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bookloving
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Munich

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Insgesamt 42 Bewertungen
Bewertung vom 09.01.2025
Nacht über der Havel / Fräulein Gold Bd.7 (1 MP3-CD)
Stern, Anne

Nacht über der Havel / Fräulein Gold Bd.7 (1 MP3-CD)


ausgezeichnet

*Fesselnde Zeitreise ins Berlin der 1930er Jahre*
Mit "Fräulein Gold - Nacht über der Havel" hat Anne Stern bereits den siebten Band ihrer beliebten historischen Hebammen-Reihe rund um die charismatische Protagonistin Hulda Gold vorgelegt.
Auch wer die Reihe noch nicht kennt, kann problemlos mit diesem Band einsteigen, da Stern es versteht, relevante Hintergrundinformationen geschickt in den Plot einfließen zu lassen, so dass auch langjährige Fans nicht gelangweilt werden.
Die Stärke der historischen Saga liegt in der gelungenen Mischung aus sorgfältig recherchiertem zeitgeschichtlichem Setting, spannendem Kriminalfall und der fortlaufenden persönlichen Geschichte von Hulda, die immer mehr an Tiefe gewinnt. Geschickt werden zudem gesellschaftlich relevante Themen in die fiktive Handlung eingewoben. Anne Sterns Erzählstil ist äußerst lebendig und fesselnd, so dass man rasch in die Geschichte gezogen wird.
Die spannende Fortsetzung entführt uns erneut in das turbulente Berlin des Jahres 1930. Mit anschaulichen Beschreibungen zeichnet Stern ein authentisches Bild dieser ausgehenden Weimarer Republik und lässt diese bewegte Epochen lebendig werden. Gekonnt fängt sie die angespannte Atmosphäre in der Metropole ein, die geprägt ist von wirtschaftlicher Krise, sozialen und politischen Spannungen. Hautnah erleben wir das herausfordernde Alltagsleben der Menschen und erhalten aufschlussreiche Einblicke in die komplexen sozialen Dynamiken. Insbesondere die zunehmend schwierigen politischen Umstände, gesellschaftlichen Umwälzungen durch die erstarkenden Nationalsozialisten und komplexen historischen Zusammenhänge werden von Stern eindrucksvoll dargestellt.
Im Mittelpunkt steht natürlich wieder die beeindruckende Protagonistin Hulda Gold, die inzwischen als liebevolle Mutter einer wundervollen Tochter und erfahrene Hebamme die alltäglichen Herausforderungen zu meistern versucht. Halt und Unterstützung findet sie durch ihre alten Freunde aus ihrem Kiez und ihren neuen Lebenspartner. Stern versteht es hervorragend, ihre Charaktere vielschichtig und glaubhaft zu gestalten, sodass sie mit ihren Stärken und Schwächen sehr menschlich wirken. Besonders Hulda entwickelt sich im Laufe der Reihe charakterlich immer weiter. Trotz alle Widrigkeiten bleibt sie Berufung treu und setzt sich unermüdlich für die Bedürftigen und das Wohl von Frauen und Müttern ein. Aus der einst impulsiven jungen Frau ist eine starke, mitfühlende Persönlichkeit geworden, die sich nicht unterkriegen lässt. Ihre emotionale Tiefe macht sie zu einer beeindruckenden und sehr sympathischen Figur, mit der man sich hervorragend identifizieren kann.
Die Handlung dreht sich neben Huldas Privatleben diesmal um einen mysteriösen Tod eines jungen Studenten und Anführer einer Jugendgruppe. Als Hulda bei der Betreuung einer Schwangeren mitbekommt, dass deren jüngere Schwester den Toten gut kannte und zur fraglichen Tatzeit mit ihm bei einem ihrer nächtlichen Jugendtreffen an der Havel war, wird ihr untrüglicher Spürsinn geweckt und sie beginnt den Hintergründen auf die Spur zu kommen.
Bei den Nachforschungen kommt es auch zu einer Wiederbegegnung mit Karl North, ihrem ehemaligen Freund und Ex-Kommissar, der inzwischen als Privatdetektiv arbeitet und glücklich verheiratet ist. Seine Rückkehr in Huldas Leben bringt nicht nur emotionale Spannung, sondern sorgt auch für zusätzliche Dynamik.
ZUM HÖRBUCH
Die talentierte Schauspielerin und Hörbuchsprecherin Anna Thalbach ist eine hervorragende Wahl, die dieses gekürzte Hörbuch erneut äußerst eindrucksvoll interpretiert. Thalbachs Lesung ist lebendig und abwechslungsreich, wodurch das Kopfkino der Zuhörer mühelos angeregt wird. Mit ihrer facettenreichen Stimme erweckt sie die Charaktere gekonnt zum Leben und transportiert das typische Berliner Flair auf wunderbare Weise. Perfekt ist auch die selbstbewusste Hulda Gold, deren Charakter und Emotionen sie gefühlvoll und sehr überzeugend herausarbeitet. Erneut ein absolutes Hörbuch-Highlight!
FAZIT
Eine fesselnde Fortsetzung der historischen Saga um die charismatische Hebamme Hulda Gold. Die gelungene Mischung aus authentischen Charakteren, lebendigem Lokalkolorit und interessantem historischen Hintergrund sowie spannendem Kriminalfall sorgt für beste Unterhaltung!
Empfehlenswert für alle Fans historischer Romane sowie für diejenigen, die das Berliner Flair lieben!

Bewertung vom 06.01.2025
Leuchten am Meeresgrund
Fox, Brad

Leuchten am Meeresgrund


sehr gut

*Eine faszinierende Reise in die Welt der Tiefsee*
Das Sachbuch "Leuchten am Meeresgrund. Aus dem Logbuch der ersten Tiefsee-Expedition" vom US-amerikanischen Schriftsteller, Journalist und Übersetzer Brad Fox widmet sich mit den bahnbrechenden Tiefsee-Expedition von William Beebe im Jahr 1930 einem faszinierenden Kapitel der Meeresforschung. Diese Pionierarbeit in den Tiefen der Ozeane läutete eine revolutionäre Epoche der bemannten Tiefseeforschung ein und markierte einen Wendepunkt in unserem Verständnis der marinen Welt, ähnlich wie der erste Schritt des Menschen auf dem Mond die Raumfahrt für immer veränderte.
In einer außergewöhnlichen Mischung aus Fakten-basierter Dokumentation und fiktiver literarischer Erzählung bringt uns Fox diese historischen Meilensteine, die der Wissenschaft völlig neue Horizonte eröffneten, nahe.
Im Mittelpunkt steht der renommierte amerikanische Wissenschaftler und Pionier William Beebe, und seine bemerkenswerten Tauchgänge vor der Atlantikinsel Nonsuch bei den Bermudainseln. In der eigens von Otis Barton entwickelten Tauchkugel „Bathysphäre“ gelang es ihm und seinem Team in bislang unerreichte Tiefen des Ozeans vorzudringen und dabei ein völlig unbekanntes Ökosystem zu erkunden.
Mit seinen lebendigen, eindrucksvollen Schilderungen Fox gelingt es in seinen vielversprechenden ersten Kapiteln hervorragend, uns nicht nur mit auf eine fesselnde und bizarre Reise in die atemberaubend fremde Welt der Tiefsee zu nehmen, sondern uns an seiner Pionierarbeit und spannenden wissenschaftlichen Entdeckungen teilhaben zu lassen. Gemeinsam mit ihm tauchen wir tief ein in den menschlichen Forscherdrang und erleben die Faszination für eine noch unerforschte Welt, die noch kein Mensch zuvor gesehen hatte.
Gekonnt fängt Fox die überwältigenden Sinneseindrücke ein, die Beebe bei seinen Tauchgängen Abstieg in die unbekannten Tiefen erlebte. Neben atemberaubenden Entdeckungen von nie zuvor gesehenen Kreaturen begegnet er den sich verändernden und kaum in Worte zu fassenden Farben der Dunkelheit, sich verändernden Lichtspielen in der Tiefe sowie den plötzlich auftretenden Biolumineszenen in der faszinierenden Unterwasserwelt mit Verwunderung und großer Ehrfurcht.
Während die anfänglichen Kapitel fesselnd sind, offenbart sich im weiteren Verlauf eine gewisse Inkonsistenz in der Erzählstruktur, die mein Leseerlebnis insgesamt merklich schmälerte. Durch die Aneinanderreihung recht kurzer Kapitel, die oft ohne erkennbare chronologische oder thematische Verbindung nebeneinanderstehen, erschwert es dem Leser, einem klaren roten Faden zu folgen.
Der Autor zeichnet nicht nur Beebes bahnbrechende Tiefseeexpeditionen nach, sondern bettet diese zugleich in einen breiteren Kontext ein. So verwebt er gekonnt nüchterne wissenschaftshistorische Betrachtungen mit fesselnden biographischen Einblicken in Beebes Leben und das seiner Weggefährten sowie bemerkenswerte Begegnungen mit prägenden Persönlichkeiten wie Charles Darwin oder Theodore Roosevelt. Auch beleuchtet er die damaligen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und die persönlichen Motivationen der Forscher.
Fox versteht es hervorragend, die aus verschiedenen Quellen akribisch recherchierten Fakten, Informationen aus den Expeditionstagebüchern und historischen Hintergründe ansprechend und spannend zu präsentieren. Ein besonderes Highlight sind die zahlreichen historischen Schwarz-Weiß-Fotografien, anschaulichen Illustrationen, die teilweise von Beebes wissenschaftlicher Assistentin und Geliebten Gloria Hollister angefertigt wurden, sowie die eindrucksvollen Farbzeichnungen, die von der Künstlerin Else Bostelmann auf Basis von Beebes Beschreibungen entstanden.

Trotz einiger Schwächen gewährt uns das Buch faszinierende Einblicke in die Entwicklung der Meeresbiologie und Tiefseeforschung. Auch die menschliche Seite der wissenschaftlichen Entdeckungen wird von Fox anschaulich und eindrucksvoll vermittelt. Insgesamt ist es Fox gelungen, William Beebe nicht nur als Wissenschaftler, sondern als komplexe Persönlichkeit zu porträtieren und seine außergewöhnliche Arbeit in den größeren gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Zusammenhang zu stellen.

Das Werk wird durch einen äußerst sorgfältig zusammengestellten Anhang komplettiert, der dem wissenschaftlich interessierten Leser eine Fülle zusätzlicher Informationen bietet. Hierin finden sich ausführliche Anmerkungen zum verwendeten Quellenmaterial, einer umfangreichen Bibliografie, die für weiterführende Recherchen genutzt werden kann sowie einem Bildnachweis. Bedauerlicherweise verzichtet der Autor auf ein Nachwort, das möglicherweise eine abschließende Reflexion und Erläuterungen zur thematischen Konzeption hätte bieten können.

Bewertung vom 06.01.2025
Finsteres Herz / Die Toten von Marnow Bd.2
Schmidt, Holger Karsten

Finsteres Herz / Die Toten von Marnow Bd.2


ausgezeichnet

*Abgründe der Macht*
„Finsteres Herz" von Holger Karsten Schmidt ist der mit Spannung erwartete 2. Band der Krimi-Reihe rund um das außergewöhnliche Ermittlerduo Lona Mendt und Frank Elling von der Rostocker Kripo. Nach dem vielversprechenden Auftakt „Die Toten von Marnow“ spielt die fesselnde Fortsetzung erneut vor der malerischen Kulisse Mecklenburg-Vorpommerns und ist zum Ausklang des Jahres 2006 angesiedelt.
Der Krimi überzeugt nicht nur durch seinen packenden Fall, der brisante Themen wie Amtsmissbrauch, Korruption innerhalb der Polizeibehörde und Menschenhandel aufgreift. Insbesondere die temporeiche und sehr gelungene filmreife Umsetzung der vielschichtigen Handlung hält uns in Atem. Kein Wunder, zählt doch der mehrfache Grimme-Preisträger Schmidt zu den erfolgreichsten Drehbuchautoren Deutschlands, was er unter anderem bei der Verfilmung von "Die Toten von Marnow" als vierteilige Fernsehserie für NDR/ARD Degeto eindrucksvoll unter Beweis gestellt hat.
Schmidt gelingt es von Beginn an, mit seinem hochdramatischen Einstieg eine unheilvolle, beinahe greifbare Atmosphäre zu erzeugen und uns in die Geschichte zu ziehen. Sein lebendiger und bildhafter Schreibstil lässt die Schauplätze und Charaktere rasch Gestalt annehmen und erzeugt ein faszinierendes Kopfkino.
Geschickt hat der Autor einen cleveren Plot mit zwei parallelen, zeitversetzt laufenden Handlungssträngen geschaffen. So folgen wir einerseits den Ermittlungen von den Kommissaren Lona Mendt und Frank Elling zu einem grausamen Fund von vier Leichen in einem Waldstück und andererseits begleiten wir die zwei Wochen später anlaufenden Nachforschungen der Sonderermittler Maja Kaminski und Hagen Dudek. Sie sollen die Hintergründe eines schief gelaufenen Zeugenschutzeinsatz aufklären, in den ihre beiden Kollegen verwickelt waren. Im Mittelpunkt der dramatischen Geschehnisse steht das 12-jährige bulgarische Waisenmädchen Sarah, das nach dem Massaker im Safe House am Silvesterabend spurlos verschwindet. Gekonnt verwebt Schmidt die Handlungsstränge zu einem komplexen, sehr stimmigen Plot.
Die wendungsreiche Geschichte entwickelt sich zu einem faszinierenden Katz-und Maus-Spiel, bei dem die Suche nach der Wahrheit durch gelöschte Akten, einen mysteriösen Maulwurf in den eigenen Reihen und mächtige, skrupellose Gegner aus der organisierten Kriminalität erschwert wird. Der Autor versteht es hervorragend, mit unseren Erwartungen zu spielen und die Spannung durch unerwartete Wendungen bis zum fulminanten Showdown kontinuierlich zu steigern.
Die Charakterisierung der vielschichtigen Figuren ist tiefgründig und überzeugend. Besonders die vier Hauptermittler werden mit ihren persönlichen Hintergründen, Konflikten und verborgene Agenden äußerst stimmig dargestellt, wodurch sie sehr menschlich und nahbar wirken. Im Laufe ihrer Ermittlungsarbeit stoßen sie immer wieder an ihre moralischen Grenzen und verstricken sich in fragwürdige Handlungen. Diese Makel und Fehlentscheidungen machen sie authentisch und erlauben es uns, sich in ihr Innenleben hineinzuversetzen.
Der Roman bietet mit seiner komplexen, gut durchdachten Handlung nicht nur spannende Unterhaltung, sondern regt mit den angeschnittenen brisanten Themen auch zum Nachdenken über moralische Fragen sowie gesellschaftliche Missstände und Abgründe und an.
FAZIT
Ein rundum überzeugender, fesselnder Krimi, der geschickt hochspannende Ermittlungsarbeit mit moralischen und gesellschaftlichen Fragestellungen verbindet. Ein lesenswerter Krimi, der unter die Haut geht und noch lange nachwirkt – ein Muss für alle Fans anspruchsvoller Krimis!

Bewertung vom 20.12.2024
Suche liebevollen Menschen
Borger, Julian

Suche liebevollen Menschen


ausgezeichnet

*Bewegende Spurensuche -eine Chronik des Überlebens und der Hoffnung*
Das Buch "Suche liebevollen Menschen: Mein Vater, sieben Kinder und ihre Flucht vor dem Holocaust" von Julian Borger, dem Leiter des Außenpolitik-Ressorts der britischen Zeitung »The Guardian«, ist ein tiefgründiges und sorgfältig recherchiertes Werk, das die erschütternden Schicksale jüdischer Kinder aus Wien während des Holocausts beleuchtet.
Borger, der lange Zeit mit unbeantworteten Fragen zu seiner Familiengeschichte lebte, begibt sich nach dem erschütternden und unerwarteten Suizid seines Vaters Robert im Jahr 1983 auf eine bewegende Spurensuche. Diese führt ihn nicht nur zu den Wurzeln seiner Familie, sondern enthüllt auch bislang unbekannte und verborgene Familiengeheimnisse. Seine umfangreiche Recherche entwickelt sich zu einer emotionalen Reise in die Vergangenheit, bei der Borger Schicht um Schicht die komplexe Geschichte seiner Familie aufdeckt und bisher unerzählte Kapitel im Leben seines Vaters und seiner Verwandten offenbart.
Ausgangspunkt für Borgers Buch bildet eine zufällig entdeckte Anzeigenspalte im Manchester Guardian vom 3. August 1938, in der verzweifelte jüdische Eltern aus Wien um Aufnahme für ihre Kinder in englischen Familien baten. Darunter ist auch eine kurze Annonce, in der Borgers weitsichtiger Großvater Leo nach einer "liebevollen Person" für seinen Sohn Robert suchte. So beginnt Borgers auf Basis der Kleinanzeigen seine fesselnden Nachforschungen nicht nur zur Geschichte seines eigenen Vaters, sondern auch zu sechs weiteren jüdischen Kindern aus Wien, die durch ähnlich verzweifelte Anzeigen vor der Verfolgung durch die Nazi-Diktatur in Sicherheit gebracht und vor dem sicheren Tod bewahrt werden sollten.
Borger gelingt es hervorragend, die persönliche Lebensgeschichte seines Vaters Robert mit den bewegenden Einzelschicksalen der anderen Flüchtlingskinder zu verknüpfen und dabei zugleich aufschlussreiche historische Aspekte des Holocausts zu beleuchten. Durch die geschickte Verflechtung von individuellen Erlebnissen mit bedeutsamen historischen Ereignissen schafft der Autor ein vielschichtiges Bild der damaligen Zeit. Die einfühlsame Schilderung der Einzelschicksale ermöglicht es, sich emotional mit den Betroffenen zu identifizieren und deren erschütternde Erfahrungen nachzuvollziehen.
Die besondere Stärke des Buches liegt in Borgers fundierter Recherche und seiner Fähigkeit, die emotionale Tiefe der geschilderten Erlebnisse zu vermitteln. Sein lebendiger, anschaulicher Schreibstil erleichtert den Zugang zu dem schwierigen und sehr aufwühlenden Thema. Vereinzelt lockern Schwarz-Weiß-Fotografien aus Familienarchiven den Text auf und verleihen den erzählten Geschichten eine zusätzliche Authentizität.
Detailliert und eindrucksvoll zeichnet Borger die unterschiedlichen Wege nach, die diese Kinder einschlugen, beschreibt die näheren Umstände ihrer Flucht, ihre Widerstandsfähigkeit und den ungebrochenen Überlebenswillen bei ihrer Anpassung an das neue Leben in der Fremde.
Borger führt uns anschaulich die langfristigen Auswirkungen der traumatischen Flucht und des Verlusts der Familie auf die Identität und das psychische Wohlbefinden der Geretteten vor Augen. Viele Betroffenen wählten den Weg der Verdrängung, um weiterleben zu können, was die Aufarbeitung der Traumata erschwerte.
Gleichzeitig ergründet Borger die subtilen Mechanismen des transgenerationalen Traumas, dessen Auswirkungen über Generationen hinweg bis in die Gegenwart reichen. Einfühlsam zeigt er auf, wie unterschiedlich die Betroffenen mit ihren Erlebnissen umgegangen sind. Er beleuchtet eingehend zudem die emotionalen Narben, die die Erfahrungen bei den Überlebenden und ihren Nachkommen hinterlassen haben. Eindrücklich streicht er heraus, wie schwierig bei vielen die Balance zwischen dem Erinnern und dem Weiterleben ist und wie problematisch ein Verharren in traumatischen Erinnerungen und deren vollständiger Verdrängung ist. Geschickt thematisiert er auch die verpassten Gelegenheiten, mit den Überlebenden über ihre Erfahrungen zu sprechen.
Für Borger selbst hat sich das Verfassen dieses Werkes zu einer vielschichtigen Erfahrung entwickelt, die weit über eine bloße Aufarbeitung der Vergangenheit hinausgeht und zu einer tiefgreifenden Reise des Verstehens seiner Familiengeschichte wurde. Somit ist Borgers Buch nicht nur eine bewegende Chronik des Überlebens, sondern auch eine lehrreiche Reflexion über die lebenslangen Auswirkungen von Trauma und Verlust auf die Überlebenden und ihre Familien. Zudem erinnert es eindringlich an die Kraft der Hoffnung und Menschlichkeit in Zeiten grauenvollen Leids und unvorstellbarer Grausamkeit.

FAZIT
Ein emotional berührendes, lehrreiches und historisch wertvolles Buch, das nur ein bewegendes Zeugnis persönlicher Schicksale ist, sondern auch eine eindringliche Mahnung an zukünftige Generationen aus der Geschichte zu lernen!
Ein wichtiger Beitrag zur Erinnerungskultur!

Bewertung vom 19.12.2024
Slow Gardening
Grindmayer, Elisabeth;Haßelbeck, Stephanie

Slow Gardening


ausgezeichnet

*Ein toller Wegweiser zur naturnahen Gartenkultur*
Das wundervolle, beim Kosmos-Verlag erschienene Buch "Slow Gardening: Unser Weg zum naturnahen Küchengarten" von Elisabeth Grindmayer und Stephanie Haßelbeck ist so viel mehr als nur ein gewöhnlicher Gartenratgeber mit ausführlichen Schritt-für-Schritt-Anleitungen – es ist vielmehr eine faszinierende Einführung ins „Achtsame Gärtnern“ und eine neue kreative Gartenkultur, die auf Nachhaltigkeit und Naturnähe setzt.
Die Schwestern Lisa und Steffi, auch bekannt als @farmmade_sisters, präsentieren mit ihrem Buch einen inspirierenden und praxisnahen Ratgeber für alle, die einen naturnahen Küchengarten anlegen und pflegen möchten.
Als Quereinsteigerinnen mit landwirtschaftlichen Wurzeln lassen sie uns sehr anschaulich an ihren Erfahrungen aus ihren Gärten in Bayern und Schweden teilhaben und stellen uns ihre persönliche Herangehensweise an nachhaltiges Gärtnern vor. Die sympathischen Autorinnen verstehen es hervorragend, eine beeindruckende Fülle an Informationen in einem gut strukturierten Format leicht verständlich und abwechslungsreich zu präsentieren. So deckt das Buch ein breites Spektrum an praxisorientierten Themen ab, die für das naturnahe Gärtnern relevant sind, und bietet dem interessierten Leser viele tolle Anregungen, interessantes Hintergrundwissen, nützliche Hinweise sowie Tipps für leckere Rezepte.
Im allgemeinen, einführenden Teil des Buchs stellen die Autorinnen ihre „Philosophie“ des Slow Gardening als ganzheitlichen Ansatz vor. Ihnen geht es vor allem um die Schaffung eines naturnahen, vielfältigen und bedürfnisorientierten Gartens mit einem besonderen Fokus auf Nachhaltigkeit, Selbstversorgung und bewusstes, tierfreundliches Gärtnern.
Die Autorinnen geben spannende Einblicke in ihre persönlichen Erfahrungen, ihre Erfolgserlebnisse, Lernprozesse und so manche Rückschläge, wo uns dazu ermutigt, selbst zu experimentieren, Erfahrungen zu sammeln und eigene eigene Wege im Garten zu gehen. Das Buch richtet sich sowohl an Einsteiger als auch an erfahrene Gärtner, die ihr Wissen erweitern möchten und sich für einen naturnahen Ansatz interessieren.
Die vorgestellten Gartenkonzepte sind äußerst flexibel und lassen sich leicht an individuelle Bedürfnisse sowie verschiedene Gartengrößen anpassen.
Das Inhaltsverzeichnis gibt einen Überblick über die behandelten Hauptthemengebiete:
KÜCHENGARTEN BASICS, VIELFALT IM GEMÜSEBEET, BLUMEN FÜR TISCH & TAFEL, KRÄUTER & HEILPFLANZEN; HALTBARMACHEN sowie NATURNAH GÄRTNERN.
Egal ob man sich für Anlage und Pflege eines Küchengartens, alte Tomatensorten und Bewahrung traditioneller Methoden, Wildwiesen und Förderung der Biodiversität oder eher für praktische Tipps zur natürlichen Schädlingsbekämpfung interessiert – man findet in diesem Buch viele Anregungen und jede Menge Praxiswissen, so dass man gar nicht mehr abwarten kann, die vorgestellten Konzepte in die Praxis umzusetzen.
Besonders gut haben mir die detaillierten Anleitungen zur Gestaltung eines vielfältigen Küchengartens,
die hilfreiche Mischkulturtabelle sowie die nach Jahreszeiten geordneten To-Do-Listen für das Gemüsebeet gefallen, die eine übersichtliche Orientierung für die anstehenden Tätigkeiten bieten.
Darüber hinaus wird aber nicht nur die Kultivierung von Nutzpflanzen behandelt, sondern die Autorinnen widmen sich auch der Schönheit von Blumen und der Wichtigkeit von Heilkräutern.
Besonders hervorzuheben sind außerdem die tollen Rezepte und kreativen Ideen zur Verarbeitung und Konservierung der Ernte aus eigenem Anbau, aus denen ich noch viele neue Anregungen mitnehmen konnte.
Die optische Gestaltung des gebundenen Buchs ist außerordentlich gelungen. Auf dem matten, griffigen Papier kommen die farbigen Fotos und verschiedenen Tabellen hervorragend zur Geltung. Die Verarbeitungsqualität ist einwandfrei und unterstreicht den rundum positiven Gesamteindruck.
Ansprechende, gut verständliche und unterhaltsam verfasste Texte und vor allem die vielen, stimmungsvollen Farbfotos und gelungenen Schnappschüsse von den Autorinnen, die mit schönen Impressionen und ungewöhnlichen Perspektiven nicht nur die Schönheit naturnaher Gärten einfangen sondern als praktische Anleitungen auch den Inhalt sehr anschaulich illustrieren. Sie sorgen dafür, dass man das Buch immer wieder gerne zur Hand nimmt. So lässt man sich beim Durchblättern gerne inspirieren und geht aufgrund der hilfreichen Ratschläge hochmotiviert ans Werk.
Abgerundet wird das Buch mit einem kurzen Autorinnen-Porträt, einer Danksagung, einigen weiterführenden nützlichen Adressen sowie einem alphabetischen Register.

FAZIT
Ein rundum gelungener Wegweiser rund ums naturnahe Gärtnern, der mit seiner perfekten Mischung aus Grundlagenwissen, praxisnaher Herangehensweise, kreativen Ideen und wunderschöner inspirierender Gestaltung überzeugt.
Ein Muss für alle, die einen nachhaltigen, vielfältigen und ertragreichen Küchengarten planen!

Bewertung vom 19.12.2024
Lückenbüßer / Kommissar Kluftinger Bd.13 (13 Audio-CDs)
Klüpfel, Volker;Kobr, Michael

Lückenbüßer / Kommissar Kluftinger Bd.13 (13 Audio-CDs)


sehr gut

*Kultkommissar Kluftinger zwischen Kriminalfall und Lokalpolitik*
Die beliebte Krimireihe um Kommissar Kluftinger von dem deutschen Autorenduo Volker Klüpfel und Michael Kobr geht mit " Lückenbüßer" bereits in die dreizehnte Runde.
Da Vorkenntnisse aus den vorherigen Bänden der Reihe und aus früheren Fällen nicht erforderlich sind, können die Krimis problemlos auch unabhängig voneinander gelesen werden.
Die Regionalkrimi-Reihe zeichnet sich durch eine unterhaltsame Mischung aus interessantem Krimifall, viel Allgäuer Lokalkolorit und charakteristischem Humor aus, gewürzt mit urigen, lebendigen Charakteren und gelungener Situationskomik.
Interims-Polizeipräsident Kluftinger leitet die Anti-Terror-Übung „Alpenglühen“ in den Allgäuer Bergen. Doch der routinemäßige Einsatz muss abgebrochen werden, als ein Polizist tot aufgefunden wird. Nun stehen schwierige Ermittlungen zum fatalen Ausgang des aus dem Ruder gelaufenen Einsatzes an und zur möglichen Verantwortung für den mysteriösen Todesfall. Auch privat hat der sympathische Kommissar Kluftinger einiges um die Ohren. So hat er sich breitschlagen lassen, sich auf eine Liste für die Gemeinderatswahl setzen zu lassen und als Lückenbüßer einzuspringen. Als er jedoch erfährt, dass sein Erzrivale Dr. Langhammer ebenfalls kandidiert, wird sein Ehrgeiz geweckt und sein Ausflug in die Lokalpolitik entwickelt sich zunehmend zu einem erbitterten Wahlkampf.
Nun sieht sich Kluftinger mit gleich zwei Herausforderungen konfrontiert, denn neben seiner unerwartet zeitaufwändigen Kandidatur für den Gemeinderat gilt es auch die wahren Hintergründe des vermeintlichen Unglücks mit Todesfolge aufzuklären.
Der eigentliche Kriminalfall entwickelt sich leider sehr gemächlich und tritt hinter der Rahmenhandlung um Kluftingers Privatleben und den Wahlkampf derart stark zurück, dass kaum Spannung aufkommt. Die Ermittlungen verlaufen lange ohne klare Spur, gewinnen erst zum Ende hin an Dynamik.
Der Regionalkrimi lebt vor allem von seinen skurrilen Charakteren und dem humorvollen Schreibstil. Trotz seiner vielen Schrullen ist Kluftinger ein sympathischer Protagonist, der zum Ende hin sogar mit einer reiferen Seite seiner Persönlichkeit überraschen kann.
Im Gegensatz zu seinem naiven, etwas tollpatschigen Auftreten im Alltag agiert er als Ermittler durchaus kompetent. Insbesondere die Einblicke in sein Privatleben und sein unbeholfener Umgang mit moderner Technik und sozialen Medien, sorgen für zahlreiche amüsante Momente. Besonders unterhaltsam sind auch seine schlagfertigen Wortgefechte mit seinem Rivalen Dr. Langhammer. Allerdings wirken die wiederkehrenden Elemente seines vorhersehbaren Verhaltens und seine charakteristischen Sprüche inzwischen etwas ermüdend. Eine deutlichere Weiterentwicklung des Charakters wäre wünschenswert.
Die Auflösung des Falls schließlich ist schlüssig, aber sehr vorhersehbar und bedient für meinen Geschmack aber zu sehr aktuelle gesellschaftspolitische Klischees.
ZUM HÖRBUCH
Ein besonderes Highlight ist das Einlesen des Hörbuchs durch die Autoren Klüpfel und Kobr zusammen mit Martin Umbach. Durch den Einsatz des Allgäuer Dialekts erhält die unterhaltsame Geschichte das gewisse Etwas und durch die regionale Färbung eine besondere Authentizität. Ihre Stimmen passen sehr gut zu den urigen Charakteren und der Atmosphäre des humorvollen Krimis.
So fällt es nicht schwer, sich in das lebendig dargestellte Setting und Allgäuer Lokalkolorit hineinzuversetzen.
Die Sprecher sorgen mit ihrer stimmigen stimmlichen Interpretation für eine lebendige und authentische Lesung. Es gelingt ihnen hervorragend, Dynamik und Tempo an die jeweilige Stimmung anzupassen und an den richtigen Stellen auch Humor, Emotionen und feine Nuancen einzubringen.
Insgesamt ist die Synchronisation des ungekürzten Hörbuchs durch den dynamischen Vortrag und das nette regionale Flair sehr gelungen und sorgt für einen vergnüglichen Hörgenuss!
FAZIT
Eine solide Fortsetzung der unterhaltsamen Kluftinger-Kult-Reihe – mit tollem Allgäuer Lokalkolorit, humorvollen Episoden, liebenswerten Charakteren und einem leider nur schwachen Kriminalfall.
Für langjährige Klufti-Fans und Liebhaber des Allgäus wieder ein kurzweiliges Hörvergnügen!

Bewertung vom 15.12.2024
Roter Sommer
Harbour, Berna Gonzalez

Roter Sommer


ausgezeichnet

*Fesselnde Ermittlungen im Schatten der Kirche*
Der Debütroman "Roter Sommer" der spanischen Journalistin und Autorin Berna González Harbour ist ein fesselnder Kriminalroman, der einen spannenden fiktiver Kriminalfall gekonnt mit einem hochbrisanten und dunklen Kapitel der jüngeren Kirchengeschichte verknüpft.
In dem 2012 in Spanien erschienenen und erst 2024 auf Deutsch veröffentlichten Krimi thematisiert die Autorin den sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche - ein erschütterndes Thema, das nach wie vor nichts an Aktualität eingebüßt hat und die Gesellschaft weiterhin bewegt.
Die Geschichte spielt in Spanien im Sommer 2010. Comisaria María Ruiz wird mit einem erschütternden Mordfall konfrontiert, als die Leiche eines jungen Mannes im Teich des Madrider Stadtparks entdeckt wird. Die Ermittlungen nehmen eine unerwartete Wendung, als sich Hinweise auf eine mögliche Verbindung zu einem weiteren vermissten Jugendlichen verdichten, denn beide Opfer waren Schüler derselben katholischen Bildungseinrichtung. María Ruiz und ihr Ermittler-Team stoßen auf eine erschütternde Spur, die sie in die dunklen Tiefen von Missbrauchsfällen und deren systematischer Vertuschung in der katholischen Kirche führt. Nach und nach verdichten sich die Hinweise auf ein weitreichendes Netzwerk des Schweigens und der Mittäterschaft, das die Ermittler auf der Suche nach dem Täter vor komplexe Herausforderungen stellt.
Die vielschichtige Erzählstruktur konfrontiert uns mit zahlreichen Puzzlestücken zu dem rätselhaften Fall sowie mit offenen Fragen, die zunächst schwer einzuordnen sind. Es offenbart sich ein komplexes Netzwerk von Geheimnissen, das die Ermittler zu entwirren versuchen. Die häufigen Perspektivwechsel zwischen den verschiedenen Handlungssträngen und Charakteren sowie die oft sehr kurzen Passagen sind zwar anfangs etwas verwirrend, erzeugen aber eine intensive Spannung und ein rasantes Tempo. Die anspruchsvolle Erzählweise und der prägnante Schreibstil fesseln von Beginn an und lassen uns in die vielschichtige Geschichte eintauchen.
Der Autorin gelingt es sehr eindrucksvoll, die aufgeheizte Atmosphäre des heißen spanischen Sommers, die Euphorie anlässlich der damaligen Fußballweltmeisterschaft in Südafrika, bei der die spanische Nationalmannschaft um den Titel kämpfte und die gleichzeitige Anspannung angesichts der aufkommenden Missbrauchsvorwürfe und den Vorbereitungen auf den bevorstehenden Papst-Besuch einzufangen.
Es wird deutlich dass, González Harbour sich intensiv mit der heiklen Thematik des Missbrauchs auseinandergesetzt hat und auf ihre umfangreichen journalistischen Recherchen zurückgreifen kann. Ihr gelingt es hervorragend, das Thema im Rahmen der Handlung aus verschiedenen Blickwinkeln zu beleuchten, was eine differenzierte Auseinandersetzung ermöglicht. Durch den investigativen Journalisten Luna erleben wir hautnah die bedeutsame Rolle der Medien bei der Aufklärung mit, der trotz vieler Widerstände und Einschüchterungen versucht, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Aus der Ermittlerperspektive erhalten wir aufschlussreiche Einblicke in die vielfältigen Herausforderungen und emotionalen Belastungen durch die Konfrontation mit den entsetzlichen Verbrechen. Eindringlich schildert sie in Rückblenden auch die leidvollen Erlebnisse und das Schicksal der Opfer und macht sehr einfühlsam auf die erschütternden Auswirkungen des Missbrauchs aufmerksam. Darüber hinaus gewährt uns die Autorin aufschlussreiche Einblicke in die befremdliche Gedankenwelt des Täters und dessen tragischer Vorgeschichte, die uns in menschliche Abgründe blicken lässt. Nicht zuletzt zeigt sie uns auch sehr eindringlich die schockierende Perspektive der spanischen Kirche auf die Missbrauchsfälle auf, die diese als interne Angelegenheiten und nicht als Straftaten behandelt, systematisch an institutioneller Vertuschung mitwirkt und eine juristische Aufarbeitung mit aller Macht unterbindet.
Wir begegnen im Krimi einer Vielzahl interessanter Charaktere, die uns mit ihrer deren Gedanken- und Gefühlswelt weitgehend überzeugend nahegebracht werden. Allerdings hätte ich mir bei einigen Figuren eine etwas tiefgründigere Charakterentwicklung gewünscht. Besonders die differenzierte Darstellung der lebensnahen Hauptfigur Comisaria María Ruiz und die schrittweise Enthüllung ihres Privatlebens und ihrer Vorgeschichte sind gelungen und überzeugend.
Der Roman endet mit einer glaubwürdigen Auflösung des Falls und einem realistischen Ausklang, der zum Nachdenken über die aufgeworfenen moralischen und gesellschaftlichen Fragestellungen anregt.
FAZIT
Ein packender Kriminalroman, der nicht nur durch seine spannende Handlung überzeugt, sondern auch durch die tiefgründige Auseinandersetzung mit einem der drängendsten Themen der Gegenwart: dem sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche.

Bewertung vom 15.12.2024
Antichristie
Sanyal, Mithu

Antichristie


ausgezeichnet

*Eindrucksvoller Roman*
Nach ihrem gefeierten Debütroman "Identitti" widmet sich Mithu Sanyal in "Antichristie" erneut hochaktuellen, brisanten Themen.
In diesem faszinierenden, vielschichtigen Roman beleuchtet Sanyal auf provokante, originelle und vor allem humorvolle Art den Kolonialismus, Identität und die Komplexität historischer Narrative.
Geschickt vermischt sie in ihrer fesselnden Geschichte Elemente des historischen Romans, Krimis und der Zeitreisefiktion.
Sanyal setzt sich facettenreich mit der kolonialen Vergangenheit und deren Auswirkungen auf die Gegenwart sowie Formen des Widerstands auseinander. Dabei schärft sie den Blick auf weniger beleuchtete Aspekte der indischen Unabhängigkeitsbewegung und hinterfragt nicht nur die Rolle von Gewalt gegen Unterdrückung und koloniale Strukturen, sondern auch die oft vereinfachte Darstellung historischer Figuren wie Gandhi und anderer einflussreicher, aber weniger bekannter Akteure.
Sie greift aktuelle gesellschaftliche Diskussionen auf und hinterfragt auf unbequeme Weise gängige Vorstellungen, ohne belehrend zu wirken. Kritisch beleuchtet Sanyal oberflächliche Betrachtungsweisen zur kolonialen Geschichte und zum Postkolonialismus, hält uns gleichzeitig einen Spiegel vor und regt zum Nachdenken an.
Gekonnt verwischt sie in ihrem Roman die Grenzen zwischen Gegenwart und Vergangenheit, Realität und Fiktion, aber auch persönlicher und kollektiver Geschichte.

Die Vielschichtigkeit der Erzählung und die Fülle an historischen und kulturellen Referenzen machen den Roman zu einem sehr anspruchsvollen, aber lohnenden Leseerlebnis. Nach einem durchaus herausfordernden Einstieg, der etwas Durchhaltevermögen erfordert, entwickelt die komplexe Geschichte zunehmend eine fesselnde Dynamik.
Die verschachtelten, genial miteinander verwobenen Zeitebenen schaffen eine komplexe Struktur, die der Autorin eine eingehende Auseinandersetzung mit historischen und aktuellen politischen Themen und eine differenzierte Betrachtung von persönlicher und kollektiver Geschichte ermöglicht.
Angesiedelt ist die Geschichte im London des Jahres 2022, kurz nach dem Tod der Königin. Im Mittelpunkt der Handlung steht die Protagonistin Durga, eine 50-jährige internationale Drehbuchautorin mit deutsch-indischen Wurzeln, die an einer woken Verfilmung der klassischen Agatha-Christie-Krimis mitwirken soll. Nach dem Tod ihrer Mutter findet sie sich plötzlich nicht nur im Jahr 1906 wieder sondern im Körper des jungen Inders Sanjeev. Auf ihrer unerwarteten Zeitreise trifft sie auf eine Gruppe indischer Revolutionäre, die im Gegensatz zu Gandhi nicht auf Gewaltlosigkeit setzen und sie mit zentralen Fragen des Widerstands gegen Unterdrückung konfrontiert.
Mit der Protagonistin Durga hat Sanyal eine faszinierende und sehr vielschichtige Figur geschaffen. Aufgrund ihrer deutsch-indischen Herkunft verkörpert sie selbst die Komplexität kultureller Zugehörigkeit. Ihre Reise durch die Zeit, ihr Genderwechsel sowie die Konfrontation mit verschiedenen Formen des Widerstands lassen sie eine interessante, tiefgreifende Charakterentwicklung durchlaufen.
Sanyals äußerst lebendiger Schreibstil ist sehr kreativ und unterhaltsam. Er ist durchsetzt mit Anglizismen und integriert geschickt verschiedene Textformen wie Dialoge, Tweets und Drehbuch-Auszüge. Hervorragend haben mir auch die zahlreichen Verweise auf Agatha Christie, Sherlock Holmes und Doctor Who gefallen.

FAZIT
Ein unglaublich komplexer und anspruchsvoller Roman über kulturelle Identität, die Komplexität historischer Narrative und die Auswirkungen des Kolonialismus auf die moderne Gesellschaft – unterhaltsam, lehrreich, gesellschaftskritisch und humorvoll! Ein beeindruckender Roman, der noch lange nachwirkt, zum Überdenken eigener Positionen anregt und zum erneuten Lesen anregt. Äußerst lesenswert!

Bewertung vom 15.12.2024
Der längste Schlaf
Raabe, Melanie

Der längste Schlaf


ausgezeichnet

*Fesselnder Mystery-Thriller*
In ihrem neuen fesselnden Roman „Der längste Schlaf“ entführt uns die deutsche Autorin Melanie Raabe auf eine abenteuerliche und mitreißende Reise, die tief in den faszinierenden Themenkreis rund um Schlaf, Schlaflosigkeit, Geister der Vergangenheit und prophetische Träume eintaucht. Der Roman kombiniert geschickt Elemente aus dunkler Familiengeschichte, Psychothriller und Liebesgeschichte mit zahlreichen übersinnlichen Mystery-Elementen, sodass er sich mit seiner abwechslungsreichen und stimmigen Mischung nicht eindeutig einem einzigen Genre zuordnen lässt, sondern am ehesten im Bereich des „Magischen Realismus“ verortet werden kann.
Im Mittelpunkt der Geschichte steht die junge Wissenschaftlerin und führende Schlafforscherin Mara Lux, die in London lebt und nach dem frühen Unfalltod ihrer Eltern kaum noch Verbindungen nach Deutschland hat. Seit langem hat Mara mit den Traumata ihrer Vergangenheit zu kämpfen; zudem leidet unter schwerer Insomnia, da ihre Träume auf mysteriöse Weise bisweilen real zu werden scheinen.
Mit ihrem ausdrucksstarken, eindringlichen Schreibstil gelingt es der Autorin hervorragend, uns allmählich in die rätselhafte Geschichte rund um die faszinierenden Protagonistin Mara hinein zu ziehen und eine mysteriöse, dichte Atmosphäre herauf zu beschwören. Gekonnt lässt sie interessante Aspekte der Schlafforschung und Traumdeutung in die spannende, vielschichtige Handlung einfließen. Gemeinsam mit Mara begeben wir uns in die deutsche Provinz, um die rätselhaften Hintergründe einer anonymen Erbschaft eines alten, verwunschenen Herrenhauses zu ergründen.
Von Beginn an hat mich besonders der eingestreute zweite Handlungsstrang in seinen Bann gezogen, der aus einer zunächst unbekannten Ich-Perspektive erzählt wird. Seine Bedeutung für die Haupthandlung erschließt sich erst im Verlauf der komplexen Geschichte und sorgt für eine besondere emotionale Tiefe. Die zahlreichen mysteriösen Geschehnisse und übernatürlichen Elemente tragen erheblich zur Spannung bei und verleihen dem Thriller eine besondere Note.
Melanie Raabe gelingt es hervorragend, ihre vielschichtigen Figuren lebendig werden zu lassen. Mit ihren speziellen Eigenarten wirken sie glaubwürdig und sehr authentisch. Insbesondere die geheimnisvolle Hauptfigur Mara ist eine facettenreiche Persönlichkeit, die es allmählich mit ihren unheilvollen Träumen und ihrer einzigartigen Gabe zu ergründen gilt. Anfangs erscheint sie als etwas unnahbar und kontrolliert, geplagt von Ängsten, Schuldgefühlen und Unsicherheiten, den schmerzvollen Dämonen aus der Vergangenheit und ihren beklemmenden Träumen möchte sie sich nicht stellen. Doch je mehr man schließlich über ihr Leben und die mysteriösen Hintergründe erfährt, desto faszinierender wird ihr starker Charakter. Schließlich fiebert man der Auflösung des dunklen Geheimnisses rund um das Herrenhaus Limmerfeldt und den Hintergründen der Erbschaft regelrecht entgegen.
Gekonnt beleuchtet Raabe in ihrem nachdenklich stimmenden Roman auch den Umgang mit Träumen, den Verlust geliebter Menschen und den Geistern der Vergangenheit aus unterschiedlichen Perspektiven.
Die Autorin versteht es, uns mit einer dichten, oft düster-mysteriösen Atmosphäre zu fesseln und mit einigen überraschenden Verwicklungen bis zum stimmigen Ende zu begeistern.
FAZIT
Ein faszinierender, fesselnder Roman - mit einer emotionalen, vielschichtigen Geschichte, interessanten Charakteren und einem tollen Mystery-Flair!

Bewertung vom 15.12.2024
Juli, August, September
Grjasnowa, Olga

Juli, August, September


sehr gut

*Tiefgründiger Roman*
„Juli, August, September" von der deutschen Schriftstellerin Olga Grjasnowa ist ein eindrucksvoller und tiefgründiger Roman. Aus aus unterschiedlichen Blickwinkeln erforscht sie komplexe Themen wie die Suche nach der eigenen Identität, den Einfluss der Familiengeschichte sowie die Bedeutung des kulturellen Erbes, Glaubens und der jüdischen Wurzeln.
Der Roman bietet zudem scharfsinnige und humorvolle Einblicke in die drängenden, aktuellen Probleme unserer modernen, multikulturellen Gesellschaft, die sich mit Fragen der Sinnsuche, Zugehörigkeit und dem Stellenwert der Familie auseinander setzt. Der Autorin ist eine ausgewogene Mischung aus tiefgründigen Themen und unterhaltsamen Episoden gelungen. Die eher melancholische, bedrückende Grundstimmung wird gekonnt aufgelockert mit der richtigen Portion Ironie, Zynismus und Leichtigkeit. Zudem hat sie geschickt sehr lehrreiche Hintergrundinformationen zur jüdischen Kultur und Geschichte und interessante aktuelle weltpolitische Bezüge in die Handlung eingeflochten.
Die Geschichte dreht sich um Lou und Sergej, einem erfolgreichen Paar mit jüdischen Wurzeln, das mit ihrer kleinen Tochter Rosa in Berlin lebt. Trotz ihres beruflichen Erfolgs empfinden sie eine innere Zerrissenheit und Leere, die durch ihre schwache religiöse Bindung und komplizierten Familiengeschichten, die von der traumatischen Vergangenheit und dem Holocaust geprägt sind, verstärkt werden. Der Roman ist in drei Teile gegliedert, die jeweils einen Monat - Juli, August und September - umfassen und an unterschiedlichen Schauplätzen wie Berlin, Gran Canaria und Tel Aviv spielen. Die sich über drei Monate erstreckende Geschichte bietet aufschlussreiche Einblicke in die verschiedenen Phasen von Lous herausfordernder Suche nach ihrer eigenen Identität, der intensiven Auseinandersetzung mit ihrem Glauben, ihrer Zugehörigkeit und ihrer Familiengeschichte.
Mit der Protagonistin Lou hat die Autorin eine vielschichtige Figur geschaffen, die mit innerer Zerrissenheit, Entwurzelung und Zweifeln an ihrer kriselnden Ehe mit Sergej zu kämpfen hat. Die Leere in ihrem Leben versucht sie durch Alkohol zu betäuben, bis sie beginnt ihre eigene Rolle zu ergründen. Obwohl die Protagonistin anfangs sehr kühl, distanziert und wenig sympathisch wirkt, konnte ich mich im Laufe der Geschichte immer besser in sie hineinversetzen. Hartnäckig beginnt sie die überlieferten Familiengeschichten in unterschiedlichen, wenig stimmigen Versionen zu hinterfragen, die im Laufe der Jahre ihre ganz eigene Wahrheit und labile Dynamik gewonnen haben und sich auf ihr aller Leben auswirkten, um schließlich wichtige Antworten zur Vergangenheit ihrer russischstämmigen Vorfahren zu erhalten und verborgene Wahrheiten ans Licht zu bringen. Faszinierend ist ihre Suche nach ihren eigenen Wurzeln, ihrer Identität und Zugehörigkeit, die Lou nicht nur in die Vergangenheit führt, sondern ihr schließlich auch neue persönliche Perspektiven für ihre Zukunft aufzeigt.
Detailliert und nuancenreich wird die komplexe Beziehung zu ihrem jüdischen Familienclan aus Israel eingefangen, der trotz all der subtilen Spannungen, wechselseitigen Animositäten und ungelösten Konflikte untrennbar miteinander verbunden ist. Die Vielzahl der unterschiedlichen Charaktere ist sehr plastisch und mit ihren Eigenheiten glaubhaft ausgearbeitet.
Besonders beeindruckend ist, wie Lou am Ende die vielen Puzzlestückchen, die ihre Persönlichkeit ausmachen, zusammensetzt, mit sich ins Reine kommt und sich neu definiert. Der offene, aber höchst stimmige Ausklang passt zu dieser faszinierenden, vielschichtigen Geschichte, die zum Nachdenken anregt und viel Raum für eigene Deutungen lässt.

FAZIT
Ein vielschichtiger und tiefgründiger Roman, der mit beeindruckender sprachlicher Präzision die Suche nach Identität, Zugehörigkeit und familiären Wurzeln erforscht.