Benutzer
Benutzername: 
leseleucht
Wohnort: 
Alfter

Bewertungen

Insgesamt 187 Bewertungen
Bewertung vom 15.03.2025
Lorenz, Sarah

Mit dir, da möchte ich im Himmel Kaffee trinken


sehr gut

Mascha, wo bist du?
Die Ich-Erzählerin liebt kleine Häuser am liebsten mit Reetdach, Kaffee und die Gedichte von Mascha Kaléko. Diese stellt sie jedem Kapitel ihrer Lebensgeschichte motivisch voran und nutzt sie weniger zum Dialog mit der Dichterin als zum Monolog, mit dem sie der Dichterin und dem Leser ihr Leben für die Füße schüttet. So muss man es fast sagen. Denn motiviert von einem ihrer Gedichte oder einem Vers darin, macht sich ein Wortschwall Luft, bricht es aus der Erzählerin heraus. Ihr Leben bisher, liebevolle Kindheit, plötzlicher Liebesverlust, Systemsprengerin, mit 14 raus aus dem Heim und als Punk auf der Domplatte, sexualisierte Gewalt, Missbrauch, dann die Kehrtwende, Buchhändlerlehre, und, sie glaubt es selbst kaum, doch noch das Abitur und dann das Studium. Bücher waren der jungen Treberin ohne Zuhause immer so etwas wie Heimat. Als sie während der Buchhändlerlehre im Antiquariat auf Kalékos Gedichte stößt, scheint sie eine Seelenverwandte gefunden zu haben. Sie findet in ihren Gedichten, in denen sie, ganz dem neusachlichen Programm entsprechend, die Themen des menschlichen Lebens und Alltags im Sinne der Gebrauchslyrik in wohl verständliche, zugleich aber sehr ergreifende Worte packt. Bei aller Bewunderung ist sich die Erzählerin zugleich bewusst, dass ihr Ausdruck eher das Pathos ist. Sie ist in allem, was sie tut, leidenschaftlich, vor allem leidenschaftlich wütend, panisch und liebend. Das sind die drei Grundmotive ihres Lebens, die sich wechselseitig bedingen.
Mit schonungsloser Offenheit lässt sie den Leser immer tiefer in die Abgründe blicken. Beginnt zunächst alles ein wenig harmloser mit ihrer Vorliebe für kleine Reetdachhäuser, weil diese eine glückliche Kindheit symbolisieren, so führt ihr Weg dann bald in die abgeranzten Wohnungen wenig vertrauenerweckender Punks, die ihre Unsicherheit, Suche nach Nähe sowie auch ihre Trunkenheit nutzen, um sie zu missbrauchen. Drogen kommen ins Spiel und Obdachlosigkeit. Auch am Ende, als sie die Liebe gefunden zu haben scheint, lässt das miese Schicksal sie nicht los. Nun heißt ihr Gegner die Diagnose Krebs bei ihrem Mann.
Bisweilen wird es dem Leser ein bisschen viel, das Pathos, das Drama und auch die Ambivalenz von Geliebt und Verlassen Werden, von Angst und Furchtlosigkeit, die manchmal in verwirrender Weise koexistieren. Man erahnt hinter den Zeilen der Erzählerin die Autorin selbst, wenn man das annehmen darf, und bewundert sie für ihre Ehrlichkeit und Bereitschaft zur Selbstpreisgabe. Mir allerdings stellt sich auch die Frage, ob man den Gedichten wirklich gerecht wird, wenn man sie als Anschubser für die eigene Lebensdarstellung nimmt. Natürlich darf jeder diese Texte subjektiv lesen. Mir aber fehlt bei all dem „du, Mascha“ eben diese Mascha. Wer die Dichterin, ihr Werk und ihr Leben nicht kennt, bekommt immer nur einzelne Brocken hingeworfen, die aber sofort in der Gleichsetzung mit dem doch so anderen Leben der Erzählerin verschwinden. Bei aller Seelenverwandtschaft sind die Lebensthemen doch sehr verschieden und schwer vergleichbar.

Bewertung vom 15.03.2025
Schroeder, Steffen

Der ewige Tanz


ausgezeichnet

Geschmäht, gefeiert, geliebt und benutzt
Steffen Schroeder legt eine bemerkens- und lesenswerte Romanbiographie über die Ausdruckstänzerin Anita Berber vor.
Als enfant terrible ihrer Zeit mag man sie zwar nur schwer bezeichnen, gab es davon in den wilden Zwanzigern im Babylon Berlin doch einige. Aber die Berber sorgte dennoch immer wieder für Skandale. Vielleicht weniger mit ihren freizügigen Auftritten, Photos oder auch Gemälden als mit ihren Wutanfällen gegenüber einem Publikum, von dem sie sich als Künstlerin nicht ernst genommen fühlte, sondern zum reinen Sexobjekt degradiert. Sie nahm nie ein Blatt vor den Mund, strafte die Gesellschaft ihrer bigotten Moral wegen Lügen und führte ein rauschhaftes, exzessives Leben, das umso früher endete. Mit zunehmender Kokain- und Morphiumsucht begann der Niedergang ihrer Karriere auf der Bühne und beim Film, ihre finanzielle Not und ihr gesellschaftlicher Abstieg. Die Männer an ihrer Seite waren oftmals auch Künstler, allerdings häufig erfolg- und brotlos, mehr in sich verliebt und das schöne Leben, das Anita häufig mit finanzierte. Am Ende dieses kurzen Lebens steht die todbringende Schwindsucht wie das Resultat eines kräftezehrenden Lebens.
Schroeders Roman wirbt um die Sympathie für eine Frau, die schon als kleines Mädchen auf der Suche nach Liebe und Aufmerksamkeit war, die ihr aber nur selten ungeteilt und selbstlos zuteil wurde. Im Wechsel von Sterbebett und Erinnerung an das kurze, aber umso intensivere Leben lernt der Leser eine verletzliche Frau kennen, die nicht nur ihre Haus zu Markte, sondern auch ihr Herz auf Zunge trägt. Sie steht mutig zu ihrem unkonventionellen Lebenswandel, lebt die Liebe zu Männern und zu Frauen, zeigt die Natur des Menschen auf der Bühne bis auf den Wesenskern enthüllt. Nacktheit ist für sie nicht Mittel zum Zweck, sondern Ausdruck. Sie könne nicht anders, als so zu sein, wie sie ist, schonungslos und offen, entgegnet sie auf die Bekundung von Bewunderung für ihre offene, auch sich selbst gegenüber schonungslose Art. Aber dennoch ist diese Aufrichtigkeit nicht als Ausdruck eines Mangels, sondern als bewundernswerte Charakterstärke zu sehen. Die Anita Berber, die der Roman zeigt, ist eine verletzliche Frau, eine Künstlerin mit Idealen, voller Lebenshunger, niemals jammernd gibt sie nie auf, bekämpft ihre Einsamkeit, wenn auch bisweilen mit den falschen Mitteln, und trägt auch ihre Krankheit mit Würde.
Schroeder gelingt es nicht nur, dem Leser diese schillernde Person so nahe zu bringen, sondern er lässt ihre ganze Zeit so lebendig vor Augen erstehen, wenn er uns mitnimmt auf Shoppingtouren mit Anita, in ihre Shows, in die Salons und die privaten Räume großer Künstlerinnen und Künstler, denen sie begegnet. Zudem vermittelt der Autor spannende Einblicke in die Geschichte der Kinderstube des Films.
Nicht nur die profunde Kennerschaft, die lebendigen Schilderungen und der ansprechende Schreibstil machen dieses feine Buch über eine Frau, die man vielleicht nicht für so tiefgründig gehalten hätte, weil man nur ihre Skandale kennt, so lesens- und liebenswert.

Bewertung vom 15.03.2025
Würger, Takis

Für Polina


ausgezeichnet

Eine feine, leise Weise
Das Buch hat mich auf jeden Fall gepackt, an einem Tag begonnen, am anderen ausgelesen. Das liegt auf jeden Fall an Hannes und seiner Mutter, Fritzie Prager. Allein mit einem unehelichen Kind ohne Ausbildung findet sie Zuflucht in der heruntergekommen Villa in einem Naturschutzgebiet bei dem kautzigen Lebenskünstler Heinrich. Mit diesen schlechten Rahmenbedingungen aber schafft sie für Hannes, dem Jungen mit dem besonderen Gehör, das Idyll einer Kindheit voller Liebe, Angenommensein und Zufriedenheit. Ein wichtiger Bezugspunkt seiner Kindheit ist auch Polina, mit der er von Klein auf aufwächst und mit der ihn ein besonderes Band verbindet. Doch als die Idylle zerbricht, verliert Hannes auch Polina und seine Musik. Es wird ein langer Weg zurück zur Musik, aber auch zu Polina?
Würger entwickelt faszinierende, vielfach liebenswerte Figuren. Sie haben alle ihre Stärken und ihre Geheimnisse und sie sind mehr oder weniger für Hannes da. Ohne Polina, ohne seinen Kumpel Bosch, den grobschlächtig wirkenden, aber so feinen Möbelpacker, mit dem er für eine Transportfirma Klaviere schleppt, ohne Heinrich, der sich auch zu verlieren droht und ohne einige schicksalshafte Wendungen hätte Hannes sich vermutlich verloren. Wenn auch einige der Figuren, wie sie biologischer Vater oder sein Chef ein wenig klischeehaft wegkommen und manche Fügungen doch ein wenig arg wundersamen erscheinen, hat mich das Buch mit ganz unterschiedlichen Gefühlen erfüllt: Traurigkeit über den Verlust, Sehnsucht, Einsamkeit, aber durch all das hindurch auch eine Ruhe, eine Stärke und eine Art Gewissheit, dass es im Leben ganz einfache Dinge gibt, ein Geruch, eine Melodie, Natur oder eine Stange saurer Rhabarber mit braunem Zucker, die Trost und Zuversicht und Heimat geben. Würgers Schreibstil entwickelt die anfangs beschriebene Wirkung. Es sind die leisen Töne und die Zwischenräume, die dem Leser Platz lassen für das Nachfühlen, Nachspüren und Nachdenken wie die Musik.

Bewertung vom 09.03.2025
Welk, Sarah

FREI - Bester Sommer (FREI 1)


ausgezeichnet

Nicht nur ein Leseabenteuer
Joshua ist Kummer gewöhnt. Immer wieder muss er mit seiner Mutter aus beruflichen Gründen umziehen. Freunde - Fehlanzeige, Zuhausefühlen - nicht wirklich. Doch jetzt hat seine Mutter den Vogel abgeschossen und ihn in das allerletzte Kuhkaff gesteckt. Was soll er hier mit sich anfangen? Ganz unerwartet ist es ausgerechnet Schule, die ihn hier, wo sich Hase und Igel gute Nacht sagen, in ein Abenteuer verwickelt, von dem er nicht zu träumen gewagt hätte: mehrere Tage in Keingruppen Gleichaltriger im Wald ohne Erwachsene. Und plötzlich ist so etwas wie Freundschaft und ein Gefühl von Zuhause zum Greifen nah. Dies könnte der beste Sommer seines bisherigen Lebens werden...
Ein tolles Leseabenteuer, lustig und humorvoll geschrieben. Aus der Sicht Joshuas, der uns gleich mit hinein nimmt in das große Sommerabenteur, das ihn und den Leser hier erwartet. Sehr authentisch schildert die Autorin die Gedanken und Gefühle, die Joshua bewegen. Eine klare Leseempfehlung für Jung und Alt!

Bewertung vom 09.03.2025
Dor, Milo;Federmann, Reinhard

Internationale Zone


gut

Zäh
Wien, internationale Zone, in der unmittelbaren Nachkriegszeit, Sammelpunkt für Besatzer, Besetzte, Flüchtlinge, Schmuggler, Geschäftsleute, Klein- und Großkriminelle. Jeder sucht, sein Leben zu meistern, der Vergangenheit zu entkommen, Geschäfte zu machen mit dem Wiederbeginn eines neuen Lebens nach Jahren des Krieges, der Not, des Hungers, des Mangels. So auch Georges Maines, der mit dem Zigarettenschmuggel sein Geld verdient. Aber ein illegales Geschäft zieht das andere nach sich. Und man weiß nie, wer Freund und Feind ist, weil jeder bereit ist, für den eignen Vorteil den anderen zu verraten. Und neben dem Geldgeschäft spielt auch das politische eine Rolle. Aber auch bei den vermeintlichen Siegern wird schnell zum Verlierer, wer nicht mehr passt oder stört. Es sind noch immer unsichere Zeiten, in der ein kleiner Fehler oder ein blöder Zufall das eigene Leben schnell in Gefahr bringen kann. Und wer könnte da noch helfen, muss sich auch Georges Maines fragen.
Ich bin nicht warm geworden mit der Lektüre. Zu verwickelt und kompliziert am Anfang, zu viele Figuren und Nebenfiguren. Noch in der zweiten Hälfte werden neue Figuren eingeführt und verschwinden genauso schnell, wie sie aufgetaucht sind. Die Figuren, aber auch das Wien der Nachkriegszeit bleiben farb- und gesichtslos. Der Schreibstil ist spröde. Mir fehlt etwas, das mich mit in die Geschichte nimmt. Erst im letzten Drittel fügt sich so etwas wie ein roter Faden zusammen, mit dem es sich etwas flüssiger lesen lässt. Ich hatte aufgrund von Cover, Titel und angekündigter Story mehr erwartet.

Bewertung vom 09.03.2025
Arth, Julius

Die Brücke von London


sehr gut

Solides Handwerkszeug
Der historische Roman „Die Brücke von London“ spielt auf zwei Ebenen. Da ist zum einen die Zeit, in der die Brücke, die bislang die einzige Verbindung zur City darstellt, von der Westminster Bridge Konkurrenz bekommt. Juliana, die aufgrund der Spielschulden ihres Mannes, eines Tuchhändlers, und seines plötzliches Todes vor dem finanziellen Aus steht, bekommt diese verschlechterte Situation besonders zu spüren. Sie muss sich auf Schmugglergeschäfte einlassen, um ihr Geschäft zu retten. Dabei erhält sie Unterstützung von dem jungen Adler und seiner Bande, einer Reihe obdachlos lebender Kinder, die entweder ohne Eltern oder von zu Hause abgehauen sind. Als der junge Brückenbauer Oliver nach London kommt und mehr als nur geschäftliches Interesse an Juliana zeigt, spitzt sich die Lage zu. Denn Oliver repräsentiert das Bridge House, das auf der Brücke für Recht und Ordnung sorgt. In dieser Mission kommt er auch einem Verbrechen auf die Spur, bei dem die Sicherheit der ganzen Brücke auf dem Spiel steht.
Schon in den Zeiten ihres Baus ist die London Bridge vor Unheil nicht gefeit. Auf der zweiten Zeitebene ca. 500 Jahre zuvor kämpfen Eistrid und ihre Schwester Sybilla, die magisches Wissen hat und Visionen über die Zukunft, gegen das Unheil, das auf der Brücke lastet und das auch über ihrer Familie liegt.
Julius Arth schreibt einen soliden historischen Roman über zwei spannende Kapitel der London Bridge. Besonders die epischen Beschreibungen sowie ein Reigen illusterer Figuren führen dem Leser das Leben in diesen Zeiten bildlich vor Augen. Die Dynamik zwischen den Figuren sorgt für Spannung, auch wenn die Einführung der Personen und der Umstände bisweilen etwas breit gerät.
Ein solider gemachter Roman für ein paar Stunden gute Unterhaltung.

Bewertung vom 01.03.2025
Chen

Von Jade und Drachen / Der Sturz des Drachen Bd.1


ausgezeichnet

Positiv überrascht
Mit dem Begriff Steam Punk oder Silk Punkt konnte ich zunächst gar nichts anfangen. Ich hatte den Begriff nur einmal vage im Zusammenhang mit einem Computerspiel gehört. Da ich mich aber nicht sonderlich für Computerspiele interessiere, ging ich also ohne große Erwartungen – oder eher ein wenig skeptisch ob so neumodischen Krams – an die Lektüre. Und wurde sehr positiv überrascht.
Amber Chen schreibt im ersten Band ihrer Reihe, „Von Jade und Drachen, von der jungen Ying, die den Mord an ihrem Vater mitansehen muss und fest entschlossen ist, ihn zu rächen. Ihr Vater war einst Mitglied der Ingenieursgilde, und sein Mord steht in Zusammenhang mit seinen Erfindungen. So macht Ying sich auf in die Hauptstadt des Reiches. Aber nicht nur um den Mörder ihres Vaters zu finden, sondern auch weil ihr sehnlichster Wunsch ist, Teil der Ingenieursgilde zu werden. Allerdings ist Mädchen der Zutritt verboten. Und allein die Verkleidung als Junge hätte ihr vielleicht wenig geholfen, wenn sie nicht einen einflussreichen Gönner getroffen hätte. Allerdings verfolgt dieser nicht nur uneigennützige Pläne.
Chen schreibt voller Phantasie. Wenn sie die fremden Welten, die aus einer Mischung von altem Flair und moderner Technik bestehen – Steam Punk eben!, beschreibt, dann entstehen sehr plastische und teils stark beeindruckende Bilder. Ihren Figur haucht sie ebenso Leben ein, und der Leser fiebert und leidet gleich von der ersten Seite mit Ying, die sich auf einen Weg voller Abenteuer und Gefahren macht. Den Spannungsfaden lässt Chen keine Minute abreißen, sodass der Leser bis zum Schluss gefesselt ist. Immer wieder reißen ihn unerwartete Wendungen aus der Ruhe, die ihm die schönen Beschreibungen für kurze Augenblicke gewährt.
Ein packendes Leseabenteuer mit einer Priese Liebe und ganz viel Phantasie! Her mit Band 2!

Bewertung vom 23.02.2025
Mittelmeier, Martin

Heimweh im Paradies


ausgezeichnet

Geist und Ungeist
Martin Mittelmeier zeichnet in „Heimweh im Paradies“ ein lebendiges Bild der Jahre, die Thomas Mann in Kalifornien im Exil verbrachte. Dort entstand unter anderem Manns Roman „Dr. Faustus“, der das Wesen des Deutschen ergründet und nach seiner Verführbarkeit durch das Böse, das Dämonische fragt. Diese Frage drängt sich natürlich dem exilierten Autors auf, da er seine Heimat verlassen musste, weil das Dämonische dort die Macht übernommen hatte. Manns Verhältnis zu seiner Heimat, aber auch zu den anderen deutschen Emigranten und das Verhältnis der Amerikaner zu den Deutschen, insbesondere der Deutschen im Exil sind weitere Themen dieser spannenden Zeit in Manns leben.
Der Kampf gegen das Dunkle, Dämonische beginnt in Manns Persönlichkeit selber, der seine eigenen dunklen Seiten mit dem Bildungsbürgerdasein zu unterdrücken versucht. Den Ungeist des deutschen Volkes versucht er in seinem Wesen zu ergründen. Dazu dienen ihm auch die Ideen Horkheimers und Adornos. Beide quasi Nachbarn im Exil, letzterer eine Inspirationsquelle für die Darstellung des Musikers Leverkühn im „Doktor Faustus“. Wie begegnet man dem deutschen Volk, dessen Geist Mann in sich trägt und den er nach außen zu verkörpern beansprucht? Wie ist ein Neustart Deutschlands nach dem Ende der Barbarei möglich? Dabei stehen verschiedene Ideen der Exilanten, aber auch der Amerikanischen Ideologie in Widerstreit. So wie Manns Leben in den Zeiten des Exils im Widerstreit steht zwischen dem Schriftsteller, der die Ruhe zum Schreiben braucht, und dem Mann der Öffentlichkeit, der als führende Persönlichkeit im Exil immer wieder zur Stellungnahme aufgefordert wird.
Mittelmeier spannt in dem kleinen Bändchen beeindruckende Bögen zwischen literatur-, musik-, philosophie- und ideologiegeschichtlichen Entwicklungen. Mit großer Kennerschaft bindet er immer wieder Manns schriftstellerische Werke ein in die aktuellen politischen und mentalitätsgeschichtlichen Entwicklungen der Zeit. Er schildert die verschiedenen, zerbrechlichen Beziehungen Manns nicht nur in der eigenen Familie, sondern auch zu seinen amerikanischen Gönnern und der Exilantengemeinde, die ihm nicht alle freundschaftlich gesonnen sind. Denn Thomas Mann nimmt eine Sonderrolle ein, quasi die des Königs im Exil. Seine Stimme zählt, sein Einfluss ist groß, seine Werke werden gelesen. Er leidet nicht die materiellen Nöte manch seiner Kollegen wie auch seines Bruders. Er sieht sich bei allem Heimweh nicht in seiner Existenz in Frage gestellt. Sein Leben geht weiter, auch wenn er von mancher Seite, wie auch aus Deutschland seiner Heimat, wegen seines Lebens, seiner Haltung angefeindet wird.
Ich finde die Darstellung dieser kurzen Zeit von 1938 bis 1952 auf knappen 200 Seiten überwältigend komplex, lehrreich, unterhaltend und so packend, dass ich das Buch nicht mehr aus der Hand legen konnte. Zudem ist es mit seinen Einschätzungen zur Demokratiefähigkeit des deutschen Volkes, wie Thomas Mann und Goethe hier zitiert werden, äußerst aktuell im Hinblick auf die jüngsten politischen Entwicklungen.
Insgesamt ein spannendes Kapitel aus Thomas Manns Leben und ein lohnenswerter Beitrag zum Jubiläumsjahr 2025!

Bewertung vom 22.02.2025
Haas, Wolf

Wackelkontakt


ausgezeichnet

"Elektrisierend" trifft es in der Tat
Eschers Steckdose in der Küche hat einen Wackelkontakt. Und er wartet auf den Elektriker. Derweil legt er einen Puzzle. Er hegt eine Leidenschaft fürs Puzzeln, seit er zu seinem 19. Geburtstag von einer Angebeteten ein Puzzle mit dem Bild eines namensverwandten Künstlers geschenkt bekam, auf dem zwei Hände abgebildet sind, sich beim Malen malen. Das programmatische Motiv des Romans. Danach liest er ein Buch über einen Kronzeugen gegen die Mafia. Dieser kann nachts in seiner Zelle nicht schlafen, weil er um sein Leben fürchten muss. Und so liest er ein Buch über einen Mann namens Escher, der ein Buch liest über einen Mann in einer Zelle, der nicht schlafen kann.
Was wie eine harmlos lustige Endlosschleife klingt, ist mehr als nur eine originelle Idee zur Komposition des Romans „Wackelkontakt“ von Wolfgang Haas. Der Roman ist gleich von Anfang an nicht nur brillant konstruiert durch die immer wieder auf sich selbst verweisenden Motive. Sondern Haas schreibt so en passant noch einen von der ersten Seite an packenden Thriller über Mafia, Kronzeugen, Schutzprogramme und Todesfälle. Galant vermischen sich die Erzählebenen und Leben von Escher und Elio Russo, dem Kronzeugen. Dabei entsteht im Leser schon auf den ersten Seiten, dass das Konsequenzen haben muss für beider Leben.
Originell, entwickelt, klug durchdacht, von Beginn an packend und dabei herrlich leicht geschrieben! Absolutes Lesevergnügen garantiert!

Bewertung vom 22.02.2025
Kling, Marc-Uwe

Die Maus hat einen neuen Freund


ausgezeichnet

Freundschaft überwindet alle Hindernisse
Was für ein grandioses Buch! Da wäre man gerne noch einmal zwei Jahre alt, aber zum Glück ist es ja nicht verboten, das Buch auch zu lesen und zu lieben, wenn man das Alter nicht mit zwei, sondern einer zweistelligen Zahl beziffert werden muss.
Die kleine Maus trifft ihren neuen Freund, ausgerechnet einen Dinosaurier, im Wolkenkino. Die beiden haben so viel gemein, obwohl sie doch auf den ersten Blick so grundverschieden zu sein scheinen. Und genau dieser Unterschied, der eigentlich nicht in der äußerlichen Größe besteht, stellt sie dann doch vor ein Problem. Aber zum Glück gibt es in ihrem Umfeld weise Ratgeber, die ihnen zeigen, wie leicht man solche vermeintlich unlösbaren Schwierigkeiten überwinden kann. Und am Ende sind alle glücklich.
Nicht nur Maus und Dinosaurier, sondern auch die Leser und Betrachter. Allein die wunderschönen Bilder sind ein Grund, der für das Buch spricht. Dazu kommen die kleinen, gereimten Zweizeiler, die bei aller Kürze und kindlich angemessener Ausdrucksweise soviel Witz und Lebensklugheit vermitteln. Und dann die beiden Hauptfiguren, die einfach umwerfend sympathisch und um ihre Freundschaft zu beneiden sind. Gekrönt wird das ganze von einer Poesie, die zeigt, wie schön das Leben ist, wenn man einen guten Freund hat, so verschieden er auch ist. Und mit welch einfachen Mitteln eine solche Freundschaft genossen und gefeiert werden kann, sei es mit einer gemeinsamen Übernachtung unter freiem Himmel oder im Wolkenkino. Was für eine herrliche Idee! Marc Uwe Kling als wortwitziger und origineller Autor sowie Astrid Henn als begnadete Illustratorin sind ein absolut perfektes Team!