ist, dann weiß ich auch nicht.

Bewertung vom 03.10.2021
Que Mai, Nguyen, Phan

Der Gesang der Berge


sehr gut

Nguyễn Phan Quế Mai erzählt die Geschichte einer vietnamesischen Familie zwischen 1930 und 2017. Eine Familiengeschichte, die geprägt ist vom Kampf um das Überleben: die koloniale Herrschaft, die kommunistischen Landreformen, Hungersnöte und mehrere Jahrzehnte Krieg. Zwei Frauen stehen dabei im Mittelpunkt der Erzählung: die junge Hương und ihre Großmutter Diệu Lan, die sich zweitweise alleine durchschlagen müssen, da alle weiteren Familienmitglieder vermisst, im Krieg oder bereits gestorben sind. Verschiedene Zeitstränge blicken zum einen zurück auf das Leben der Großmutter, welcher der Krieg die alleinige Verantwortung für ihre 6 Kinder aufgebürdet hat, und verfolgen zum anderen das Leben ihrer Enkelin, die auf die Rückkehr ihrer Eltern aus dem Krieg hofft.

Der weite Erzählbogen gibt dem Roman einen epischen Charakter, lässt einen über Generationen hinweg einen Blick in die Geschichte Vietnams werfen - und zwar nicht aus westlicher Sicht, sondern durch das Erleben derjenigen, die das Leid hautnah erfahren. Und so funktioniert der Roman nicht nur im Großen, sondern auch im Kleinen, indem das Donnern der Bomben über dem Luftschutzbunker, die Flucht auf nackten Füßen, aber auch die Sprichwörter in vietnamesischer Schriftsprache, sowie die frische Nudelsuppe und die Maisfelder und Wasserbüffel im Hintergrund das Setting lebendig werden lassen. Eine große Stärke des Romans ist die filigrane Zeichnung der Auswirkungen von Krieg und Leid auf die Familienbeziehungen: die Ungewissheit der Hinterbliebenen, die Schuldgefühle einer Mutter, die ihre Kinder bei Fremden zurücklassen muss, die Unfähigkeit nach den Kriegserfahrungen wieder Nähe zuzulassen, die politische Gräben, die durch die Familien gehen.

Nguyễn Phan Quế Mai hat bereits mehrere Bücher auf Vietnamesisch veröffentlicht, "Der Gesang der Berge" ist ihr Debüt in englischer Sprache. Ob das der Grund dafür ist, dass ich den Schreibstil teils holprig fand, kann ich nicht sagen - nach ein wenig Einlesen trug aber auch das gefühlt zur Authentizität des Romans bei. Insgesamt eine kraft- und hoffnungsvolle Erzählung über den Versuch, inmitten der Leidensgeschichte eines Volkes eine Familie zusammenzuhalten.

Bewertung vom 19.09.2021
Myers, Benjamin

Der perfekte Kreis


sehr gut

Dieses Buch hat sich schon allein aufgrund seines wunderschönen Auftretens einen Weg in mein Bücherregal gebahnt. Hellblaues Leinen zum Anfassen und schimmernde Goldelemente - absolut mein Ding. Und diese anmutige Schönheit findet sich auch beim Aufklappen des Buches und ist ein tragendes Element der Geschichte. Erzählt wird aus dem Leben von Redbone und Calvert, zwei Männern zwischen denen eine ungewöhnliche Freundschaft besteht. Hinter ihnen liegen Einsamkeit und traumatische Erlebnisse und auch wenn sie nicht viel darüber reden und ihre Geschichten unterschiedlicher nicht sein könnten, fühlen sie sich doch auf besondere Weise verbunden. Gemeinsam widmen sie sich einer gemeinsamen Leidenschaft: der Erschaffung von Kornkreisen.

In jedem Kapitel machen sie sich erneut auf den Weg: nachts, heimlich, mit akribisch gezeichneten Plänen, mit dem Traum der Perfektion, der Sehnsucht nach Anerkennung, umhüllt von Mythos. Benjamin Myers gelingt es fabelhaft, diese besondere Stimmung - feierlich, ruhig, traumgleich, geheimnisvoll - in Worte zu fassen. Man streift mit den beiden Männern durch die nächtlichen Felder, spürt den Respekt mit dem sie sich durch die Natur bewegen und den Lebewesen begegnen, ihren Freiheitsdrang, den Widerwillen gegen Obrigkeiten, den Kampf gegen sinnlose Zerstörungen, die zarte Hoffnung, die sie versuchen, am Leben zu erhalten.

Myers Sprache zieht einen hinein in diese Szenen und sie bleiben so bildlich hängen, dass man in der Erinnerung fast noch den Wind spürt, der durch das von Mondlicht beschienene Feld streift. Was mir bei diesem Buch gefehlt hat, war nicht die Handlung, nicht der Spannungsbogen, denn darum geht es in diesem gefühlsdichten Roman nicht. Was mir stattdessen gefehlt hat, war mehr Nähe zu den beiden Protagonisten. Wer seid ihr, möchte man ihnen zurufen. Warum gebt ihr einander nicht mehr preis, was sind die Gedanken, die ihr voreinander versteckt? Gerne hätte ich sie und ihre Freundschaft noch besser kennengelernt, gerne hätte ich eine Entwicklung beobachtet, aber dann war das Buch schon zu Ende und ließ mich zurück mit den Erinnerungen an die gemeinsamen Streifzüge und einigen melancholischen Fragen.

Bewertung vom 12.09.2021
Veronesi, Sandro

Der Kolibri - Premio Strega 2020


gut

Es ist Sandro Veronesis raffinierte Erzählkunst, mit der sein Roman "Der Kolibri" besticht und ihm den "Premio Strega" einbrachte, Italiens wichtigsten Literaturpreis. Er erzählt die Geschichte eines Mannes, der angesichts von persönlichen Trägödien versucht, sein Leben und seine Familie zusammenzuhalten.

Der Roman beginnt mit einem Paukenschlag für Marco Carrera als er erfährt, dass seine Frau ein Kind erwartet - allerdings nicht von ihm. Es ist nicht das erste Unglück, das über ihn hereinbricht, und es wird auch nicht das letzte sein. Er verliert nahe Menschen unter teils tragischen Umständen und seine große Liebe zu seiner Kindheitsfreundin Luisa bleibt unerfüllt. Was klingen könnte wie eine große Tragödie ist viel mehr eine Geschichte über das Leben an sich. Sandro Veronesi erzählt die Geschichte nicht düster, sondern mit mindestens einem lachenden Auge. Das Buch steckt voller Kuriositäten, heiterem Witz und Philosophie und zeigt einen Mann, der sich dem Leben stellt, der die Widerstandsfähigkeit aufbringt, um mit den Stürmen des Lebens fertig zu werden - wie der titelgebende Kolibri, der es durch die Vielzahl seiner Flügelschläge vermag, auf der Stelle bleiben zu können.

Von einer chronologischen Lebenserzählung sind wir dabei so weit wie nur irgend möglich entfernt. Die Geschichte springt vor und dann wieder zurück bis in die Kindheit, jedes Kapitelchen setzt woanders an und - hier zeigt sich Veronesis Raffinesse - folgt seinem ganz eigenen Stil: mal lesen wir einen typischen Romanabschnitt, dann einen Brief, einen reinen Dialog, eine E-Mail, dann ein Satz, der sich über mehrere Seiten streckt. Dieser Stil hat seinen ganz eigenen Reiz und - was ebenfalls wichtig ist - gibt ausreichend Orientierung, um sich in der Abfolge der Geschehnisse zurecht zu finden. Dass der Roman mich letztlich dennoch nicht vollkommen überzeugen konnte, liegt viel mehr daran, dass "Der Kolibri" zwar als echtes Unikat funktioniert, für mich aber trotz vieler feinsinniger Szenen nicht die Intensität hatte, um mich tiefer in die Geschichte zu ziehen, anstatt mich als reine Bewunderin der Erzählkunst außen vor zu lassen.

Bewertung vom 18.08.2021
Gyasi, Yaa

Ein erhabenes Königreich


ausgezeichnet

"Wie trösten wir uns und die, die wir lieben?", so ist der Buchrücken von Yaa Gyasis "Ein erhabenes Königreich" überschrieben. Diese Frage ist vielleicht gleichzeitig die kürzestmögliche Inhaltsangabe des Romans. Angesichts von sinnlosem Leid - wo suchen wir nach Halt, nach einer Antwort? Wie die Autorin diese Spurensuche nach Sinn in eine Familiengeschichte rund um seelische Gesundheit, strukturellen Rassismus und Verlust einwebt, ist ein wahres Kunststück.



Gifty wächst in einer Pfingstgemeinde in Alabama auf, als Kind sind ihre Versuche, sich die Welt zu erklären, getragen von einem tiefen Glauben. Doch diese Welt gerät ins Wanken, als zunächst ihr Vater die Familie verlässt, um zurück in sein Heimatland Ghana zu gehen, und dann ihr Bruder Nana an einer Überdosis stirbt. Das Leben von Gifty und ihrer Mutter ist nun vor allem durch den Verlust geprägt, durch das tägliche Fehlen von Zweien, die einmal Vier waren. Giftys Mutter erkrankt an einer Depression und nach der Abhängigkeit ihres Bruders ist es wieder die menschliche Psyche, die Giftys Welt verdunkelt.



Viele Jahre später ist Gifty eine erfolgreiche Neurowissenschaftlerin. Ihre Forschung widmet sie der Frage nach belohnungssuchendem Verhalten und kann sich dabei selbst kaum eingestehen, dass sie nun auf wissenschaftlichem Weg versucht, Antworten auf die Fragen ihrer Kindheit zu finden und dabei doch nur das "Wie" erklären kann, nicht das "Warum". Ihren Glauben hat sie dabei nahezu verloren und kann im Rückblick immer klarer sehen, wie auch die (überwiegend weiße) Glaubensgemeinschaft von strukturellem Rassismus und Ausgrenzung geprägt war. Als ihre tief gläubige Mutter abermals an Depression erkrankt muss sie sich erneut mit der Frage auseinander setzen, wo Trost zu suchen ist, im Glauben oder in der Wissenschaft.



Während Heimkehren für mich ein Buch für's Herz war, ist dies hier ein Buch für Kopf und Geist. Mein Einstieg in das Buch war zäh, das Kennenlernen von Gifty holprig. Denn Gifty lässt Menschen nicht allzu nah an sich heran, fast scheint es als hätte sie die engsten Kontakte zu ihren Mäusen, an denen sie forscht. Und doch, man kann sich in die Gedankenwelt Giftys einlesen und findet dort scheinbar gegensätzliche Positionen in einem ständigen, klugen Widerstreit. Yaa Gyasi beschreibt hier nüchtern, unsentimental und doch eindrücklich. Gekonnt nimmt sie verschiedene Fäden auf: die Mehrdeutigkeit der wissenschaftlichen Experimente, der Schmerz des Verlustes, die Scham, die schwierige Mutter-Tochter-Beziehung, familiäre Loyalitäten, Giftys kindliche Gebete, alles wird sanft miteinander verwoben oder - um im Bild zu bleiben - neuronal verknüpft. Das Ergebnis ist keine Reduktion der Komplexität, sondern vielmehr eine bewusste Auseinandersetzung damit. Ein Buch auf den Punkt gebracht in einer Frage, nicht in einer Aussage, auch das passt.

Bewertung vom 07.08.2021
vor Schulte, Stefanie

Junge mit schwarzem Hahn


ausgezeichnet

Als "außergewöhnliches Debüt" beschreibt es der Klappentext und in der Tat, das ist es. Ich habe das Buch fast in einem Zuge ausgelesen, war ganz gebannt von der Welt, in die es mich mitgenommen hat und nach der letzten Seite habe ich mich gefragt, was ich da eigentlich gerade gelesen habe.

Es ist die Geschichte des elfjährigen Martins, der als gute Seele eines kleinen Dorfs aufwächst, das von Armut und Gewalt geprägt ist. Wann genau die Geschichte spielt, erfahren wir nicht, aber das Setting mutet mittelalterlich an, die Gegner sind hier Hunger, Pest, fehlende Bildung, Aberglaube, Tyrannei. Martin ist der einzige Überlebende eines Familiendramas, sein einziger Begleiter und Freund ist ein schwarzer Hahn. Anstatt diesem klugen, warmherzigen, etwas naiven Jungen mit Mitgefühl zu begegnen, wird er von der Dorfgemeinschaft nur umso mehr gemieden - ein jeder spürt, dass er den Erwachsenen um ihn herum, die immer wieder in Streit verfallen, weit überlegen ist. Als ein Maler das Dorf besucht, zieht Martin mit diesem hinaus in die Welt, um sie ein klein wenig besser zu machen.

Ich habe selten ein Buch gelesen, bei dem ich so wenig ahnen konnte, was mich auf der nächsten Seite erwarten wird. Stefanie vor Schulte hat ein Märchen für Erwachsene geschrieben, eine Parabel mit viel Interpretationsfreiheit, eine magische Geschichte vor düster-historischer Kulisse. Die Sätze sind kurz, die Ausdrucksweise hat etwas von der Naivität des Jungen und gleichzeitig strahlt jeder Satz vor Klugheit und Poesie. Dieses Buch ist ein kleines Überraschungspäckchen, das es sich wirklich lohnt auszupacken, ein herausragendes Debüt!

Bewertung vom 01.08.2021
Schulman, Alex

Die Überlebenden


ausgezeichnet

Diese Familiengeschichte hat es in sich. Sie erzählt von Benjamin und seinen beiden Brüdern Pierre und Nils, die sich mit der Zeit voneinander entfernt haben und nach dem Tod der Mutter als mittlerweile erwachsene Männer wieder zu dritt zusammenkommen. Sie machen sich auf zu der Hütte am See, in der sie gemeinsam mit ihren Eltern die schwedischen Sommer ihrer Kindheit verbracht haben, um dort die Asche ihrer Mutter zu verstreuen und dieser Trip wird für sie auch zu einer Reise in die eigene Vergangenheit.

Erzählt wird aus der Perspektive von Benjamin, auf zwei verschiedenen Zeitebenen, die sich gefühlt einander annähern und deren Ausgangspunkt die Hütte am See ist und was dort vor vielen Jahren geschah. Gemeinsam mit den drei Brüdern nähern wir uns dieser Vergangenheit an. Unbehagen und Unheil werden nicht immer direkt ausgesprochen und dennoch schwebt von Beginn an etwas in der Luft. Es gibt sie, diese vermeintliche Idylle dieser wilden Sommertage zwischen Wald und See, in der die Kinder schwimmen, toben, entdecken. Doch diese wird immer wieder gebrochen. Unscharf zunächst, denn wir blicken auf die Familie aus der Sicht des kleinen Benjamin, der zwar bemerkt, dass die Eltern oft ein Glas Schnaps nach dem anderen trinken und die Kinder danach sich selbst überlassen, dass seine Mutter im einen Moment liebevoll kuschelt und im anderen zurückweist, dass der Vater zu Wutausbrüchen neigt. Dass auf sie nicht so gut acht gegeben wird wie auf andere Kinder. Das alles nehmen die Brüder wahr und dennoch ist es das einzige Familienleben, das sie kennen und wie sollte man das in Worte fassen?

Alex Schulmann gelingt es, nicht nur vielschichte Charaktere zu zeichnen, sondern auch beim Lesen eine Spannung aufrecht zu erhalten, die mich das Buch beinahe in einem Zuge durchlesen lies. Vergangenheit und Gegenwart sind fein verwoben, die Beziehungen zwischen den Brüdern berühren, es geht um Schuld und Sich-Vergeben, jedes Kapitel macht die eigene Sicht ein wenig klarer und dann kommt das Ende und das ist eine Wucht. Leseempfehlung!

Bewertung vom 25.07.2021
Lühmann, Hannah

Auszeit


weniger gut

Das Thema gibt eigentlich so viel her. Henriette, eine junge Frau um die 30, die in einer komplizierten Beziehung steckt und noch dazu seit Jahren mitten in einer Dissertation über Werwölfe, mit der sie nicht weiter kommt. Nach einem Schwangerschaftsabbruch zieht sie sich mit ihrer besten Freundin Paula in eine einsame Hütte zurück, um sich die titelgebende Auszeit zu nehmen. Sie trauert um ihr ungeborenes Kind und kann sich diese Gefühle dennoch nicht zugestehen. Sie weiß nicht, was sie will, ob sie überhaupt etwas will. Es hätte ein spannender Roman um die Schwierigkeiten einer Generation mit zu vielen Optionen werden können, eine Auseinandersetzung mit dem Thema Schwangerschaftsabbruch, mit der Suche nach den eigenen Prioritäten.

Stattdessen habe ich mich am Ende des Buches genauso ratlos gefühlt wie Henriette. Mit Hilfe von Paula, die mit ihr Yoga macht, sie massiert, Blockaden löst und ihr allerlei Wege aufzeigt um scheinbar zu sich selbst zu finden, versucht Henriette Antworten zu finden, Entscheidungen zu treffen, zu verarbeiten,... und irrt doch nur unruhig zwischen ihren bewegten und selbstbezogenen Gedanken hin und her, unfähig wirklich zu ihren Gefühlen vorzudringen. Als Leserin sind mir sowohl Henriette als auch Paula fremd geblieben, zu groß war die Distanz, als dass ich die beiden Frauen tatsächlich hätte kennenlernen oder ihre Handlungen hätte nachvollziehen können. Einige wirklich spannende Gedanken werden angerissen, allerdings leider nicht vertieft, manchmal schaut die Spitze des Eisbergs aus dem Wasser, aber die wirklichen Fragen bleiben für mich unbeantwortet unter der Oberfläche.

Sprachlich hat mir der Roman durchaus gefallen und da es sich hier um das Debüt von Hannah Lühmann handelt, bleibe ich gespannt auf weitere Romane von ihr. Hier konnte mich die (wenige) Handlung jedoch leider nicht wirklich begeistern und sowohl die ausführliche Werwolf-Metapher, als auch angedeutete Traumata in Verbindung mit einem sehr schrägen Ende bewirkten, dass nach der Lektüre das Gefühl der Verwirrung überwiegte.

Bewertung vom 11.07.2021
Döbler, Katharina

Dein ist das Reich


ausgezeichnet

Katharina Döblers Roman ist eine literarische Auseinandersetzung mit dem schwierigen Erbe, welches ihre Familie ihr als Nachfahrin missionarischer Kolonialisten mit auf den Weg gegeben hat. Nacheinander führt die Erzählerin ihre vier süddeutschen Großeltern ein und nimmt so die Fäden einer Familiengeschichte auf, welche schließlich in Neuguinea, auf kolonialistischem Boden, zusammenführen. Anfang des 20. Jahrhunderts reisen die vier Missionarinnen und Missionare ins "Kaiser-Wilhelmsland", um dort als Wegbereiter des christlichen Glaubens die "Heiden" zu bekehren.

Der Erzählstil und die Sprache haben mir sehr gefallen. Die Autorin schreibt eindrücklich, mit klugen Bezügen, durchgehend im Präsens und verzichtet auf die Kenntlichmachung wörtlicher Rede, sodass Handlung, direkte Sprache und Gedanken ineinander übergehen und man sich als Leserin in einer ständigen Auseinandersetzung mit den Wahrnehmungen befindet. Die Perspektive wechselt zwischen den vier Großeltern und manchmal auch mitten im Absatz zur Erzählerin in die Gegenwart. Da der Roman sich über mehrere Jahrzehnte erstreckt und mit den zwei Familien, zahlreichen Kindern und Kindeskindern, sowie vielen Missionstätigen auch in der Breite weit aufgestellt ist, kann man mit den Namen schon einmal durcheinander kommen. Insgesamt ergibt sich so eine hohe Komplexität in der Erzählstruktur, welche die Aufmerksamkeit der Leser fordert.

Die Enkelin, die sich mehr als ein Jahrhundert später auf Spurensuche begibt, ergreift im Laufe der Geschichte immer wieder das Wort und führt durch den Roman. Sie stößt auf Fotografien, Reiseberichte, Briefe, Erzählungen von Verwandten, erinnert sich an ihre eigenen Wahrnehmungen in der Kindheit und versucht so, sich der Geschichte ihrer Großeltern anzunähern. Einer Geschichte, die auch geprägt ist von hierarchischen Machtverhältnissen, religiöser Überlegenheit, Ausbeutung und der Vorrangstellung des weißen Mannes, sowohl im Sinne von Rassismus als auch im Sinne von Frauenunterdrückung. Wie haben ihre Großeltern damals gehandelt und welche Gründe hatten sie? Wie haben sie gefühlt und gedacht?

Der eigentliche Spagat des Buches besteht darin, die Geschichte aus der Perspektive der Großeltern als Roman erzählen zu wollen - und trotzdem nicht vollkommen darin aufzugehen, sondern (angesichts der problematischen Themen) eine kritische Distanz zu bewahren. Ein Spagat, der insofern gut gelungen ist, als dass ich als Leserin das Gefühl hatte, in das Leben der Großeltern aus der Sicht der nachfolgenden Generationen einzutauchen. Insbesondere das Thema der kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte und den Auswirkungen der Vergangenheit auf die Nachfahren bis heute hat mich beim Lesen begleitet und zum Nachdenken angeregt. Wer allerdings eine objektiv-sachliche Auseinandersetzung mit dem Thema Kolonialisimus oder aber einen Roman mit steiler Spannungskurve und emotionaler Nähe zu den Protagonisten erwartet, wird enttäuscht werden. Die größte Nähe besteht zur Großmutter Nette, zu der die Erzählerin in ihrer Kindheit ein leises Band knüpfen konnte: "Wir saßen nebeneinander auf der Gartenbank, meine Großmutter und ich, und wir verdammten einander nicht." Und so ist auch der Umgang mit dem Handeln der Großeltern weder Verurteilung, noch Rechtfertigung. Nicht jede Situation wird für die Leser eingeordnet und doch ist die kritische Perspektive der Grundton der Erzählung. Insgesamt ein komplexes Werk, auf das man sich einlassen muss, das in seiner thematischen Vielfalt und Tiefe aber in jedem Fall eine Bereicherung darstellt und viel Raum für eigene Gedanken lässt!