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probelesen
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Hamburg

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Insgesamt 59 Bewertungen
Bewertung vom 23.02.2023
Baum, Antonia

Siegfried


ausgezeichnet

Nach einem Streit mit ihrem Ehemann verliert die Ich-Erzählerin jegliche Orientierung und begibt sich in die Psychiatrie. Sehr einfühlsam beschreibt sie den Weg in die Krise. Siegfried, ihr Stiefvater, taucht immer wieder auf. Er trägt sie einerseits und gibt ihr Halt und Struktur, prägt aber auch mit seiner Dominanz und Emotionslosigkeit ihr weiteres Leben. Auch sein Herzinfakt löst die Krise aus. Berührend sind die Schilderungen der Kälte und stummen Gewalt, die sich durch alle Beziehungen ziehen und die weiter wirken in ihr jetziges Leben und bereits das Verhältnis zu ihrem Kind prägen. Ein sensibler Bericht über ein Leben, das nicht in den Griff zu kriegen ist. Auch die Psychiatrie scheint keine Lösung. Es bleibt ein Erschrecken über den Abgrund eines "normalen" Lebens, in dem auch das Schweigen die tiefen Verletzungen nicht zudecken kann.

Bewertung vom 03.02.2023
Sinan, Marc

Gleißendes Licht


ausgezeichnet

Ein schwerer Text und doch voller Poesie. Die Geschichte des türkischen Jungen Kaan aus München und seiner Familie wird rasant auf verschiedenen Zeitebenen erzählt: Kindheit und anrührende Liebesgeschichte, dann die Geschichte seiner Großeltern, sie Armenin, die den Völkermord als Kind erlebt, er Türke, der reich wird und dann doch alles verliert. Immer wieder wechselt die Erzählperspektive. Verschiedene Episoden aus dem Jahrhundert werden zu einer Komposition. Aber Grausamkeit und Gewalt bestimmen als Trauma die Familie. Erst nach dem Tod der Großmutter wird der Wunsch nach Bearbeitung geweckt, die nur gelingen kann, indem darüber geschrieben wird. So entsteht ein autobiographisch geprägtes Romandebüt wie ein Feuerwerk aus Erinnerungen, Fantasie, Rache und Versöhnung. Es bleibt die Anklage an den türkischen Präsidenten, der den Völkermord immer noch ignoriert, aber auch eine kleine Hoffnung auf Versöhnung. Ein nachdenklich machenden, ungewöhnlicher Roman.

Bewertung vom 03.12.2022
Groschupf, Johannes

Die Stunde der Hyänen


gut

Warum man diesen Roman einen Thriller nennt, ist mir nicht ganz erklärlich. Zwar geht es um Brandstiftung im nächtlichen Berlin, es geht um Kindesmissbrauch, es geht um Intoleranz und Zwang innerhalb einer Sekte - aber alles nur mit mäßiger Spannung. Die Handlung ist nicht stringent auf eine Aufklärung der Straftaten gerichtet, sondern sie verzettelt sich auf verschiedene Handlungsebenen und ist nicht immer psychologisch nachvollziehbar. Verschiedene Bereiche werden sehr anschaulich geschildert, so der Kreis der sektenähnlichen Gemeinschaft und der daraus entstehenden familiären Konflikte. Auch die Stimmung in dem Berliner Stadtteil wird nachvollziehbar geschildert. Es ist für mich eher eine Milieustudie als ein Kriminalroman, den ich trotz der Einschränkung gerne gelesen habe, aber nach der Genreeinordnung hatte ich eine andere Erwartung.

Bewertung vom 24.10.2022
Mathieu, Nicolas

Connemara


ausgezeichnet

Connemara ist der Titel eines Chansons von Michel Sadou, veröffentlicht 1981 und den meisten Fanzosen wohl bekannt als Stimmungsmacher, zu dem man ausgelassen tanzen kann. Zu dieser Musik läuft die Hochzeitsfeier des Freundes von Christophe aus dem Ruder und endet in einem Saufgelage. Dies ist der Endpunkt der Affäre zwischen Hélène und ihrem Jugendfreund Christophe, mit dem sie ihre Schulzeit in einem kleinen Ort im Osten Frankreichs verbracht hat. Hélène kommt aus kleinen Verhältnissen, ist ehrgeizig und schafft es zu einem einträglichen Job in einer Beratungsfirma in Paris. Aber Job, Ehe und zwei Kinder ermüden die 40jährige und der Burnout führt sie zurück in die Provinz, wo sie ihren Jugendfreund, der den Ort nie verlssen hat, wieder trifft, mit dem sie ein Verhältnis anfängt. Sehr eindrücklich werden die Charaktere geschildert, ihr Gefangensein in der Enge der Provinzialität, ihre Fluchten. Christophe mit seinem Job als Hundefuttervertreter ist genauso hoffnungslos wie die hoch qualifizierte Hélène in einem Job, in dem sie Beratungen an Behörden verkauft, aber eigentlich nur eine Show abzieht, an die sie selbst nicht glaubt. Im Hintergrund die aktuelle politische Situation der Wahl zwischen Macron und Le Pen. Beeindruckende Schilderung der französischen Gesellschaft mit dem immer noch vorherrschen Klassensystem. Bleibt einem da mehr als der Schrei nach Connemara?

Bewertung vom 17.10.2022
Boyne, John

Als die Welt zerbrach


sehr gut

Die 91jährige Gretel lebt in einer Villa in London und erzählt ihr Leben, das aus dem Ruder läuft, als die Wohnung unter ihr an eine Familie verkauft wird, in der Gewalt zum Alltag gehört. Auf zwei Zeitebenen wird ihre Geschichte erzählt: einmal im Jahr 2022 und dann rückblickend von 1945, als sie mit ihrer Mutter das Lager Auschwitz verlässt, dessen Kommandant ihr Vater ist, über verschiedene Stationen in Europa und Australien immer unter falscher Identität. Die Lebenslüge, die Erkenntnis auch als Kind Schuld zu tragen an den Verbrechen ihres Vaters, die Mitverantwortung am Tod ihres Bruders - all das wird mit Eindringlichkeit geschildert. Viele Fragen werden angeschnitten nach dem Umgang mit Opfern und Tätern. Manchmal sind die Szenen sehr brutal. Und zum Schluss bleibt die Frage, kann man Schuld durch neue Gewalt begleichen, um die nachfolgende Generation zu schützen oder sollte man die Justiz entscheiden lassen. Nachdenkenswert, dabei sehr spannend geschrieben, mit vielen überraschenden Situationen und Unwahrscheinlichkeiten, eben ein Roman.

Bewertung vom 07.10.2022
Wait, Rebecca

Meine bessere Schwester


weniger gut

Es geht in diesem Roman nicht nur um die Beziehung zweier Schwestern, sondern um eine ganze Familiengeschichte, die von vielen Konflikten und Störungen gekennzeichnet ist. Die Mutter lebt bereits in einer spannungsreichen Beziehung zu ihrer Schwester, sie ist geprägt von der unterschiedlichen Zuwendung mitterlicher Liebe und dadurch ausgelösten Minderwertigkeitsgefühlen. Diese Familienstruktur wird in die nächste Generation weitergegeben und führt zu extrem verletztenden Verhaltensweisen. Auch die beiden vorkommenden psychischen Erkrankungen Schizophrenie und Psychose hängen vermutlich damit zusammen. Die Sprache des Romans ist lakonisch. Bald bleibt einem das Lachen bei zunächst komischen Episoden im Halse stecken und wird nur noch bitter. Die Autorin erzählt nicht nur, sondern erklärt und kommentiert die Handlungen der Personen auch. Das fand ich störend und überflüssig. Eine gute Romanhandlung erklärt sich selbst.
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Bewertung vom 27.09.2022
Coccia, Emanuele

Das Zuhause


ausgezeichnet

Titel und Cover versprachen eine interessante Lektüre, doch es wurde ein schwieriges Unterfangen, sich dem Text zu nähern. Der Autor geht von persönlichen Erlebnissen aus und schildert seine Erfahrungen mit Wohnungen, mit Räumen, mit Umzügen. Dabei fasst er den Begriff Zuhause sehr weit und bringt sehr anregende Aspekte ein: die Kleidung als beweglicher Raum oder die digitale Welt als erweitertes Zuhause. Dann wird er aber sehr schnell grundsätzlich und theoretisch. Dabei geht es ihm um ein Öffnen und Durchdringen des ganzen Planeten zu einer Vision, die für mich nicht nachvollziehbar ist. Mir scheint, Coccia ist verliebt in seine eigene Sprache und formuliert nur um der geschliffenen Sprache wegen. Alles ist miteinander verwoben und bleibt dadurch unkonkret. Es sind anregende Aspekte enthalten, aber das eigentliche Anliegen des Autors ist mir fremd geblieben.

Bewertung vom 18.09.2022
Ani, Friedrich

Bullauge


ausgezeichnet

In Anis Krimis geht nicht vorwiegend die Aufklärung von Mord, Totschlag oder Entführung sondern um Milieuschilderungen, um Stimmungen und zwischenmenschliche Beziehungen. Auch hier steht nicht ein Delikt im Vordergrund. Der Polizist Kay Oleander ermittelt in seinem eigenen Fall: er ist auf einer Demo von einer Bierflasche getroffen worden und hat dabei ein Auge verloren. Als er dabei die Verdächtige Silvia Glaser trifft, entwickelt sich ein zwiespältiges Vertrauensverhältnis. Auch diese Frau ist eine "Beschädigte", gehbehindert nach einem Fahrradunfall, der von einem Polizeifahrzeug ihrer Meinung nach mitverschuldet wurde. Dieses seltsame Vertrauen führt dazu, dass Silvia gesteht, von einem rechtsradikalen Attentatsplan zu wissen, in das sie verwickelt ist. Eine intensive, sensible Studie über zwei Versehrte mit überraschendem Schluss. Kein typischer Krimi, aber ein lesenswerter, kritischer Blick auf unsere Gesellschaft

Bewertung vom 11.08.2022
Storks, Bettina

Ingeborg Bachmann und Max Frisch - Die Poesie der Liebe / Berühmte Paare - große Geschichten Bd.3


ausgezeichnet

Es ist ein Wagnis, einen Roman zu schreiben über eine der interessantesten Beziehungen der deutschen Nachkriegsliteratur. Bachmann und Frisch, beide schon hochgelobte, bekannte Schriftsteller lernen sich 1959 in Paris kennen und verlieben sich sofort leidenschaftlich ineinander, dabei könnten sie unterschiedlich kaum sein sowohl in ihrer Arbeitsweise wie auch in ihrem Alltagsleben. Er ist sehr strukuriert und gut organisiert, naturverbunden, eher bürgerlich, bodenständig. Sie ist spontan, chaotisch, freiheitsliebend, eher glamourös. Beide haben einen Anspruch an ihre Liebe, die einen utopischen Zug hat. "Wir wollten die Welt umdenken, das Paar vor allen Paaren sein." Fünf Jahre lieben und quälen sie sich auf intensive, ruinöse Weise, leben in der Schweiz und in Rom zerrissen zwischen Freiheitsanspruch und Eifersucht, bis sich Frisch trennt, eine neue Beziehung eingeht und eine von Alkohol- und Tablettensucht kranke Schriftstellerin hinterlässt. Die Literaturwissenschaftlerin Storks, die über Bachmann promoviert hat, macht den Versuch, diese außergewühnliche Beziehung zu beschreiben und es gelingt ihr auf faszinierende Weise. Es ist ein fantastischer Roman geworden, der eindrucksvoll und sensibel die schwierige, aber leidenschaftliche Liebe erfasst und gleichzeitig einen Einblick in die literarischen Schreibweisen vermittelt. Für literarisch Interessierte ein grandioses Werk.

Bewertung vom 30.07.2022
Letterman, Karla

Mörderische Masche / Der Häkelclub ermittelt Bd.1


weniger gut

Wie das Titelbild vermuten lässt, ein Krimi der betuelichen Art oder eigentlich gar kein Krimi, denn es stirbt die Inhaberin eines Wollgeschäfts zwar durch einen Angriff eines Bullen, aber es ist nicht klar, ob es irgendwie arrangiert worden ist. Sie ist dem unangenehmen Pferdehändler auf die Schliche gekommen, der Herkunftspapiere für seine Tiere fälscht. Aber wird sie dehalb umgebracht? Am Ende wird durch die Ermittlung des Häkelklubs der Betrug nachgewiesen und der Pferdehändler kommt vor Gericht, aber nur wegen des Betrugs. Inzwischen hat sich der Witwer des Ladens angenommen, hat Häkeln und Stricken gelernt und alles wird einigermaßen gut. Norddeutschland mit der Kleinstadt Bökersbrück ist der Handlungsort. Es wird ein bisschen mit Klischees gespielt und natürlich muss man das Ganze mit einem Lächeln lesen, aber es ist nur mäßig spannend. Höchstens eine nette Unterhaltung mal nebenbei.