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SimoneF

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Insgesamt 508 Bewertungen
Bewertung vom 01.09.2023
Haas, Wolf

Eigentum


ausgezeichnet

​"Eigentum" von Wolf Haas ist ein (auto)biographisch geprägter Roman über die letzten Lebenstage seiner Mutter, die 95jährig in einem Pflegeheim verstirbt. Passagen des Ich-Erzählers Wolf Haas, der die letzten Stunden bei seiner Mutter in seinem Heimatort verbringt, wechseln sich mit Rückblenden ab, in denen er seine Mutter als Ich-Erzählerin von ihrem Leben berichten lässt. Diese Erinnerungen sind umgangssprachlich und mit dialektalen Einsprengseln gehalten. Der Sprachduktus hat mich sehr an die Erzählweise meiner eigenen Großmutter erinnert. Einige Erinnerungen sind bewusst widersprüchlich gehalten, manches wiederholt sich, als würde man tatsächlich einem alten Menschen beim Erzählen zuhören. Bereits durch diese sprachlichen Mittel hatte ich ein lebendiges Bild seiner Mutter vor Augen.


Für die Mutter, 1923 geboren, waren die Kriegsjahre und die erlebten Inflationen prägend. Der Wunsch nach Eigentum war immer da, erfüllte sich zu Lebzeiten jedoch nie - erst mit dem Begräbnis, so sinniert Wolf, bezieht sie erstmals eigenen Wohnraum, die letzte Wohnung für die Ewigkeit, 1,7 qm im bester Lage, unverbaubar.

Das Buch ist geprägt von dem für Wolf Haas typischen Humor und seiner Kunst, die Alltagssprache authentisch einzufangen und literarisch anspruchsvoll zu verarbeiten. Trotz seines manchmal recht bissigen Humors, auch im Angesicht des Todes, und des klaren Blicks auf die Ecken und Kanten seiner Mutter spürt man eine große Zuneigung aus seinen Worten, und das Buch ist eine schöne Hommage an sie und vielleicht auch an viele Frauen aus dieser Generation, die ein ähnliches Leben geführt haben. Lesenswert!

Bewertung vom 31.08.2023
Walls, Jeannette

Vom Himmel die Sterne


ausgezeichnet

Der Roman "Vom Himmel die Sterne" von Jeanette Walls spielt zu Anfang des 20. Jahrhunderts in einer Kleinstadt in Virginia. Sallie Kincaid ist 8 Jahre alt, die Tochter des einflussreichsten Mannes in der Stadt und liebt ihren Vater abgöttisch. Als sie eines Tages mit ihrem kleinen Halbbruder Eddie spielt, kommt es zu einem Unfall, bei dem Eddie verletzt wird, und auf Drängen ihrer Stiefmutter muss sie das Haus verlassen und viele Jahre in ärmlichen Verhältnissen bei einer Tante leben. Als junge Frau kehrt sie ins Haus ihres Vaters zurück und sieht sich Argwohn, Ablehnung und Vorurteilen innerhalb der Verwandtschaft ausgesetzt. Sie setzt alles daran, ihre Stärke zu beweisen und die Anerkennung ihres Vaters zu gewinnen. In den nächsten Monaten überschlagen sich die Ereignisse, und Sallie muss schneller auf eigenen Beinen stehen als gedacht. Stück für Stück kommt Sallie Familiengeheimnissen auf die Spur und lernt, viele Dinge in einem neuen Licht zu betrachten.

Da ich anhand des Titels und des Covers etwas anderes erwartet hatte, hat mich dieses Buch in vielerlei Hinsicht überrascht, aber auf eine absolut positive Weise! Sallie war mir von Anfang an sehr nahe, obwohl ich nicht jede ihrer Ansichten teile oder gutheiße. Der Schreibstil ist so natürlich und lebendig, dass ich das Gefühl hatte, Sallie würde neben mir sitzen und mir ihre Geschichte erzählen, mit all ihren Gedanken und Zweifeln, die ihr durch den Kopf gehen. Gleichzeitig hat die Erzählweise etwas unglaublich Kraftvolles und Ehrliches. Sowohl Sallie als auch die anderen Charaktere sind glaubhaft, ambivalent und plastisch ausgearbeitet, machen zum Teil eine deutliche Entwicklung durch. Insbesondere bei Sallie ist das wirklich großartig beschrieben, wie sie sich immer weiter von früheren Vorstellungen emanzipiert, wichtige Erfahrungen sammelt, Werte und Ansichten überdenkt. Als Leserin habe ich mit ihr mitgelitten, mit ihrem Handeln und Denken auch in einigen Punkten gehadert, und war fasziniert von ihrer Persönlichkeit und ihrer Unerschrockenheit. Sie geht mutige, ungewöhnliche Wege für eine Frau in dieser Zeit, und der Roman zeichnet auch ein eindrückliches Bild von der damaligen Stellung der Frau. Kaum zu glauben, dass seither gerade einmal 100 Jahre vergangen sind, und welch ein Glück, dass sich hier einiges getan hat!

Der Großteil des Romans spielt zwischen 1920 und 1922 zur Zeit der Prohibition in Amerika, und dieser kommt eine wichtige Rolle zu. Der Autorin gelingt es, die Atmosphäre in einer typischen Kleinstadt in den Südstaaten spürbar werden zu lassen, in der Rassismus aufblitzt, Selbstjustiz um sich greift und die Waffe immer schnell zur Hand ist. Washington ist weit weg, und das Wort einflussreicher Männer vor Ort steht über dem Gesetz.

Die Geschichte hat mich so gefesselt und berührt, dass ich das Buch an einem Tag ausgelesen habe, und es wird mir sicher noch lange im Gedächtnis bleiben. Für mich ein absoluter Ausnahmeroman, den ich unbedingt weiterempfehlen möchte!

Bewertung vom 31.08.2023
Bauer, Christina

Kochen mit Christina


ausgezeichnet

Da ich liebend gerne Ofengerichte zubereite, hat mich das Buch "Kochen mit Christina" von Christina Bauer sofort angesprochen. Darin dreht sich alles um Leckereien aus dem Ofen.

Christina Bauer startet mit grundlegendem Wissen zu Ofengerichten, Tips zur Vorratshaltung und Wochenplanung sowie mehreren Grundrezepten.
Neben einigen Fleischgerichten gibt es auch ein Kapitel für Vegetarier*innen. Bei vielen Gerichten, die Salami oder Schinken enthalten, kann man diese als Vegetarier*in jedoch problemlos weglassen und durch Anderes ersetzen. Vegane Rezepte gibt es nicht. Ein Kapitel widmet sich Süßspeisen, ein weiteres Beilagen-Basics wie Spätzle, Ofenkartoffeln, Quetschkartoffeln oder Polenta.

Neben klassischen Ofenrezepten enthält das Buch auch Gerichte, die man normalerweise nicht mit einem Ofen in Verbindung bringt, wie Suppe, Nudeln mit Sauce oder Kaiserschmarrn. Diese habe ich noch nicht im Ofen ausprobiert, da ich etwa beim Kaiserschmarrn das Knusprige sehr schätze, das sich entwickelt, wenn man die zerrupften Stücke noch ein wenig in der Pfanne lässt und mehrfach wendet. Nudeln mit Sauce gehen im Kochtopf auch sehr schnell und ich habe hier die gewünschte Bissfestigkeit besser im Griff als im Ofen. Besonders angesprochen haben mich beim ersten Durchblättern die Pizzataschen und die Kartoffellaibchen, und ich habe sie gleich mal nachgekocht. Das Ergebnis war sehr lecker, und ich werde beides mit Sicherheit bald wieder backen.

Richtig toll finde ich, dass die Rezepte wunderbar familien- und alltagstauglich sind - sie sind schnell zubereitet, ohne ausgefallene Zutaten und dennoch abwechslungsreich. Auch effizientes Vorkochen wird thematisiert - wie man aus übriggebliebenen oder vorausschauend vorgekochten Spätzle, Nudeln, Reis oder Fleisch leckere Gerichte zaubert, zeigt Christina Bauer in einem eigenen Kapitel. Das war mir jetzt nicht neu, da ich das schon lange mache, wer aber gerade erst anfängt, für eine Familie zu kochen oder als junger Mensch eine eigene Wohnung bezieht, bekommt hier gute Tips.

Fazit: Ein empfehlenswertes Kochbuch für alle, die unkomplizierte, leckere und schnelle Gerichte für den Ofen suchen.

Bewertung vom 26.08.2023
Blum, Charlotte

Spiel auf Leben und Tod / Fräulein vom Amt Bd.3


gut

"Spiel auf Leben und Tod" ist der dritte Band der Reihe um das "Fräulein vom Amt", die Telefonistin Alma Täuber, und ihre beste Freundin und Mitbewohnerin Emmi.

Den kulturellen Hintergrund dieses Bandes bietet ein internationales Schachturnier, das 1925 in Baden-Baden stattfand, wenn auch dessen Beschreibung weniger Raum einnimmt als die ägyptischen Festivitäten in Band 2.

Gertrude, die Cousine einer Kollegin von Alma, wird tot in der Wäschetrommel einer Wäscherei gefunden. Während die Polizei von Selbstmord oder einem tragischen Arbeitsunfall ausgeht, ist Almas Kollegin überzeugt, dass mehr dahinter steckt, und bittet Alma um Hilfe. Diese stellt Nachforschungen an und findet sich bald in einem verzwickte Fall wieder, der einige Überraschungen und brenzlige Situationen bereithält.

Da der dritte Band einen in sich abgeschlossenen Fall bildet, ist es möglich, diesen ohne Kenntnis der ersten beiden Bände zu lesen. Ich würde dennoch dazu raten, die Reihenfolge einzuhalten, da immer wieder Anspielungen auf die vorigen Bände gemacht werden und auch zentralen Figuren wie Ludwig und Walter sowie einige Arbeitskolleginnen und die Familie von Alma in allen Bänden vorkommen.

Wie gewohnt bietet auch Band 3 wieder interessante Einblicke in die Lebensumstände der gehobenen Mittelschicht in den 1920er Jahren. Ausgelassene Tanzveranstaltungen zu Jazzmusik werden ebenso beschrieben wie technische Neuerungen: elektrisches Licht, erste Haushaltswaschmaschinen und Staubsauger halten  im Zuge der fortschreitenden Elektrifizierung Einzug in Privathaushalte. Auch die gesellschaftliche Situation der Frauen wird thematisiert und die politische Lage in der Weimarer Republik klingt immer wieder an. Ganz in die Atmosphäre der 20er abtauchen zu können, macht für mich immer den besonderen Reiz der Alma-Täuber-Krimis aus. Alma, Emmi, Walter und Ludwig mir ihren liebenswerten Eigenheiten sind schon fast wie alte Bekannte, die man gerne wiedertrifft.

Leider konnte mich dieses Mal der Fall nicht so richtig fesseln. Er erschien mir doch arg konstruiert, und die Auflösung war nicht sehr überzeugend. Die Handlung zerfaserte zusehens, und mir fehlte eine gewisse Stringenz. Auch das teilweise recht kopflose Verhalten von Emmi und Alma störte mich, und einzelne Szenen insbesondere gegen Ende empfand ich als unglaubwürdig. Ich hatte den Eindruck, dass das Autorinnenduo hier einen besonders kniffligen Fall schaffen wollte und sich hierbei aber zunehmend verzettelte. Insgesamt blieb ich nach der Lektüre mit einem unzufriedenen Gefühl zurück.

Für mich leider der bisher schwächste Band der Reihe, und ich hoffe, dass Teil 4 wieder an die frühere Qualität anknüpfen kann.

Bewertung vom 26.08.2023
Maurer, Jörg

Kommissar Jennerwein darf nicht sterben / Kommissar Jennerwein ermittelt Bd.15


weniger gut

Ich hatte von Jörg Maurers Jennerwein-Reihe bereits viel Gutes gehört, allerdings bisher noch keinen Band gelesen. "Jennerwein darf nicht sterben" ist bereits der 15. Fall für Kommissar Hubertus Jennerwein, der ihn aus dem wohlverdienten Erholungsurlaub direkt in einen kniffligen Fall rund um das Thema KI (Künstliche Intelligenz) führt.

Auch wenn die Geschichte immer wieder kleine Anspielungen auf frühere Bände enthält, bin ich problemlos in die Geschichte hineingekommen.

Allerdings musste ich schnell feststellen, dass dieser Krimi leider überhaupt nicht meinen Geschmack trifft. Den Figuren und der Handlung fehlt es an Tiefe und Glaubwürdigkeit, und die Geschichte ist sehr langatmig. Die Exkurse um die Legende vom Teufel im Beichtstuhl haben mich eher genervt und gelangweilt, und die Haupthandlung rund um die Firma Mikado Solutions und Künstliche Intelligenz ist sehr ausschweifend erzählt und gleichzeitig völlig unglaubwürdig und abstrus. Die Art und Weise, wie hier KI thematisiert wird, erweckt für mich nicht den Eindruck, als hätte der Autor hier fundiert recherchiert, sondern eher ins Blaue hinein phantasiert. Hinzu kommen leider auch grobe Schnitzer in der Logik (Widersprüche in den Sicherheitsvorkehrungen und der Überwachung bei Mikado Solutions) und den zeitlichen Abläufen (so sucht der "Isländer" eine Besenkammer im Hotel auf, um einen dort abgestellten Gegenstand zu holen, doch während er den kurzen Weg von der Küche dorthin zurückzulegt, vergeht in der Parallelhandlung um Jennerwein ein ganzer Abend samt Nacht!). Der Autor packt zudem zu viele Nebenhandlungen in die Geschichte, die unausgegoren, wenig durchdacht und streckenweise regelrecht absurd wirkt. Wenn man nach der Lektüre die gesamte Geschichte und das Verhalten von Herrn Lim von Mikado Solutions in Gedanken noch einmal durchspielt, bleibt die Logik völlig auf der Strecke.

Für mich leider ein enttäuschender Roman, sowohl hinsichtlich der Handlung als auch der Figurenzeichnung, und ich werde diese Reihe nicht weiter verfolgen.

Bewertung vom 26.08.2023
Gneuß, Charlotte

Gittersee


sehr gut

"Gittersee" von Charlotte Gneuß ist ein eindrücklicher Roman über das Leben in der DDR.

Da die Erzählung häufig zwischen Träumen, der Gegenwart und diversen Erlebnissen in der Vergangenheit hin und herspringt, ist es manchmal nicht gleich ersichtlich, wie einzelne Passagen richtig einzuordnen sind. Auch wenn dies eine hohe Konzentration beim Lesen erfordert und eine gewisse emotionale Distanz erzeugt, so hat dieser recht spezielle Schreibstil für mich doch einen besonderen Reiz und spiegelt die durcheinanderwirbelnden Gedanken der Protagonistin Karin sehr gut wider.

Einige Dinge, die nur angedeutet wurden, hätte ich mir etwas ausführlicher gewünscht, insbesondere, was die beruflichen Tätigkeiten von Karins Eltern anging und die Geschichte des Großvaters. Dessen Vergangenheit im Krieg wurde immer wieder vage angerissen und es blieben viele Fragen offen. Der Ort Gittersee ist mir vor allem durch den jahrelangen Uranabbau und den dadurch massiv verseuchten Boden ein Begriff. Leider wird dies im Roman tabuisiert, der Begriff Uran fällt überhaupt nicht, es ist lediglich von Bergbau und dem "Schacht" als Arbeitsplatz die Rede. Nur einmal wird die Großmutter zitiert, dass "die Gegend vergiftet" sei, aber die Autorin geht nicht näher darauf ein.

Durch Karin bekam ich einen Einblick in die Lebensumstände in der DDR und die sozialistische Propaganda in der Schule. Trotzdem war ich etwas verwundert über Karins Naivität und Arglosigkeit, und auch ihr Handeln am Schluss ist bei näherer Betrachtung für mich irrational. Da ich nicht spoilern möchte, kann ich hier nicht konkreter werden.

Fazit: Ein eindrücklicher, insgesamt sehr lesenswerter Roman mit einem teils sprunghaften, aber sehr reizvollen Erzählstil.

2 von 4 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 26.08.2023
Kennedy, Louise

Übertretung


ausgezeichnet

Da ich mir unter dem Titel "Übertretung" zunächst nichts vorstellen konnte, wäre ich an diesem Buch beinahe vorbeigegangen. Glücklicherweise habe ich doch einen Blick auf den Klappentext geworfen, der mich aufgrund der Thematik des Nordirlandkonfliktes sehr ansprach.

Nordirland 1975: Die IRA und protestantische Milizen sorgen für Angst und Schrecken, Bombenanschläge und Attentate sind an der Tagesordnung. Cushla Lavery ist 24 Jahre alt, katholisch und Lehrerin an einer katholischen Grundschule in einem Vorort von Belfast. Der Schüler Davy aus einer ärmeren katholisch-protestantischen Mischfamilie, der in der Klasse gemobbt wird, ist ihr besonders ans Herz gewachsen, und sie unterstützt seine Familie in einer Notlage. Nach Schulschluss kümmert sich Cushla um ihre alkoholkranke Mutter Gina oder hilft ihrem Bruder Eamonn im Pub der Familie. Eines Abends kommt ein Mann in den Pub, zu dem sich Cushla sofort hingezogen fühlt, trotz des großen Altersunterschieds. Michael Agnew ist Protestant, Prozessanwalt und verheiratet, und Cushla beginnt mit ihm eine Affäre, die ihr Leben nachhaltig verändert.

Der Autorin Louise Kennedy gelingt es, die beklemmende Atmosphäre im Nordirland der 1970er Jahre eindrücklich und lebendig einzufangen. Bombenanschläge, Strassensperren und Polizeikontrollen gehören zum Alltag, die Konfessionszugehörigkeit prägt jeden Winkel des gesellschaftlichen und sozialen Lebens, und kleinste Abweichungen - ein unüberlegtes Wort, eine falsche Route auf dem Heimweg, Hilfsbereitschaft gegenüber den "falschen" Menschen - können lebensbedrohliche Folgen haben. Hierin (und auch  durch den Originaltitel "Trespasses") erklärt sich auch der Titel - sichtbare wie unsichtbare Grenzüberschreitungen können fatal sein.

Der Roman zeigt, wie Cushla und ihr Umfeld inmitten des Terrors versuchen, ein normales Leben zu führen, und auch, wie sehr die ständige Bedrohungslage zur Normalität geworden ist. Besonders deutlich wird dies, wenn die Autorin die Unterrichtsstunden schildert, die mit den "Nachrichten" beginnen, und bei denen die 7jährigen Schüler und Schülerinnen ganz selbstverständlich über Attentate, Anschläge und militante Gruppierungen sprechen. Als Katholikin erlebt Cushla Schikanen durch die Polizei, wird Zeugin von Argwohn, Hass und Ausgrenzung und muss selbst immer wieder sowohl unverhohlene als auch unterschwellige verbale Provokationen erdulden.

Die Geschichte um Davy und seine Familie ist mir sehr nahegegangen, und ich habe mit ihnen richtig mitgelitten. Etwas zwiegespalten bin ich bezüglich der Beziehung zwischen Cushla und Michael, da mich der Altersunterschied von 30 Jahren doch sehr gestört und auch etwas abgestoßen hat. Michael blieb mir als Figur bis zum Schluß unsympathisch, und die Anziehung, die er auf Cushla ausübte, war mir unverständlich.

Ich habe durch den Roman einiges über die damalige Situation und das Lebensgefühl in Nordirland erfahren, und war fast traurig, als das Buch zuende war. Ich hätte über einige Figuren gerne noch mehr erfahren, doch auch der Schluß hat, so wie er ist, einen besonderen Reiz. Ein wirklich
tolles Debüt, das ich auf jeden Fall weiterempfehlen möchte.

Bewertung vom 23.08.2023
Wieser, Gudrun

Die Kälte der Mur


sehr gut

Ich lese sehr gerne historische Krimis, und so ließ ich mich von Gudrun Wieser in "Die Kälte der Mur" ins späte 19. Jahrhundert in die Steiermark entführen. Der Gendarm Wilhelm Koweindl sieht sich darin mit einer besonders kniffligen Ermittlung konfrontiert. An den Ufern der Mur werden Leichenteile von Frauen angeschwemmt. Zur Lösung des Falls sucht er Rat bei der Hauslehrerin Ida Fichte, deren scharfen Verstand er schätzt und der er auch ansonsten sehr zugeneigt ist. Alsbald tragen sich im Haushalt der Familie, bei der Ida in Stellung ist, merkwürdige Dinge zu, und Wilhelm und Ida haben einen Verdacht...

"Die Kälte der Mur" ist nach "Jenseits der Mur" der zweite Band im Ida Fichte und Wilhelm Koweindl. Auch wenn die Fälle in sich abgeschlossen sind und ich den zweiten Band ohne Kenntnis des ersten problemlos lesen konnte, ist es dennoch ratsam, zunächst Band 1 zu lesen, da immer wieder Anspielungen auf den ersten Fall vorkommen und man dort auch erfährt, wie sich Ida und Wilhelm kennengelernt haben.

Ida und Wilhelm waren mit sofort sympathisch, ebenso der Probegendarm Leopold. Der Schreibstil ist angenehm und passt sehr gut zum historischen Hintergrund der Geschichte. Ich habe mit den beiden mitgefiebert und mitgerätselt, und der Fall blieb spannend bis zum Schluß.

Was mir bei dem Roman etwas fehlte, war der zeitgeschichtliche Hintergrund. Ich mag es sehr, wenn die Krimihandlung eingebettet ist in politische, wirtschaftliche, kulturelle oder gesellschaftliche Zusammenhänge und ich nebenbei etwas über die Zeit erfahre, in der der Krimi spielt. Das ist hier leider nicht der Fall, und so wirkt die Geschichte als Ganzes etwas dünn. Auch über die damals üblichen kriminalistischen Methoden erfährt man leider nichts.

Fazit: Ein unterhaltsamer Krimi mit interessanten Wendungen und sympathischen Protagonist*innen, dessen historischer Kontext noch etwas stärker ausgearbeitet sein dürfte.

Bewertung vom 22.08.2023
Herron, Mick

Joe Country / Jackson Lamb Bd.6


sehr gut

"Joe Country" ist der 6. Band von Mick Herrons Jackson-Lamb-Reihe um die sogenannten "Slow Horses" aus dem Slough House, der Abteilung für in Ungnade gefallene Agenten des MI5.

Ich hatte aus dieser Reihe bisher nichts gelesen,  aber schon von den Slow Horses gehört und auch von der erfolgreichen Verfilmung auf Apple TV +. Auch wenn es immer wieder Anspielungen auf frühere Bände gibt, werden alle wichtigen Personen ausreichend eingeführt, so dass ich sehr gut in die Geschichte reingefunden habe. Dennoch ist es empfehlenswert, die Bände in der richtigen Reihenfolge zu lesen.

Mick Herron entwirft eine komplexe Geschichte mit vielen losen Enden, die er nach und nach miteinander verknüpft. Alte Seilschaften und Feindschaften in Geheimdienstkreisen, persönliche Rechnungen, politische Ränkespiele, Erpressung, zweifelhafte Wirtschaftsaktivitäten, der Kampf um Macht in verschiedenster Hinsicht - der Autor verquickt alles zu einem spannenden Thriller, wobei er insgesamt zwischen fünfzehn verschiedenen Perspektiven wechselt.

Die Jackson-Lamb-Thriller sind auf jeden Fall sehr ungewöhnlich und stechen aus der Vielzahl an Krimi- und Thrillerreihen heraus. Das liegt vor allem an den außergewöhnlichen Charakteren der Slow Horses. Jede*r von ihnen hat auf irgendeine Art als Agent*in versagt oder wurde aus anderen Gründen vom MI5 kaltgestellt. Alle sind ziemlich kaputt und exzentrisch, empathielos, oft zynisch und nicht gerade Sympathieträger, allen voran der Chef Jackson Lamb, ein feister, schmuddeliger, furzender Säufer und Zyniker ohne jedes Mitgefühl. Das macht es tatsächlich schwer, mit den Figuren mitzufiebern. Auch der Humor ist ziemlich speziell, sehr schwarz und sehr britisch, was ich eigentlich sehr mag. Allerdings wurden mir im Laufe des Buches das betont abgebrühte Sprücheklopfen und der Zynismus etwas zu viel. Es erinnerte mich an amerikanische Mafiafilme wie "Good Fellas", die eine große Fangemeinde haben, aber nicht mein Geschmack sind.

Als ich nach der Lektüre die Geschichte noch einmal genau durchdachte, fielen mir bei der Story um Lech Wicinski einzelne Ungereimtheiten auf. Störend fand ich auch die klischeehafte Darstellung der meisten weiblichen Agentinnen - sehr aufs Äußere bedacht, modebewusst, mit einem Faible für Schuhe (etwa: "Das Aufflackern der Erkenntnis in Flytes Augen war für Taverner mehr wert als ein neues Paar Schuhe"). Selbst in einer Gefahrensituation beklagen sie sich zuerst über eine farblich nicht dem persönlichen Stil entsprechende Jacke (Kapitel 13).

Fazit: Insgesamt ein toll geschriebener, abwechslungsreicher, spannender und sehr spezieller Thriller in der Welt der Geheimdienste, den ich sehr gerne gelesen habe. Dennoch sind der raue Stil und die Figuren nicht ganz mein Fall, so dass ich die Reihe wohl nicht weiter verfolgen werde.

Bewertung vom 22.08.2023
Lehane, Dennis

Sekunden der Gnade


ausgezeichnet

"Es gibt ein altes Sprichwort: Wenn man jemandem alles nimmt, hat er nichts mehr zu verlieren." (Anhang zum Buch, Interview mit Dennis Lehane)

Die irischstämmige Mary Pat lebt mit ihrer Tochter Jules (17) in South Boston. Es ist Sommer 1974, und die Bustransfers, die der Rassentrennung entgegenwirken und Schüler aus mehrheitlich weißen Stadtteilen in Schulen mit überwiegend farbigen Schülern bringen sollen und umgekehrt, sorgen für Aufregung. Der Widerstand ist groß, auch Mary Pat engagiert sich darin. Eines Abends geht Jules mit Freunden aus und kehrt nicht nach Hause zurück. Mary Pat macht sich auf die Suche nach ihrer Tochter und stößt auf eine Mauer des Schweigens. Nach dem Tod ihres Sohnes Noel ist Jules das einzige, das Mary Pat im Leben geblieben ist, und sie setzt alles daran zu erfahren, was in dieser Nacht passiert ist. Koste es, was es wolle.

Dennis Lehane hätte es sich leicht machen und eine Geschichte aus der Sicht einer farbigen Familie oder einer nicht rassistischen weißen Familie erzählen können, doch er wählt mit Mary Pat und ihrem Umfeld in South Boston eine rassistische Protagonistin mit kurzer Zündschnur, die den Leser/die Leserin herausfordert. Sehr eindrucksvoll beschreibt Lehane die sozialen Strukturen im Stadtteil South Boston, der überwiegend von der ärmeren weißen Arbeiterklasse irischer Abstammung bewohnt wird. Man kennt sich seit Generationen, man hilft sich gegenseitig und hält zusammen. Der Polizei und der Obrigkeit begegnet man mit Misstrauen, für Ordnung sorgen gewachsene Clanstrukturen. Solange man sich an die ungeschriebenen Gesetze der Gemeinschaft hält, ist man auf der sicheren Seite, wer ausbricht, wird geächtet, wer den Clans in die Quere kommt, aus dem Weg geräumt.

Schreibstil und Sprache geben die aufgeheizte, explosive Stimmung im Vorfeld der Bustransfers deutlich wieder und unterstreichen Mary Pats Temperament, die auf ihrem Rachefeldzug vor nichts und niemandem Halt macht. Besonders positiv fand ich die nüchterne, klare Erzählweise, die auf lange Showdowns und Pathos verzichtet.

Mich hat die Geschichte bis zum Schluß gefesselt, und ich habe parallel zum Buch einiges zu den Bustransfers und den damit verbundenen Aufständen nachgelesen. Dass diese Transfers in Boston bis 2013 existierten und über viele Jahre zu Unruhen führten, insbesondere in South Boston, wusste ich bisher nicht. Lehane ist es hervorragend gelungen, die historischen Ereignisse und eigene Erinnerungen mit einer spannenden und aufwühlenden fiktiven Geschichte zu verbinden, die tiefe Einblicke in die zerrissene amerikanische Gesellschaft der 1970er Jahre bietet.

Aufgrund der Thematik, einiger gewalttätiger Szenen und des düsteren Settings ist das Buch sicher keine einfache Kost. Wer sich jedoch hierauf einlässt, kann einen echten Ausnahmeroman entdecken, den ich unbedingt weiterempfehlen möchte.