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nessabo

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Insgesamt 161 Bewertungen
Bewertung vom 12.05.2025
van der Wouden, Yael

In ihrem Haus


ausgezeichnet

Ein unglaubliches Werk, das persönlich erfahren werden muss

Ich bin lange um die Rezension herumgeschlichen, weil ich meine Faszination für dieses Buch gar nicht wirklich in Worte fassen kann. Dabei bin ich gar nicht so ein großer Fan historischer Romane, aber dieser ist einfach ein unglaubliches Werk, das völlig zu Recht für den Booker Prize nominiert war.

Zu Beginn dachte ich noch, das historische Setting um 1960 in den Niederlanden könnte mir zu langweilig sein - mehr hätte ich mich nicht täuschen können! Die Zeit ist meiner Meinung nach sehr akkurat abgebildet und mit der entsprechenden Sprache sowie Atmosphäre habe ich gerne mal meine Schwierigkeiten. Aber Yael van der Wouden hat mich so sehr in den Bann gezogen, dass ich quasi mit angehaltenem Atem gelesen habe.

Isabel wirkte mir am Anfang noch etwas distanziert und das ist sie ja schließlich auch, so isoliert wie sie lebt. Beim Lesen in ihrem Kopf zu sitzen war nicht immer einfach, aber sie kann als Protagonistin die Geschichte wirklich außerordentlich gut tragen. Eva hingegen ist eine unglaublich vielschichtige Figur, die so viel mit sich herumzutragen scheint und sich stückchenweise für uns Lesende entschlüsselt, dass ich nur von ihr schwärmen kann. Und nicht nur die beiden Figuren selbst sind für mein Empfinden makellos geschrieben, auch die Beziehungsdynamik zwischen den zwei Frauen sucht ihresgleichen in der Literatur.

Dabei ist die queere Anziehung mit all ihren Herausforderungen der damaligen Zeit so greifbar und echt beschrieben, dass mein Herz ordentlich mitgelitten hat. Die absolute Ambivalenz der inneren Gefühlswelt hat mich wirklich alles andere als kalt gelassen. Und doch ist der Roman noch so viel mehr, was hier unmöglich spoilerfrei beschrieben werden kann. Deshalb sage ich an der Stelle nur so viel: Das Erbe dieser Nachkriegszeit verwebt Eva und Isabel auf eine Art, die für mich schlicht beispiellos ist.

Eine sanfte und gleichzeitig harte Geschichte, die den Grat entlang möglicher Versöhnung in verschiedener Hinsicht auszuloten versucht und dabei auf mündige Leser*innen angewiesen ist. Denn dieser Pageturner ist keine passive Lektüre, sondern zerrt an den eigenen Überzeugungen. Die Spannung ist subtil und überlädt die feinen Zwischentöne nicht, von der Auflösung war ich trotzdem im positiven Sinne überwältigt.

Eine Ausnahmeautorin, die ich auf jeden Fall weiterverfolgen werde und ein Buch, das ich als eines meiner Jahreshighlights gar nicht ausdrücklich genug empfehlen kann.

Bewertung vom 12.05.2025
Hofmann, Madeleine

Trost


sehr gut

Ein etwas plätscherndes Werk mit umarmenden und mutmachenden Impulsen

Ich bin mit meiner Rezension dieses Buches sehr hin- und hergerissen. Die Autorin war mir persönlich sehr sympathisch und ich habe einen riesengroßen Respekt davor, sich so offen und verletzlich zu zeigen. Durch die immer wiederkehrenden Schilderungen ihrer eigenen Geschichte, die über die Krankheitsgeschichte hinausgeht, bleibt das Sachbuch emotional greifbar.

Außerdem bietet das Buch wirklich eine unglaubliche Sammlung an Impulsen und Ideen rund um ein Thema, dass uns alle in irgendeiner Form wohl schon betroffen hat und auf jeden Fall noch treffen wird: Trost. Ob tröstende oder getröstete Person - für beide Seiten sind hier unzählige Elemente dabei. Ich fand die Impulse rund um Aktivismus, aktives Zuhören beim Trösten und die tröstende Wirkung unserer tierischen Mitbewohner*innen (wobei ich hier auch tierrechtliche Kritik habe) am hilfreichsten. Weniger ansprechend war für mich wiederum alles rund um Spiritualität und Religion, aber das kann für andere natürlich einen sehr tröstenden Effekt haben.

Was mir das Lesen trotz der Tatsache, dass ich gerade wirklich Einiges an Trost gebrauchen könnte, schwer gemacht hat, ist die fehlende Struktur. Ich mochte die eher assoziativen Überschriften nicht so gerne und die Kapitel dazu sind auch relativ lang, während Hofmann viele verschiedene Themen behandeln. Dadurch entstand für mich nicht der Eindruck, dass es hier pro Kapitel zum Beispiel relativ klar um einen bestimmten Bereich geht. Das hätte mir beim Lesen aber auf jeden Fall geholfen, ggf. auch kürzere Kapitel. Innerhalb dieser springt die Autoren nämlich relativ oft zwischen verschiedenen Trostmöglichkeiten, den Gedanken öffentlicher Person sowie den eigenen Erfahrungen hin und her. An sich mag ich das Durchbrechen etwas trockener Theorie durch greifbare persönliche Erfahrungen und praktische Beispiele sehr gern. Hier hätte ich mir aber eine klarere Abgrenzung gewünscht, da ich zwischendrin immer wieder ein bisschen verloren war.

Das letzte Kapitel war wiederum ein wirklich sehr gut gewählter Abschluss für mich, die Kapitelbezeichnung traf es mit „Hoffen“ sehr gut. Die Sammlung von Möglichkeiten, die Hoffnung angesichts multipler Krisen nicht zu verlieren, eine tröstende Bezugsperson sowie sanft mit sich selbst zu sein, hat mir außerordentlich gut gefallen.

Die strukturelle Kritik oben reduziert zwar meine Bewertung, ich möchte aber trotzdem sagen, dass das natürlich eine sehr individuelle Präferenz meinerseits ist. Ich weiß an dem Buch sehr zu schätzen, dass es, und da bin ich mir sicher, für alle Menschen hilfreiche Gedanken bieten kann. Während mir manche Elemente eher egal waren, haben mich andere richtig aufgefangen und emotional sehr ergriffen. Diese werde ich also auch mitnehmen und noch in Zukunft über sie nachdenken, insgesamt ist es für mich aber nicht unbedingt ein Buch, das mich in Gänze nachhaltig beschäftigen wird.

Ich habe zu diesem Thema keine gute Vergleichsmöglichkeit, daher möchte ich das Buch trotzdem auch empfehlen - vor allem für Menschen, die sich gerne mit der schreibenden Person mitbewegen und nicht so sehr von einer Struktur abhängig sind. Die Schreibart ist weder zu trocken noch emotional zu überfordernd, von daher ist es grundsätzlich auf jeden Fall ein gut lesbares Werk, welches auch nicht zu lang ist und trotzdem tiefgründig.

3,5 ⭐️

Bewertung vom 12.05.2025
Yarros, Rebecca

Onyx Storm / Flammengeküsst Bd.3 (Deluxe-Ausgabe mit Farbschnitt)


sehr gut

Ein eher langsamer Mittelteil, in dem ich die Figuren aber besser fand

Ich fand die ersten beiden Teile sehr gut und konnte sie trotz einiger Kritik kaum aus der Hand legen, so sehr war ich gefesselt. Das habe ich mir entsprechend bei „Onyx Storm“ auch erhofft, aber nicht so ganz bekommen. Ich habe vier komplette Tage gebraucht, was mir für ein spannendes Fantasy-Buch wirklich zu lang ist. Die Cliffhanger zwischen den Kapiteln waren oft nichtig und nicht so gut gesetzt wie in den Vorgänger-Büchern. Auch der finale Cliffhanger macht mich jetzt ehrlicherweise nicht so fertig wie die der letzten Teile - das werte ich allerdings nicht als Kritik. 😃

Was mir dagegen richtig gut gefallen hat, war die Tiefe der Nebenfiguren. Ich kann persönlich nicht nachvollziehen, warum andere kritisieren, dass sie auch hier wieder blass waren. In meiner Wahrnehmung spielen sie eine deutlich größere Rolle als zuvor und bekommen überhaupt mal ein Profil. Die neuen Erzählperspektiven am Ende fand ich interessant, aber ehrlicherweise im Ton nicht so gut umgesetzt - für mich klang es immer wie eine leicht abgewandelte Version von Violet. Und doch finde ich es immer noch toll, dass hier verschiedene Identitäten einen Raum finden, ohne diese jeweils in den Mittelpunkt zu stellen. So wird z. B. oft darauf hingewiesen, dass auch gebärdet wird, was dieser Sprache eine angenehme Normalität verleiht. Richtig gut hat mir außerdem der sarkastische Humor gefallen, der die Komplexität dieser Welt doch deutlich auflockert. Und schließlich: endlich wieder richtig viel Drachen! 🫶🏻

Auch Violet als chronisch kranke Protagonistin finde ich noch immer gut. Natürlich haben wir hier einen Widerspruch insofern, dass Behinderung als eine Abweichung von der sogenannten Norm dargestellt wird, sie aber durch verschiedene Adaptionen doch wieder mit den nicht chronisch kranken Körpern mithalten soll, damit Violet dann doch die Mächtigste von allen ist. Und ich wüsste nicht, wie sich das sinnvoll auflösen ließe, wenn es halt eine Heldinnenstory sein soll. Ich finde es auch okay, wenn andere die Protagonistin nervig finden. Sich aber darüber zu beschweren, dass ihre Schmerzen wiederholt Raum einnehmen, halte ich für ableistisch.

Die Beziehung zwischen Violet und Xaden ist keinesfalls frei von Kritik, aber ich fand sie deutlich besser als in „Iron Flame“ - die Latte hängt hier aber auch tief! 🥴 Ich fand sie in ihrer Kommunikation erwachsener, auch wenn mir diese bedingungslose Obsession bei beiden ein bisschen auf die Nerven ging. Ebenso angestrengt war ich leider auch vom Spice. Ich glaube, Yarros hat hier ihr Pulver zu früh verschossen, sodass die 6szenen austauschbar und krampfhaft eingebunden wirken. Mehr Slowburn in den ersten beiden Teilen wäre wohl fies, aber insofern vielleicht besser gewesen.

Abschließend das, was ja auch schon viele vor mir kritisiert haben: Das Buch ist mir für seine Handlung einfach zu lang, 300 Seiten weniger hätten dem Text gut getan. Gerade der Anfang war für mich echt schwer und ich habe verhältnismäßig lange gebraucht, um wieder in die Geschichte einzusteigen. 
Es passiert phasenweise ziemlich wenig, gleichzeitig gibt es mir zu viele Figuren, Namen und Orte, als dass ich mich einfach so ins Buch hätte reinfallen lassen können. Immer wieder gibt es Cues oder Situationen, in denen sich Violet über irgendetwas „wundert“, ohne dass es dann weiterverfolgt wird - was soll das denn? Einige Hinweise wurden mir auch deutlich zu lange mitgeschleift, bevor sie zur Anwendung kamen. Manches schien mir zudem einfach unlogisch konstruiert. Wahrscheinlich ist das für einen Mittelteil aber auch vertretbar und ich gehe nun erstmal wohlwollend davon aus, dass Yarros die ganzen Hinweise für die folgenden Teile braucht.

Ich möchte also wirklich wissen, wie es weitergeht, auch wenn es bislang der schwächste Teil der Reihe ist. Und ich hoffe, dass die Autorin sich nun wie angekündigt mehr Zeit nimmt und die Handlung wieder strafft. Ein Dreiteiler wäre vielleicht auch ausreichend gewesen, zumindest mit allem, was wir bis hierhin wissen. Und bitte: erweitert die Karte, wenn neue Orte dazukommen - das war für mich schon arg frustrierend!

Bewertung vom 05.05.2025
Henry, Emily

Great Big Beautiful Life


ausgezeichnet

Zwei Geschichten in einer

Zu Emily Henry muss eigentlich gar nicht mehr viel gesagt werden. Für mich ist sie eine der besten Autorinnen des RomCom-Genres, bei der ich genau weiß, was ich bekomme: Spice, Liebe und einen außerordentlich tollen Humor. Deshalb stand es für mich auch gar nicht zur Debatte, ob ich ihren neuen Roman lese.

Und tatsächlich hat sie es geschafft, mich trotz meiner Erfahrung mit ihrem Werk ordentlich zu flashen! Sie ist für „Great Big Beautiful Life“ nämlich neue Wege gegangen, die sich zwar noch immer in der gewohnten Romance-Welt befinden, aber einen unerwarteten Spannungsbogen mit sich bringen.

Normalerweise sind die Tropes bei Romance ebenso vorhersehbar wie die Handlung - und das finde ich völlig in Ordnung. Ich weiß, dass am Ende alles gut sein wird und kann so der viel komplexeren Realität ein wenig entfliehen. Henry hat für ihr neuestes Buch den Trope „Griesgram trifft Sonnenschein“ gewählt. Nicht unbedingt mein liebster, aber sie löst es schnell genug auf und so war ich schon früh sehr glücklich mit den beiden Protas. Sowohl Alice, der Optimismus in Person, als auch Hayden sind grundlegend liebenswerte Figuren, die ich schnell ins Herz geschlossen habe. Sie begegnen einander nach anfänglicher Distanz mit viel Respekt und das lese ich immer gern.

Der Slow Burn ist der Autorin meiner Meinung nach auch extrem gut gelungen. Die hingeworfenen Häppchen fand ich perfekt dosiert und obwohl ich bei zu viel Slow auch gern mal vorblättere, hatte ich hier tatsächlich NICHT das Bedürfnis. 😅 Den Epilog fand ich etwas zu sehr Happy End, aber das ist mein einziger Kritikpunkt.

Ganz besonders an diesem Roman ist, dass es eigentlich zwei Geschichten in einer sind. Über die Gespräche von Alice als potenzielle Biografin mit Margaret Ives, Tochter einer skandalumwitterten reichen Familie und seit vielen Jahre selbstgewählt von der Bildfläche verschwunden, tauchen wir ein in deren Familiengeschichte voller Verstrickungen und Geheimnisse. Bis kurz vor Ende bleibt unklar, ob Margaret selbst eigentlich die (ganze) Wahrheit sagt, sodass die Spannung hier unglaublich gut aufrecht erhalten wird. Ich habe die Auflösung nicht kommen sehen!

Henry vereint Humor mit Ernsthaftigkeit und Spice mit Liebe - und bei letzterer ist erfrischenderweise auch die zentrale Romanze gar nicht mal so präsent, stattdessen geht es auch um Liebe zu Familienmitgliedern und Freund*innen. Außerdem wirft die Autorin ein gutes Schlaglicht auf den öffentlichen Umgang mit prominenten Menschen sowie die Instrumentalisierung deren Leben in der Presse.

Ich war dank der zwei sich parallel entwickelnden Geschichten von vorn bis hinten gefesselt, mochte das Pacing richtig gern und behalte das Buch als eines ihrer besten in sehr guter Erinnerung!

Bewertung vom 04.05.2025

Brüste


sehr gut

Interessant und vielfältig kuratierte Anthologie

Die von Linus Giese und Miku Sophie Kühmel herausgegebene Anthologie hat mir insgesamt sehr gut gefallen, weil ich sie vor allem gut zusammengestellt fand. „Brüste“ verstehen sich manchmal als ganz zentrales Thema der Beiträge und manchmal eher als Aufhänger für eine komplexere Betrachtung vergeschlechtlichter Körper. Das Weiterdenken hat mich manches Mal überrascht, meistens aber im positiven Sinne.

Wie für Essaysammlungen üblich gefielen mir manche Texte mehr als andere, weshalb ich für Anthologien auch bislang noch nie 5 Sterne vergeben habe. Ich habe mir bereits bekannte Autor*innen noch einmal neu kennen und umso mehr lieben gelernt. Daniela Dröscher beginnt die Sammlung mit vielen für mich sehr anregenden, manchmal auch aufwühlenden Fragmenten. Miku Sophie Kühmels Beitrag konnte ich ebenso fast körperlich nachfühlen. Gemeinsam mit Linus Giese gehören sie auch zu den Autor*innen, von denen ich sowieso gern lese, was sich hier noch einmal verfestigt hat.

Dann wiederum fand ich es einfach toll, dass Menschen verschiedener Geschlechter hier geschrieben haben und so auch trans* sowie nicht-binäre Perspektiven sehr viel Raum einnehmen. Sasha (im Buch noch Kirsten) Achtelik verwebt für mich so zum Beispiel sehr aufschlussreich gender affirming care für cis und trans* Personen miteinander, wodurch gesellschaftliche Absurditäten und Diskriminierung mehr als deutlich werden.

Gerade die stilistisch etwas experimentelleren Beiträge waren nicht so mein Fall, weil ich klare und persönliche Texte auch ganz generell schlicht greifbarer finde. Doch auch diese tragen zu einem runden Eindruck der Anthologie bei und haben mir ein komplexes Bild eines gesellschaftlich enervierend aufgeladenen Körperteils vermittelt. Manchmal war mir die Verbindung zum Titelthema ein wenig zu weit hergeholt und doch bin ich insgesamt zufrieden.

Die Textsammlung empfehle ich gern für eine kurzweilige Lektüre, die aber auch einige Impulse setzt und in gewisser Hinsicht noch in mir nachwirken wird.

Bewertung vom 01.05.2025
Fallwickl, Mareike

Liebe Jorinde oder Warum wir einen neuen Feminismus des Miteinanders brauchen


ausgezeichnet

Ich fasse mich kurz: Lesen!

Mareike Fallwickl gehört zu den Autor*innen, deren Werke ich immer sehr vertrauensvoll lese. Und sowieso mag ich die Reihe des Kjona-Verlags gern, in welcher verschiedenste Autor*innen kurze Texte an nachfolgende Generationen schreiben. Sie sind immer von einer ergreifenden Emotionalität und Hoffnung geprägt, obwohl sie nur etwa 70 Seiten umfassen.

Die Ausgabe von Fallwickl hat mir außerordentlich gut gefallen und einen sehr aktuellen Nerv getroffen. Sie richtet ihren Text zwar nicht direkt an eine nachfolgende Generation, sondern an die befreundete Regisseurin Jorinde Drüse, schafft es aber trotzdem, ihrer Hoffnung angesichts heranwachsender Menschen klar Ausdruck zu verleihen.

Die Autorin schreibt nahbar, emotional komplex und einfach unglaublich wohltuend, obwohl die Hintergründe so ernst sind. Vorrangig ist der Text ein Appell an den Feminismus - um wirklich das Patriarchat stürzen zu können, müssen Männer inkludiert werden. Dabei gelingt es ihr eindrücklich, den Druck zu benennen, der auf männlich sozialisierten Menschen liegt, sowie das damit einhergehende Leid, ohne jedoch eben diese Personen von ihrer Verantwortung freizusprechen. Feminist*innen dürfen Männer nicht ausschließen, aber ebenso darf es nicht an den Marginalisierten liegen, Wandel herbeizuführen - Männer müssen Männlichkeit selbst dekonstruieren und neu gestalten. Ein Grat, den ich selbst schwer zu treffen finde, weil ich oft so wütend auf cis Männer bin, ein ganzes Geschlecht aber auch nicht pauschalisieren möchte, zumal ich Geschlecht als Kategorie so gern dekonstruiert sähe.

Fallwickl mangelt es auch nicht an Wut und doch gehe ich aufgefangen aus der Lektüre heraus. Sie präsentiert uns eine Ambiguitätstoleranz, die ich oft vermisse und umso dringender suche. Sie appelliert und benennt klar, hat aber dennoch Raum für den Schmerz gerade junger Männer. Die Idee eines Feminismus des Miteinanders gefällt mir außerdem wirklich gut. Er ist, gerade als marginalisierte Person, aus vielerlei Gründen wahrscheinlich hart zu erkämpfen, aber ich stimme der Autorin klar zu insofern, dass das unsere beste Chance auf echte Veränderung ist: gemeinsam statt gegeneinander.

Eine wundervolle Autorin, deren Text mir gut getan und mich wütend gemacht hat, der aber zumindest ein wenig auch zu meiner Versöhnung mit cis Männern beitragen konnte. Lest es unbedingt als einen Impuls, der euch vielleicht fordern, aber bestimmt auch weiterbringen wird.

Bewertung vom 01.05.2025
Freytag, Anne

Blaues Wunder (MP3-Download)


ausgezeichnet

Oh, was für ein bitterböses und fesselndes Werk

Also, ich muss ja sagen, Anne Freytag hat mich hier von den Socken gehauen! Ich kenne die Autorin von ihren Jugendromanen und hatte da nur die sanften, manchmal traurigen Texte im Gedächtnis. Und dann ist „Blaues Wunder“ so ein messerscharfer Pageturner?! Ihr literarisches Werk reizt mich ab sofort sehr.

Für dieses Buch muss mensch sicherlich in Stimmung sein, aber ich möchte es dennoch allen ans Herz legen. Die Geschichte ist bitterböse, bissig ohne Ende und strotzt nur so vor Intrigen und Rachegelüsten. Wir begleiten die Ehefrauen von drei Männern, die beruflich miteinander verbunden sind: Walter als Chef und Ferdinand sowie Kilian als Anwärter auf den Chefsessel. Nora, Franziska und Rachel sind alle wohlhabend und teilen doch ein ähnliches Schicksal: verachtet, belächelt und unterschätzt. Freytag rückt diese Randfiguren nun ganz klar ins Zentrum ihres Romans - und wie sie das macht!

Der gemeinsame Kurzurlaub auf einer Yacht ist von Anfang an eine Farce. Dank der wechselnden Perspektiven lernen wir schnell, wie alle ein abgekartetes Spiel spielen. Ich habe mich zwischenzeitlich gefühlt wie in „Gossip Girl“! Der Roman ist außerdem extrem spannungsgeladen und bleibt bis zum Schluss fast thrillerhaft. Ich konnte nicht aufhören und bin wirklich von Anfang bis Ende begeistert! Und obwohl immer mal wieder kleine Hints eingestreut werden, war ich vom Schluss überrascht.

Einziges Manko und kleiner Abzug beim Hörbuch: Die Sprecherin war nicht ganz ein perfektes Match für mich. Außerdem fand ich es manchmal schwer, den Perspektivwechseln zu folgen, obwohl die jeweils erzählende Figur am Kapitelanfang vorgestellt wird. Deshalb stelle ich mir das Buch tatsächlich im gelesenen Zustand noch besser vor. Wobei die Sprecherin den bissigen Zynismus und Sarkasmus wirklich gut umgesetzt hat.

Freytag schreibt mit einer psychologischen Raffinesse, die süchtig macht. Klare Empfehlung für alle mit Lust auf female rage and revenge! Ich habe es sehr gefeiert, auch wenn es phasenweise harter Tobak ist.

4,5 ⭐️

Bewertung vom 01.05.2025
Bilkau, Kristine

Nebenan (MP3-Download)


ausgezeichnet

Ein ruhiges und spannendes Werk über menschliche Zwischentöne

Mir hat Kristine Bilkaus Roman richtig gut gefallen. Mit seinem ruhigen Ton erfüllt er genau das, was ich an norddeutschen Romanen so gern mag. Außerdem liebt die Autorin ihre Figuren spürbar und hat ein unglaubliches Talent für die Feinheiten menschlichen Lebens sowie menschlicher Beziehungen.

Ich würde wahrscheinlich empfehlen, das Buch nach Möglichkeit lieber zu lesen statt zu hören, da ich die wechselnde Erzählperspektive im Hörbuch nicht so gut umgesetzt fand. Hier wäre es sinnvoll, jedes neue Kapitel, in dem eine andere Figur erzählt, klar abzugrenzen. So bin ich leider ganz schön oft durcheinandergekommen.

Der Roman basiert auf den mysteriösen Umständen rund um ein verlassenes Haus, deren Spannung bis zum Ende nicht ganz aufgelöst wird. Ich persönlich fand das okay, denn das ist gar nicht der Punkt des Romans. Vielmehr geht es um verschiedene Herausforderungen menschlicher Existenz. Bilkau schafft es, die Komplexität des Lebens gut und einfühlsam abzubilden und schreibt dabei sehr unaufgeregt. So geht es zum Beispiel um [TW!] unfreiwillige Kinderlosigkeit, Fehlgeburt und die darauf folgende Isolation in unserer Gesellschaft. Es geht um Partner*innenschaften in sich verändernden Lebenslagen, andeutungsweise auch um häusliche Gewalt und einen möglichen Umgang mit entsprechenden Vermutungen.

Überhaupt steht Isolation immer wieder im Mittelpunkt der Handlung. Ganz zentral thematisiert die Autorin so auch den Verfall eines kleinen Ortes und wie infolgedessen viele Menschen, insbesondere junge und ältere, in die häusliche Isolation getrieben werden. Besonders positiv fiel mir Bilkau außerdem in ihrem Respekt jungen Menschen gegenüber auf. Gerade auch deren Räume müssen nämlich oft weichen, weil sie keinen Profit abwerfen, obwohl sie so immens wichtig sind.

Der Roman hat mich schnell für sich eingenommen, weil er es schafft, die Isolierung vieler Menschen abzubilden und sie doch gleichzeitig auch miteinander in eine zarte Verbindung zu bringen, da sich ihre Wege in dem kleinen Ort kreuzen. Er hat mich wieder einmal daran erinnert, dass alle Personen um mich herum ihre eigenen Herausforderungen mit sich tragen. Ein Buch, das ich nur empfehlen kann und bestimmt auch noch einmal lesen würde, weil es emotional lange in mir nachwirkt.

4,5 ⭐️

Bewertung vom 01.05.2025
Naumann, Laura

Haus aus Wind


gut

Konnte mich mit seiner Form und den Figuren leider nicht ganz überzeugen

Ich habe mir von diesem queeren Sommerroman, der doch Einiges an Tiefe versprach, ziemlich viel erhofft. Daher war ich recht ernüchtert, als sich bis etwa zur Hälfte einfach kein richtiger Lesefluss einstellen wollte. Vielleicht passte das Buch gerade nicht zu meiner Stimmung, vielleicht lag es aber auch an Stil und Figuren.

Gleich zu Beginn ist mir persönlich der häufige Sprachwechsel von deutsch zu englisch negativ aufgefallen. Das ist ohne Frage authentisch, ich finde es aber auch nicht besonders zugänglich. Menschen, deren Englisch nicht so gut ist, werden hier echt zu kämpfen haben, weil schon wirklich auch inhaltlich viel in dieser Sprache passiert. Mein Englisch ist sehr gut und trotzdem hat es mich jedes Mal kurz rausgeworfen. Das wird zum zähen Leseerlebnis beigetragen haben.

Johannas Innenleben und ihre Vergangenheit kennenzulernen (besonders auch ihre absolut furchtbaren Eltern), fand ich aber gut gestaltet. Ich denke, mir war der Text auch inhaltlich etwas zu schwer für meine aktuelle Stimmung, aber das möchte ich dem Buch nicht ankreiden. Denn ganz grundsätzlich bin ich sehr offen für ernste Themen und dem nimmt sich die Autorin auf jeden Fall mit viel Feingefühl an. Sie beschreibt zum Beispiel, dass 6uelle Übergriffe auch im queeren Bereich vorkommen können und ebenso ernstgenommen werden sollten.

Was mich jedoch deutlich gestört hat, waren die Figuren selbst bzw. der Umgang zwischen ihnen. Mir waren sowohl Johanna, als auch Luz und Robyn einfach zu distanziert und verschlossen, gefühlt habe ich sie alle drei nicht wirklich - auch in Interaktion miteinander. Dabei bringen alle drei wirklich spannende Vorgeschichten und Herausforderungen mit, etwa Luz als fremdgeoutete lesbische Profisurferin, die daraufhin ihre Karriere beenden musste. Auch einige kleinere Nebenfiguren fand ich interessant konstruiert. Ich habe gemerkt, dass die Autorin extrem informiert und diskriminierungssensibel ist - das hat mir sehr gut gefallen.

Marlene und Emília hätte ich gern noch viel besser kennengelernt, weil sie mir ein wenig von der Fürsorge und Wärme gegeben haben, die mir vorher fast kontinuierlich gefehlt hat. Ich denke, das ist einfach der größte Knackpunkt für mich - ich suche in queeren Geschichten immer auch Sanftheit und davon gab es für mich persönlich zu wenig. Die Figuren schienen mir überwiegend Einzelkämpfer*innen zu sein.

In jedem Fall ist der Roman stilistisch innovativ, wenn auch nicht ganz mein Geschmack. Außerdem ist es eine Geschichte über inneres Heilen, ohne dabei sonderlich geradlinig oder auch nur annähernd romantisierend zu sein. Johannas Schmerz ist greifbar und wer das in Kombination mit einem besonderen Stil gern begleiten will, wird hier gut beraten sein. Ich runde für die grundlegende Idee und Tiefe des Buchs auf 3 Sterne auf, auch wenn die Lektüre für mich ziemlich lang zäh war.

Bewertung vom 23.04.2025
Hasters, Alice

Identitätskrise


sehr gut

Verständlicher Gedankenanstoß rund um einen gesellschaftlichen Wandel

Mein Leseeindruck:

Ich mag Alice Hasters als Autorin für ihre klare, verständliche Art des Schreibens sowie das Vereinen von Eindringlichkeit und Unaufgeregtheit. Das erfüllt „Identitätskrise“ auf jeden Fall auch. Und doch tue ich mich etwas schwer mit meiner Rezension, weil ich den Punkt des Buches nicht so richtig greifen kann - aber vielleicht geht es genau darum.

Irritiert war ich bereits zu Beginn, als Hasters das 20. Jhd. als das tödlichste der Menschheitsgeschichte mit „Millionen Opfern rassistischer Gewalt“ bezeichnet. Für mich klingt es hier und auch später noch einmal so, als würde sie Antisemitismus in Rassismus eingliedern, was faktisch absolut inkorrekt ist. Antisemitismus liegt ein Glaube an übermächtige Juden*Jüdinnen zugrunde, welchen mensch entgegentreten muss - daher ist Antisemitismus auch so oft Anknüpfungspunkt für Verschwörungserzählungen. Andere Diskriminierungsformen wirken dagegen insofern, dass sie die marginalisierte Gruppe abwerten und deshalb auslöschen wollen. Das Ergebnis ist natürlich das gleiche, aber der Ausgangspunkt verschieden. Damit möchte ich selbstverständlich keins von beiden irgendwie kleiner reden, mir geht es lediglich um die sprachliche Abgrenzung, welcher der Autorin am Ende dann auch doch nachkommt. Somit weiß ich einfach nicht so recht, was ich davon halten soll.

Abgesehen davon findet sich in diesem Buch viel Grundlegendes und manch Persönliches. Die Autorin schreibt zwar verständlich, aber auch etwas sprunghaft. Bis zum Ende hin fiel es mir schwer, ein konkretes Fazit aus dem Buch mitzunehmen außer: Der Westen funktioniert so nicht (mehr). Das war mir vorher schon bewusst und doch fand ich die Herleitung über verschiedene Identitätskrisen und warum es deshalb so schwer ist, bei privilegierten Menschen Verständnis und Veränderung zu erwirken, interessant. „Identitätskrise“ würde ich als eingängiges Einstiegswerk einordnen, in dem Hasters die Fakten mit der nötigen Eindringlichkeit darbietet. Den kürzeren zweiten Teil fand ich in der Idee gut und er hat das Schwere aus dem ersten Teil durch bissige Ironie und verschiedene Erzähltöne angenehm aufgelockert. Einerseits fehlte mir auch hier ein wenig Struktur, andererseits weist die Autorin hier auch völlig berechtigt auf die Notwendigkeit von mehr Ambiguitätstoleranz hin, sodass ich diese Gedankensammlung in ihrer Form passend finde.

Ich empfehle es durchaus für alle, die sich grundlegend über strukturelle Zusammenhänge informieren wollen.

3,5 ⭐️

Was ich besonders interessant fand:

Aufschlussreich war für mich, noch einmal das fatale Wechselspiel von Kapitalismus und Demokratie aufgezeigt zu bekommen. Im Gegensatz zu Autokratien soll in einer Demokratie von der Gesellschaft selbst entschieden werden. Grundlage dafür ist natürlich eine entsprechende Freiheit und Identitätsklarheit. Und hier kommt Kapitalismus als „stabilisierende“ Komponente ins Spiel - er soll durch ein breites Angebot die absolute (Wahl-)Freiheit garantieren. Dass das so nicht funktioniert und mittelfristig zu mehr Unfreiheit führt, dürfte mittlerweile hoffentlich vielen Menschen bewusst sein.

„Wohlstand für alle“ mag eine nette Idee sein, die aber nicht mit einem kapitalistischen System (das immer auf Ausbeutung beruht) vereinbar ist und in der Vergangenheit auch noch nie funktioniert hat. Denn Selbstverwirklichung wird immer proklamiert, doch auch hier geht die Rechnung strukturell nicht auf, denn irgendwer muss ja auch die unbeliebten Jobs machen.

Gleichberechtigung bedroht in vielerlei Hinsicht westliche Identitäten - ob Weiße oder cis Männer, ob hetero oder nicht-behindert. Denn wenn tatsächliche Gleichberechtigung geschaffen würde, würden sich die bisherigen Identitäten, die stets in Abgrenzung und konstruierter Überlegenheit zu anderen existieren, in Luft auflösen und das ist mental herausfordernd.

Auch die westliche Selbsterzählung rund um Innovation und Fortschritt wankt, wenn der Fortschritt nicht zum Nutzen echter Menschen passiert (z. B. Arbeitszeitverkürzung durch Maschinenunterstützung). Wie kann sich der Westen diese Erzählung von Freiheit eigentlich noch selbst glauben, wenn Technologien Menschen eher noch unfreier machen und den Weg ebnen für autoritäre Kräfte?