Den Sommer 2006 habe ich in besonderer Erinnerung: Ich war damals schon etwas älter als Chris Kramer (sowohl der fiktionale als auch der reale), nämlich Anfang 20. Es war der Sommer, in dem ich meinen jetzigen Mann kennenlernte. Bei einigen unserer Dates schauten wir uns damals die Spiele der deutschen Nationalmannschaft an. Bei mir wurden also beim Lesen des Buches einige Erinnerungen wach.
Auch Chris Kramer sucht in Das Leben fing im Sommer an nach der Liebe. Chris‘ großer Traum ist es Fußballprofi zu werden, denn in diesem Sport ist er richtig gut. Ansonsten ist er eher unscheinbar und schon gar nicht cool. Daher kann er sein Glück kaum fassen, als sich plötzlich Debbie, das schönste Mädchen der Schule und Chris‘ großer Schwarm für ihn zu interessieren beginnt. Doch nicht nur das erste Verliebtsein spielt eine wichtige in diesem Roman. Es geht vor allem auch um Freundschaft und um gemeinsame Abenteuer, die einen solchen Sommer unvergesslich machen.
Ich war erstaunt, wie gut sich das Buch lesen ließ. Ich muss es zugeben, ich hatte gewisse Vorbehalte, wenn ein Fußballer ein Buch schreibt. Ich konnte mich sehr gut in die Personen hineinversetzen und die ganze Atmosphäre kam gut rüber. Lediglich der Roadtrip im zweiten Teil und die folgenden Ereignisse waren mir teilweise ein wenig zu weit hergeholt.
Spannend war natürlich immer der Gedanke, wieviel wahres tatsächlich in der Geschichte steckt. Denn die Eckdaten stimmen sämtlich mit der Biografie von Chris Kramer überein, auch der Name seiner Frau ist derselbe. Hierüber hüllte er sich aber auch in Interviews in Schweigen. Ich schätze, dass es sich bei der Geschichte um eine Mischung aus Wahrem und ein paar Ereignissen, die Chris Kramer sich so für einen perfekten Sommer gewünscht und ausgemalt hat, handelt.
Eine schöne, kurzweilige Sommerlektüre, die bereits viele Leser*innen gefunden hat und bestimmt auch den ein oder anderen Mann, der sonst eher selten zu einem Buch greift, zum Lesen bringen wird.
Die Beschreibung von Pearly Everlasting sprach mich sofort an. Es geht um den Bären Bruno, der mit dem Mädchen Pearly zusammen wie ein Bruder aufwächst. Bruno kam als Welpe zur Familie und bleibt auch später Teil dieser. Die Geschichte spielt in den 1920er und 30er Jahren in einem Holzfällercamp irgendwo in den Wäldern von New Brunswick/Kanada. Die Sitten sind dort sehr rau und die Bedingungen werden noch schlechter, als ein neuer Vorarbeiter die Leitung übernimmt. Eines Tages wird dieser tot aufgefunden und der Verdacht fällt schnell auf Bruno. Er wird gefangen und weggebracht. Verzweifelt macht sich Pearly auf die Suche nach ihrem Bärenbruder.
Bei dem Setting und natürlich auch bei dem Bären musste ich sofort an John Irving denken, einen meiner Lieblingsautoren. Die Erwartungen waren also entsprechend hoch. Ich kam allerdings nur sehr schwer in die Geschichte hinein. Eigentlich hatte ich erwartet, dass ich durch sie hindurchfliege, wie das bei Diogenesbüchern bei mir in der Regel so ist. Die Elemente wären auch alle vorhanden gewesen. Es gab skurrile Personen und Situationen (z.B. ein Auto, bei dem nur der Rückwärtsgang funktioniert). Irgendwie funktionierte das aber alles nicht für mich. Ich vermute, dass dies am erzählerischen lag. Ich konnte keine wirkliche Bindung zu Pearly aufbauen. Auch ihre als so besonders bezeichnete Beziehung zu Bruno kam bei mir (abgesehen von den äußeren Umständen natürlich) nicht so rüber. Im Buch gibt es auch eine Stelle, bei der während eines extrem harten Winters Pearlys Mutter und Schwester sterben. Solche Szenen nehmen mich normalerweise sehr mit. Ich hätte die Stelle jedoch beinahe überlesen und fühlte rein gar nichts.
Was haben Kafka, die Brontë-Schwestern, Schiller, George Orwell und Ringo Starr gemeinsam? Sie alle waren an Tuberkulose erkrankt und die meisten von ihnen starben auch daran. Wenn ihr von dieser Krankheit - vor allem unter dem Namen Schwindsucht - hört, denkt ihr vermutlich an längst vergangene Zeiten. Doch dem ist nicht so, Tuberkulose ist noch lange nicht ausgerottet und wird es wahrscheinlich auch nie sein. Sie ist heutzutage allerdings heilbar - zumindest wenn man am richtigen Ort ist. Besonders in den armen und ärmsten Ländern der Welt ist dies jedoch häufig nicht der Fall. Jährlich sterben an dieser Krankheit noch an die 1,3 Millionen Menschen - damit ist sie die tödlichste Infektionskrankheit weltweit (nur Corona machte ihr den Rang kurzzeitig streitig).
Als John Green 2019 nach Sierra Leone reist, begegnet er dem 16-jährigen Henry, der seit Jahren an Tb leidet. Daraufhin beschäftigt er sich zunehmend mit dieser Krankheit. In seinem Buch schildert er ihre Geschichte, wie sie zunächst romantisiert wurde, als Krankheit der weißen Oberschicht und von genialen Dichtern. Erst durch die Entdeckung des Bakteriums M.tubercolosis durch Robert Koch änderte sich dies. Nun wurde sie zu einer Krankheit der Armen und ging mit einer Stigmatisierung einher.
John Green schreibt sehr gut lesbar. Für meinen Geschmack ist das Buch aber häufig zu simpel gehalten. Ich verstehe natürlich, dass er eine sehr breite Leserschaft erreichen möchte. Aber auch dieser hätte er weitere Informationen geben können. Für mich spricht er viele relevante Themen nicht an. Mir stellt sich die Frage nach der Herkunft der Krankheit, nach Verbreitungswegen (immerhin tragen über 30% aller Menschen das Virus in sich), nach der Vererbbarkeit (wenn du Mutter Tb-Erreger in sich trägt, werden sie an den Fötus weitergegeben?), nach Hirn- und Knochentuberkulose (Quasimodo, der Glöckner von Notre Dame, hat seinen Buckel durch letztere). Stattdessen wird zu sehr Henrys Geschichte in den Vordergrund gestellt. Natürlich ist diese schrecklich, steht mir aber zu sehr im Fokus. Auch John Greens eigene Krankheitsgeschichte (kein Tb, sondern eine Angststörung) hat meiner Ansicht nach nichts in der Geschichte verloren.
John Greens Ziel ist es, auf diese Krankheit hinzuweisen. Als Bestsellerautor wird er sicher auch ein breites Publikum erreichen. Ich frage mich jedoch, warum er dies nicht mit etwas anderem verbindet. Er könnte etwa einen Spendenaufruf starten oder (am besten zusätzlich) einen Teil seiner Einnahmen an eine entsprechende Organisation spenden. Vielleicht tut er dies auch, ich konnte jedoch nichts dazu finden. Das ist schade, denn es ist eine verschenkte Chance.
Stadt oder Land? Wo würdet ihr lieber leben? Mir persönlich sind der Stadtrand oder die Vororte am liebsten: man ist nah an der Natur, genießt aber auch die Vorzüge wie Einkaufsmöglichkeiten oder kurze Wege zu Schule, Ärzten etc. Gleichzeitig kennt man die Leute, genießt aber dennoch eine gewisse Anonymität.
In Hier draußen haben Lara und Ingo den Schritt gewagt und sind aus der Hamburger Reihenhaussiedlung auf einen Resthof irgendwo in Schleswig-Holstein gezogen. Sie wollten mehr Platz, vor allem für die Kinder. Lara arbeitet vom Home Office aus, Ingo pendelt. Eigentlich wollten sie auch einen Coworking-Space eröffnen, doch bis jetzt wurde nichts daraus. Ganz so idyllisch wie sich die beiden das Landleben vorgestellt haben, läuft es allerdings nicht. Ingo ist von der vielen Fahrerei stark gestresst, Lara fühlt sich oft einsam und findet nicht so recht Anschluss im Dorf. Dann fährt Ingo eines Tages auf dem Heimweg eine Hirschkuh an, die nun erschossen werden muss. Der herbeigerufene Jäger Uwe macht dies aber nur gemeinsam mit Uwe. Denn wer eine Weiße erschießt, so weiß es der örtliche Aberglaube, ist selbst innerhalb eines Jahres dran.
Hier draußen zeigt sehr gekonnt die unterschiedlichen Aspekte des Landlebens auf. Der enge Zusammenhalt der Einheimischen, wobei allerdings auch jeder und vor allem jede seine oder ihr Aufgabe zu erfüllen hat und auch am jeweiligen Platz zu bleiben hat. Da ist zum Beispiel Tove, die schon seit Jahren unter ihrem Mann leidet, aber bei ihm bleibt, weil man das halt so macht. Maggie hat ins Dorf hineingeheiratet, ist dort sehr glücklich. Sie ist diejenige, die sich am stärksten um die Organisation von Festen und dergleichen kümmert, um nur ja dazuzugehören und akzeptiert zu werden. Jutta lebt mit Armin in einer alten Schmiede. Die beiden sind der Rest einer freigeistigen WG und mittlerweile fester Bestandteil des Dorfes, auch wenn sie manchmal noch etwas skeptisch beäugt werden.
Die Geschichten all dieser Personen beschreibt Martina Behm in ihrem Debüt. Sie macht dies erzählerisch sehr schön, immer mit wechselnden Perspektiven, teilweise mit Rückblicken. Dabei schafft sie es, die einzelnen Personen sehr lebensnah und vielseitig darzustellen. Besonders die Frauen stehen im Vordergrund, mit ihrer ganzen täglichen Belastung durch die Carearbeit. Aber auch die Männer sind durch die unterschiedlichsten Dinge belastet. Ein sehr gut zu lesender Roman, der lediglich in der Mitte etwas knapper gehalten werden könnte.
Schafft man es, fast 600 Seiten an 2,5 Tagen zu lesen, neben dem normalen Alltag? Wenn das Buch so spannend ist wie Der Gott des Waldes, dann klappt das!
Das Buch beginnt relativ langsam. Wir erfahren zwar ziemlich schnell, dass ein Mädchen aus einem Ferienlager verschwunden ist, doch die weiteren Entwicklungen dauern. Denn es wird zunächst über die unterschiedlichen Personen berichtet. Da ist Louise, eine Betreuerin der Mädchen; Tracy, die engste Freundin von Barbara, dem verschwundenen Mädchen; Judy, eine Trooperin und Ermittlerin; Barbaras Mutter Alice etc. Nur bruchstückhaft erfahren wir von den Geschehnissen dieses Sommers und vor allem auch von denen eines Sommers 14 Jahre zuvor: damals verschwand Barbaras Bruder Bear. Die beiden sind die Kinder der van Laars, der Eigentümer des Camps, Bankbesitzer und sehr reich.
Die langsame Erzählweise wurde in manchen Besprechungen kritisiert. Ich fand sie jedoch sehr passend. Denn nach und nach kommen immer weitere Details ans Licht. Dies ist natürlich ein erzählerisches Mittel, um Spannung zu erzeugen. Doch die meisten Krimis spielen mit solchen Elementen. Wüsste man alles von Anfang an, würde das Interesse oft schnell nachlassen. Durch die kurzen Kapitel wurde es auch nie langatmig. Mir gefiel auch, dass die Figuren praktisch alle nicht perfekt waren; jede*r hatte sein Päckchen zu tragen. Dies im Zusammenspiel mit der Erzählweise, den Zeitsprüngen und weiteren Elementen wie dem entflohenen Gefangenen, bekommt die Geschichte trotz allem etwas atemloses.
Schnell wird auch klar, dass die van Laars etwas zu verbergen haben. Denn das Atemlose scheint bei ihnen nicht anzukommen, obwohl es doch ihre Kinder sind, die verschwunden sind. Sie wirken fast teilnahmslos, was bei Alices Zustand verständlich ist, bei Peter jedoch nicht.
Ich konnte das Buch kaum aus der Hand legen, je weiter die Geschichte voranschritt, desto schneller las ich. Ich wollte unbedingt wissen, was mit den beiden Kindern geschehen war. Teilweise fühlte ich mich an ein anderes Buch erinnert, dessen Titel ich jedoch hier nicht nennen kann, um nicht zu spoilern.
Der Gott des Waldes ist jedoch nicht nur ein literarischer Thriller, sondern auch ein Stück Gesellschaftskritik. Denn mächtige und reiche Familien wie die van Laars gibt es immer wieder. Für sie spielen häufig nur der eigene Vorteil, die Familienehre eine Rolle. Dafür werden Opfer gebracht, wichtig ist lediglich, dass nichts nach außen dringt. Es wundert wenig, dass Alice in dieser Umgebung verrückt wird.
Es gibt Bücher, die sind vom ersten Satz an einfach perfekt. Genau so eines ist Für Polina. Fritzi Prager ist eine ganz besondere Figur, aber auch die anderen Personen sind unglaublich gut herausgearbeitet und liebenswert (wobei ich Polina tatsächlich am wenigsten mochte). Ich liebe generell Bücher, in denen es um die Liebe zur Musik und besonders talentierte Menschen geht. Ich höre mir dann auch diese Stücke an oder versuche- wie in diesem Fall- mir vorzustellen, wie sie klingen könnten.
Was Für Polina aber so außergewöhnlich macht, ist der Ton, in dem die Geschichte geschrieben ist. Er erinnerte mich an etwas, ich kann es aber trotz intensiven Nachdenkens nicht benennen. Eventuell ein John Irving zu seiner besten Zeit (dazu passt auch der ungewöhnliche Tod Fritzis). Auf jeden Fall waren es dieser Ton, diese Sprache, die mich von Anfang an gefangen nahmen. Um sie genießen zu können, habe ich das Buch tatsächlich langsam gelesen, langsamer als ich so eine fantastische Geschichte normalerweise lesen würde.
Das Buch war mein drittes von Takis Würger. Die anderen habe ich gerne gelesen, Für Polina ist aber eine Klasse für sich. Ganz große Leseempfehlung!
Nach der Leseprobe hatte ich hohe Erwartungen an das Buch: Elena fährt mit ihrem sechsjährigen Sohn und ihrer Teenietochter nach Frankreich in ein Ferienhaus, eine Freundin der Tochter kommt ebenfalls mit. Der Mann bleibt zu Hause, er muss arbeiten. Auch mit von der Partie ist Eve, das Kindermädchen, nennen wir sie mal so. Gleich im ersten Kapitel werden gewisse Andeutungen gemacht, es scheint etwas in der Luft zu liegen. Das Haus gehört der Partnerin von Elenas Chefin; letztere ist auch Elenas Freundin. Vor Ort ist noch Ilya, eine Art Hausmeister. Irgendwann tauchen dann noch unangemeldete Besucher auf und die ganze Region wird von Waldbränden bedroht. Ach ja, und Handyempfang gibt es auch kaum.
Daraus hätte man echt was machen können, das hätte ein Kammerspiel sein können. Kein Thriller, aber ein feinsinniges psychologisches Spiel. Die Geschichte dümpelt dann aber nur so vor sich hin. Es wird vieles angedeutet, dann doch wieder fallen gelassen, ständig kommt neues dazu, woher plötzlich fragt man sich. Häufig mangelt es auch einfach an Kommunikation. Beim Lesen dacht ich manchmal, sie müssen doch jetzt schon länger als drei Wochen dort sein. Ich habe mich regelrecht gelangweilt. Zeitweilig hatte ich auch überlegt abzubrechen, wollte dann aber doch wissen, ob da noch etwas kommt (Spoiler: tut es nicht). Sprachlich mochte ich das Buch; das konnte aber leider den Rest nicht ausgleichen.
Was Katharina Hagena schreibt, entwickelt von der ersten Seite an eine Sogwirkung. Dies war schon bei Der Geschmack von Apfelkernen so, bei Flusslinien gelingt es ihr erneut. Wieder verbindet sie dabei geschickt unterschiedliche Generationen. Besonders gelungen ist ihr dabei die 102-jährige Margrit. Sie lebt in einer Seniorenresidenz an der Elbe. Ihre Zeit verbringt sie hauptsächlich im Römischen Garten. Dieser wurde vor vielen Jahren von Else Hoffa gestaltet, die eine Zeit die Geliebte von Margrits Mutter Johanne war. Margrit denkt viel über die Welt nach, ihre Gedanken nehmen dabei oftmals sehr interessante Formen an. Besonders über ihre Enkelin Luzie denkt sie nach. Luzie brach kurz nach ihrem achtzehnten Geburtstag die Schule ab und möchte nun als Tätowiererin arbeiten. Außerdem gibt es da noch Arthur, der Margrit und die anderen Senioren zu allerlei Terminen fährt. Auch seine Geschichte wird nach und nach erzählt.
In Rückblenden und Teil auch in Erzählungen (denn alle haben ihre Geheimnisse, die sie jedoch eigentlich nicht erzählen wollen), erfahren wir langsam, was sich wirklich zutrug. Besonders gelungen fand ich dabei, dass die Geschichten nicht vorhersehbar waren, es immer überraschende Wendungen gab, die aber keinesfalls unrealistisch wirkten. Gegen Ende befürchtete ich bei Margrits Plänen noch einen großen Showdown, das wurde jedoch wunderbar gelöst.
Für mich interessant war auch, dass ich für Margrit meist viel mehr Verständnis hatte als für Luzie, die mir altersmäßig deutlich näher ist. Vermutlich lag dies daran, dass Margrit für ihr Alter eine sehr fortschrittliche Person ist, dies auch ihr ganzes Leben war. Luzie dagegen ist eine typische Vertreterin ihrer Generation und dafür bin ich vielleicht schon wieder zu alt.
Flusslinien ist ein sehr gut und leicht lesbares Buch, dass ich nicht mehr aus der Hand legen wollte. Es lässt mich sehr zufrieden und glücklich zurück.
Ginsterburg ist eine fiktive Stadt irgendwo mitten in Deutschland. Arno Frank führt uns zu drei verschiedenen Zeitpunkten dorthin: 1935, zwei Jahre nach der Machtergreifung, 1940, noch relativ am Anfang des zweiten Weltkriegs, und schließlich 1945, als das Ende bereits naht. Dabei begleiten wir immer die gleichen Personen und verfolgen ihre Entwicklung. Da ist Merle, eine Buchhändlerin, die nicht besonders viel für das Regime übrig hat. Ihr zu Beginn dreizehnjähriger Sohn Lothar wird durch die Hitlerjugend vereinnahmt und möchte Pilot werden. Merle verbindet eine Leidenschaft mit Eugen, Journalist bei der Lokalzeitung und Mann ihrer besten Freundin, zunächst nur für Bücher, später auch körperlich. Merles Nachbarin ist leidenschaftliche Nationalsozialistin, auch wenn diese ihren geistig behinderten Sohn als „Ballastexistenz“ bezeichnen. Otto Gürckel nutzt die Gunst der Stunde, steigt zum Kreisleiter auf und verwendet seine Beziehungen, um das Familienunternehmen voranzubringen.
Anhand dieser und weiterer Personen zeigt Arno Frank exemplarisch und in einem Mikrokosmos die verschiedenen Persönlichkeiten, die ein solches System hervorbringt: Mitläufer, glühende Anhänger, Profiteure. Dabei drehen sich nicht wenige die Welt so, wie sie es gerade brauchen, um zusätzlichen Gewinn herauszuziehen. Gerade gegen Kriegsende, als vielen die ausweglose Lage bereits bewusst ist, wird dies noch einmal besonders deutlich.
Das tatsächliche Kriegsgeschehen und auch die Politik in Berlin scheinen von Ginsterburg weit weg zu sein. Doch auch dieser Ort wird von ihnen eingeholt. Im Vordergrund stehen dabei aber die zwischenmenschlichen Beziehungen.
Sprachlich ist Ginsterburg äußerst gelungen. Jede Figur hat ihren eigenen Ton. Auch die Beschreibungen der Stadt zwischendurch passen perfekt, sie lassen sie lebendig werden. Lediglich römische Zahlen sollte sich der Autor noch einmal genauer anschauen. MDXCVII ist nämlich nicht 1497, sondern 1597, aber das nur nebenbei.
Ich war zunächst sehr begeistert von Ginsterburg. Besonders die ersten beiden Teil lesen sich sehr gut. Im dritten Teil nimmt nicht nur der Kriegsverlauf eine Wendung, auch die Handlung schlägt häufig eine andere Richtung ein. Nicht alles davon fand ich erzählerisch gleich gut gelungen. Der Schluss ist relativ offen, aber dennoch passend. Was ich mir jedoch sehr gewünscht hätte, wäre ein Bezug zum zu Beginn des Romans erwähnten Wanderzirkuses gewesen. Dieser findet lediglich im 1940 spielenden Teil noch kurz Erwähnung, ist sonst aber komplett von der Bildfläche verschwunden.
Wie bewerte ich nun den Roman? Das fällt mir ehrlich gesagt etwas schwer. Ich mochte, es, dass nicht wie in anderen Romanen Gestapo, SS etc im Fokus stehen, sondern hier fast keine Rolle spielen. Gleichzeitig kamen gerade im letzten Teil einige Elemente hinzu, die alles ein wenig unglaubwürdig wirken ließen (die Marlene Dietrich-artige Rückkehr von Gürckels Frau, ein vierjähriges Mädchen, das Stimmen und Geräusche als Instrumente sieht und insgesamt wie ein deutlich älteres Kind spricht…). Mir ist nicht ganz klar, was der Autor hiermit bezwecken möchte.
Meine Erwartungen an den neuen Stuart Turton waren wahnsinnig hoch. Den Vorgänger Der Tod und das dunkle Meer habe ich regelrecht verschlungen und war extrem begeistert. The Last Murder at the End of the World wurde vom Autor als „wild“ bezeichnet. Wild trifft es tatsächlich, aber vor allem wild konstruiert.
Zum Setting möchte ich nicht zuviel verraten, daher nur ganz kurz: auf einer Insel leben 122 Bewohner und drei Wissenschaftler. Sie sind die letzten Überlebenden der Menschheit. Vor einigen Jahren rottete ein geheimnisvoller Nebel alles andere Leben aus. Nun wurde ein Wissenschaftler ermordet und es blieben nur wenige Stunden, um den Täter zu ermitteln und das endgültige Ende Menschheit zu verhindern.
Das klingt ein bisschen verrückt und ist auch ein Genremix aus Dystopie, Science Fiction und Murder Mystery. Es werden viele falsche Fährten gelegt und alles wird auch gut aufgelöst. Doch für mich war alles ein bisschen zu verrückt und zu konstruiert. Ich habe das Buch zwar gerne gelesen und es ist auch wirklich ein Pageturner. Für meinen Geschmack ging manches aber ein bisschen zu weit. Die Geschichte hat lediglich durch ein geschickt angelegtes Konstrukt Bestand, anderenfalls wäre sie zu simpel.
Auch wenn ich von diesem Buch ein wenig enttäuscht war, bin ich neugierig auf weitere Werke von Stuart Turton.
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