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rockchickdeluxe

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Insgesamt 38 Bewertungen
Bewertung vom 02.09.2025
Roeder, Annette

Frag Philomena Freud (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Spinnen, Freundschaft und Verbechen in Wien

Ach, wie gerne höre ich den Wiener Schmäh! Dieser Dialekt ist so eigen, dass er fast schon eine eigene Sprache ist. All diese Wörter, die es nur dort gibt! Ist es nicht faszinierend, dass Bücher Dich sofort in eine Welt mitnehmen können und nach einer Seite bist Du mittendrin und fühlst Dich, als erwachtest Du in einer Filmkulisse? Du stehst in den Wiener Gassen in den 1920er-Jahren, um Dich herum Automobile, Kopfsteinpflaster, die Damen und Herren der feinen Gesellschaft.

Da erscheint auch schon die Heldin, Philomena Freud, 14 Jahre alt, Schuhputzerin vor der Praxis des berühmten Psychotherapeuten. Als der Tochter ihrer Gönnerin ein Mord untergeschoben wird, macht Philomena es sich zur Aufgabe, das Gegenteil zu beweisen. Sie wird zur mutigen Detektivin zwischen Machtspielen, Geheimnissen und den Gesellschaftsschichten.

«Frag Philomena Freud» ist ein Krimi an einem historischen Schauplatz, der alles mitbringt, was eine spannende Geschichte braucht. Eine Protagonistin am Rande der Gesellschaft, die unerschrockene Alsergrundbande, einen gutmütigen Wachtmeister, Intrigen, eine falsche Fährte, einen Hund als treuen Gefährten, der eine wichtige Rolle spielt, brenzlige Situationen und natürlich Freunde, die für dich durchs Feuer gehen. Das ist Cosy Crime von Feinsten! Ohne Anspruch auf kriminalistische Genauigkeit und genau passend für die Altersgruppe. Literarisch hochwertig und sehr unterhaltsam.

Ich hab Philomena Freud gerne gelesen und kann mir gut vorstellen, dass sie weitere Fälle im Wien des letzten Jahrhunderts lösen wird, immer leicht zu lesen aber dennoch mit viel Tiefgang. Ein tolles Buch mit wunderbar illustriertem Cover für die ganze Familie.

Bewertung vom 30.08.2025
Bach, Kathrin;Voland & Quist

Lebensversicherung


gut

Ha, willkommen in meiner Welt!
Wie, Du hast keine Rentenversicherung? Du hast keine Berufsunfähigkeitsversicherung? Das könnte ich ja nicht! Selbstständig arbeiten? Das wäre mir zu unsicher. Du arbeitest nicht jeden Tag? Hast Du denn genug Geld?
-Danke, Zeit ist mir wichtiger als Geld
Ja, wenn es denn reicht? Aber du musst ja auch für dich vorsorgen!

Wildfremde Menschen, mit denen ich gerade mal 5 Minuten spreche, nehmen sich die Übergriffkeit heraus, mich mit all diesen Äußerungen zu belästigen.

Aber Sicherheit ist dem durchschnittlichen Deutschen wichtiger als Glück, Freiheit, Gesundheit. Und dies führt dazu, dass ich seit vielen Jahren Meinungen höre, ohne danach gefragt zu haben. Stellt euch vor, ich würde durch die Welt laufen, und allen erzählen, was ich von ihrem Leben halte.

Ohne Angst lässt sich nichts verkaufen. Keine Politik und keine Versicherung. Scheinbar satirisch nimmt der Roman von Kathrin Bach diesen Umstand aufs Korn. Doch unter der Ironie lauert ein Trauma als vielarmige Krake, die die versicherte Welt zersetzt.

Der Wunsch, sich gegen alles zu versichern, ist groß. Doch gegen das Leben kann sich niemand versichern. Und so ist Lebensversicherung ein Appell an das Leben. An den Mut, die Freude, das Loslassen von Angst.

Die Lektüre hat mir Spaß gemacht. Der Text zoomt in die Verhältnisse eines kleinen, hessischen Dorfs, indem jeder alles über den anderen weiß. Je weiter wir kommen, desto mehr Risse bekommt die Fassade.

Ich bin mir nicht sicher, ob dies ein Kandidat für die Shortlist ist, aber es lässt sich hervorragend lesen und zeigte unerwartete Parallelen zu meinem Leben.

Bewertung vom 28.08.2025
Erdmann, Kaleb

Die Ausweichschule


ausgezeichnet

Der Roman von Kaleb Erdmann ist ein ganz grosser Wurf. Der Autor flicht Erinnerungen, gesellschaftskritische Betrachtungen, philosophische Reflexionen, Dialoge, Zeitzeugenberichte und fiktionale Erzählungen gekonnt ineinander, so dass ein Mosaik aus unglaublich vielen Teilen entsteht, die die vielen Schichten eines tragischen und traumatischen Ereignisses bilden.

Er versucht, das Unsagbare greifbar zu machen. Kaleb Erdmann erlebte als Elfjähriger den Amoklauf vom Erfurter Gutenberg-Gymnasium. Zwei Jahrzehnte später ist er erneut konfrontiert mit diesem Tag, an dem 16 Menschen starben. Aber dies ist kein Tatsachenbericht. Es ist auch keine Nacherzählung. Es ist tatsächlich eher ein Mosaik, gebaut aus zahlreichen Gefühlen und Erzähltechniken.

Da sind Schuldgefühle, Hilflosigkeit, der Wunsch nach Verdrängung, aber dennoch das Streben nach Aufarbeitung. Ganz stark sind die Dialoge mit seiner Freundin Hatice, einer taffen und coolen junge Frau, die ihm als schonungslose Duellpartnerin bei Reflexionen und der Suche nach Wegen aus den Gedankenfallen gegenüber steht.

Es gibt Rückblenden in die Schulzeit und die schrecklichen Stunden des 26. April 2002. Ihnen gegenüber steht der Versuch des Erzählers, des Trauma durch einen Roman und durch Gespräche zu verarbeiten. Mit seiner Mutter, mit seiner Freundin, seiner Psychotherapeutin, dem Dramatiker, einem alten Klassenkameraden. Er liest das Protokoll der Tat und wendet sich genauso dem Täter zu. Das ist Autofiktion, essayistisches Erzählen, philosophische Betrachtung.

Wer hat das Recht, darüber zu schreiben? Darf der Amoklauf als Theaterstück aufgearbeitet werden? Gibt es Schuld? Was ist Erinnerung? Und wann ist eine Erzählung eine Erinnerung? Gibt es Worte für das Unsagbare? Können Fragmente ein Ganzes ergeben? Welche Rolle darf Literatur bei der Bewältigung kollektiver Traumata spielen und welche Narben hinterlassen sie im kulturellen Gedächtnis?

Dies ist eine intensive Auseinandersetzung und gleichzeitig ein tief berührender persönlicher Bericht. Es ist grosse Literatur und bietet durch originelle und präzise Dialoge und einen Autor, der sich schonungslos in seiner ganzen Fragilität zeigt, ganz viele Anknüpfungspunkte, die noch lange nachhallen.

Ich drücke die Daumen für den Buchpreis und sehe hier einen ganz klaren Favoriten auf den Titel!

Bewertung vom 27.08.2025
Biedermann, Nelio

Lázár


ausgezeichnet

Lázár ist sprachgewaltig, melancholisch, traurig, farbenfroh, naturverbunden, voller Hoffnung und ein so grandioser Debütroman, dass ich ihn nicht aus der Hand legen konnte. Nelio Biedermann ist 22 Jahre alt und schreibt mit der ganzen Weisheit der Welt in seiner Feder. Was für ein Schriftsteller!
Wie kann ein so junger Mensch diese Sätze verfassen! Es gibt so Menschen, Mozart, den Dalai Lama und anscheinend diesen jungen Schweizer Autor.
Ich bin Fan.
Lazar ist eine Familiengeschichte über mehrere Generationen, die Charaktere sind absolut liebenswert und dabei total unangepasst. Die einzelnen Szenen folgen wie Filmsequenzen aufeinander und beleuchten detailreich das, was das Leben zwischen Krieg, Revolution, Erwachsenwerden, Leben und adliger Abstammung im grausamen 20. Jahrhundert auf sie geworfen hat. Das ist in großen Teilen realistisch, doch in dieser Familie sind auch die Geister nie fern, und deshalb weben sich die Träume spinnwebfein in die Gedanken und die Erfahrungen.

Im Blurb von Daniel Kehlmann steht, hier betritt ein wirklich großer Schriftsteller die Bühne, im Vollbesitz seiner Fähigkeiten. Treffender lässt es sich kaum ausdrücken.

Was für eine wunderbare Sprache! Das ist ein literarisches Meisterwerk, trotz der Brutalität, der Härte, der Selbstzweifel der Figuren und dem Strudel der Zeit ist der Ausdruck poetisch, leicht, packend, voller Kunstfertigkeit, präzise und absolut einzigartig. So wie Pista die Architektur in Budapest empfindet: schmerzhaft schön.

Ich bin beglückt.

Bewertung vom 25.08.2025
Sauzereau, Olivier

Jules Verne


sehr gut

Olivier Sauzereau ist Forscher. Und seit seiner Kindheit begeistert von Jules Vernes. Er ist Weltreisender und Fotograf, Gastforscher an der Universität Nantes und engagiert sich für den Erhalt des wissenschaftlichen Erbes von Nantes und der Region. Wyllow ist ein begnadeter Illustrator. Hier haben wir das Beste aus allen Welten: Eine ästhetische Graphic Novel, die von der großen Liebe zu einem außergewöhnlichen Schriftsteller erzählt und die großen Abenteuerromane der Weltliteratur feiert. Welch ein Juwel!

Eindrucksvoll verschmelzen historische Belege und fiktive Dialoge, Zeitgeschichte und Orte aus den Werken Jules Vernes. Die Graphic Novel sucht nach den Träumen Jules Vernes und findet dabei eine ganz eigene wunderbare Sprache zwischen grafischen Elementen, Atmosphäre, Erzählung, Aufzeichnungen des großen Franzosen und historischen Belegen.

Jules wird hineingeboren in eine Zeit großer technischer Entwicklungen und die Blütezeit des Wissenschaftsjournalismus. Er sollte Jurist werden, doch von Anfang an dachte er sich Geschichten aus und war begeistert von der Kraft der Fantasie. Er erlebt die Erfindung der Dampfschifffahrt und der Daguerreotypie, die Einweihung von Eisenbahnlinien und die Reisen von Darwin. Zeitlebens liebt der das Meer, magisch angezogen von den Schiffen, dem Duft der Gewürze und den Träumen von großen Abenteuern.

Besonders beeindruckend sind seine Recherchequalitäten geschildert, sein Entdeckerdrang, seine Reisen. Die Wissenschaft wurde dem Volk über Romane nähergebracht und war so realistisch geschildert, dass die Romane anfangs für Tatsachenberichte gehalten wurden.

Wir folgen wir Jules Verne durch seine biographischen Stationen. Der Erzählstil wechselt zwischen historischer Erzählung, die sehr anschaulich und liebevoll gesetzt und illustriert sind und der klassischen Graphic Novel. Das ist abwechslungsreich und unterhaltsam und ganz wunderbar. Dieses reiche Leben! Die unbedingte Liebe zur Literatur!

Bewertung vom 24.08.2025
Wagner, Jan Costin

Eden


ausgezeichnet

Miteinander trotz sagenhafter Differenzen

Wütend sein, traurig, verzweifelt, sprachlos, machtlos, verwirrt, verständnislos, distanziert. Suchen nach Gründen, nach Lösungen, nach Inseln, nach Rückzugsorten, nach Antworten, nach Wegen, nach Zeitsprüngen, nach der Zukunft, nach der Gegenwart.

Menschen sind schnell dabei, Schuld zuzuweisen und Rollen festzulegen. Es ist leicht, eine*n Täter*in zu bestimmen und ein Opfer. Der persönliche Schmerz übernimmt die Führung, das Handeln wird eine Reaktion, keine Aktion.

Und dann gibt es noch diejenigen, die, obwohl sie selbst betroffen sind, nach Antworten suchen, die hinter dem eigenen Horizont liegen. Sie wollen verstehen, das ganze Bild erfassen und urteilen, aber nicht verurteilen. Wie der Vater des Opfers und der beste Freund.

Mit #Eden liegt ein starker Roman vor. Unbequem, weitsichtig, sprachgewaltig ob der Sprachlosigkeit. Es geht um die ganz großen Themen: Diskursfähigkeit in Zeiten populistischer Phrasen. Annäherung, obwohl die Distanz unüberwindbar scheint. Die Sprache spielt immer wieder mit diesem Wechsel aus Nähe und Distanz, Lärm und Stille, Dunkelheit auf der einen Seite, Licht und Farben auf der anderen. Albträume, Stille und das Hilflose sind grau, das Bewusste und Interaktive ist bunt. Wer mittendrin ist, ist zu nah dran, um etwas erkennen zu können, muss Distanz schaffen.

Der Alkoholismus der Mutter, die Nazi-Parolen des Vaters sind hohl und zerstörerisch. Alles, was anders ist, bereichert und verstehen hilft, ist freudig und farbig.

In der Romanbeschreibung steht, es geht um Instrumentalisierung, politische Einflussnahme, gesellschaftliche Kluften. Ja. Aber es geht auch darum, dass es die 12-jährigen sind, die die Welt neu denken und das Miteinander verändern. Sie verstehen, dass dezidierte Debatten wichtig sind und ein soziales Miteinander, trotz aller Differenzen. Sie sind diejenigen, die sich erwachsen verhalten, während die Erwachsenen in den emotionalen Mustern von Kindern feststecken.

Eden ist ein ganz starker Roman, der mich an «Die spürst Du nicht» erinnert hat aber auch an Ferdinand von Schirach. Mit einer ganz eigenen Sprache und viel Schönheit im Angesicht des Grauens. Ich mochte ihn sehr und schätze seine aktuelle Relevanz sehr.

Bewertung vom 13.08.2025
Marfutova, Yulia

Eine Chance ist ein höchstens spatzengroßer Vogel


ausgezeichnet

Marfutova, Yulia
Eine Chance ist ein höchsten spatzengroßer Vogel

… und Marina ergreift diese Chance. Sie möchte von Anfang an weggehen, und erst nach und nach lernt sie, dass die jüdische Herkunft ihrer Mutter ihr dabei helfen könnte. Es fallen Wörter wie Zionismus und Antizionismus, Perestrojka und und Sochnut.

Je nach Erzählperspektive wird die Sprache intellektuell, naiv, manchmal auch zum inneren Monolog. Die Sprache greift so virtuos ineinander wie die Zeitebenen. Denn Zeit ist ja niemals linear, es ist immer eine Gleichzeitigkeit. Das Vergangene ist nie vergangen, es ist immer bei uns. So wie die Geister in der Zeit, die Stimmen, die verschiedenen Akteure.

Da sind die Mäuse, sie erzählen die Geschichte. Denn wer soll sie sonst erzählen, die Geschichten, wenn nicht die Mäuse, die sich so schmal machen können, dass sie durch die kleinsten Ritzen gelangen? (S. 97)
Sie erzählen, uns, 17, 16 und 10, von Marina und ihrer Mutter Nina, von Vera und ihrem Vater, der die Lampe genannt wird, weil er nicht sprechen und nicht aufstehen kann. Sie erzählen von den 1980er-Jahren in der Sowjetunion und der jüdisch-russischen Familiengeschichte. Die Mäuse müssen erzählen, denn Nina, Marinas Mutter, sagt kein Wort.

Ist alles wahr? Kann das alles so gewesen sein? Es gibt keinen kongruenten Erzählstrang, es sind Stückchen, die uns hingeworfen werden, aus denen sich ein Bild zusammensetzt. Aus desolaten Verhältnissen, Hoffnung, dem festen Glauben an die Träume und die Geister. Dazwischen ist eine junge Frau, die ihre Stimme und ihren Weg sucht, fest gewillt die spatzengroße Chance zu ergreifen, sobald sie sich zeigt.

Dieser kurze Roman ist Migrationsgeschichte, hohe Erzählkunst und Experiment. Wie kann die Erzählung der Vergangenheit funktionieren, wann ist es Fiktion und wann kann es wahr sein? Dabei entsteht so viel Raum für Assoziationen und Interpretationen, für Freude an der Sprache und fürs Recherchieren. Der Text fordert sogar explizit dazu auf.

Der Anfang war etwas hakelig, aber dann war ich voll im Buch. das ist die schönste Form von Sprache, Emotion, Magie und der Härte des Lebens. Traurig, humorvoll, hart, perspektivisch spannend und so vielschichtig, wie das Leben eben ist.

Bewertung vom 03.08.2025
Kloeble, Christopher

Durch das Raue zu den Sternen


ausgezeichnet

Arkadia Fink ist rebellisch und zart, voller Energie, Selbstbewusstsein und Schmerz. Ihre Mutter verschwand, und sie weiß, dass sie im Knabenchor singen muss, damit ihre Mutter sie hört und zurückkommt. Wie wahrscheinlich ist das im bayrischen Bergdorf?

Auf wieviel Widerstand stößt eine junge Frau, die mehr sein will, als die gesellschaftlichen Normen vorgeben? Das ist 1595, zu Zeiten von Molls Großmutter mit den 12 Urs genau das gleiche wie heute. Eine Frau, die mehr vom Leben forderte als andere - nicht nur als andere Frauen, sondern sogar als Männer. Eine solche Frau lebte gefährlich. Unser Dorf verstand sie nicht. 1595 endete die Hexenjagd mit dem Feuer.

Bei Arkadia, genannt Moll, sieht es anders aus. Sie stürzt sich in feinsinnige Ironie, umfassende Traurigkeit, die abgrundtiefe und unbändige Liebe zur Musik und in den inneren Widerstand. Sie erträgt die Hänseleien, de Gewaltausbrüche ihres Vaters, die Ignoranz der Pentatoniker und die Stumpfheit der anderen. Sie lebt für und durch die Musik.

Dabei geht sie ihren ureigenen Weg. Selbst die ihr Wohlgesonnenen suggerieren, sie würde sich daran gewöhnen, als Frau ihr Frausein zu verleugnen, um in einer Männerwelt anerkannt zu werden. Aber Moll geht den unbequemen Weg. Ohne sich selbst zu belügen und ohne Kompromisse. Auch dann, wenn es wehtut.

Die fünfte Sinfonie Beethovens birgt eine der wichtigsten Lektionen des Lebens: per aspera ad astra. Durch das Raue zu den Sternen. Die Entwicklung von c-Moll zum Finale in C-Dur. Aus etwas Kleinem kann etwas ganz Großes werden.

Moll ist klug, unabhängig, unbeugsam und voller Stolz. Sie ist die, die ich mit 13 gerne gewesen wäre und noch viel mehr. Durch das Raue zu den Sternen ist wunderbar, ließ mich lachen und weinen und hoffen und die ganze Schönheit der Welt umarmen. So unbeschreiblich wie die Kraft der Musik und die Kunst und die Sprache und das Licht in den Bäumen.

Bewertung vom 03.08.2025
Kitamura, Katie

Die Probe


sehr gut

Die Probe lese ich, als der Roman auf der Longlist für den Booker Prize steht. Hier finden sich sprachlich anspruchsvolle Werke, die neue Perspektiven öffnen. Der Roman findet sich auf dieser Liste also zurecht.

In der Probe treffen vor allem Vorstellungskräfte aufeinander, Ideen, wie Wirklichkeit zu denken ist und wie flexibel wir mit unserer Vorstellung von der Welt umgehen können und wollen. Da geht es einerseits um Resilienz, vor allem aber um die Frage, wer wir innerhalb unserer Beziehungen füreinander sind.

Menschen spielen Rollen, sind Projektionsflächen für das Gegenüber, haben selbst Ideen von sich, wer sie sein wollen und wer sie glauben zu sein.

Die Vorstellungen von der Realität verschwimmen bei Kitamura mit der Fiktion, die Figuren haben klar umrissene Charaktereigenschaften, aber sie spielen auch Rollen. Und diese Rollen löschen die Persönlichkeit gewissermassen aus. Denn es sind Stereotype. Wer Stereotypen erfüllt, wird gesehen, weil die Person sich nur so der Allgemeinheit einprägen kann. Besonders, wenn es sich um eine Frau handelt.

Was ist also Fantasie? Was echt? Auch Beziehungen erweisen sich als Ideen, an die wir glauben. Ein Beziehungsgeflecht lebt von gemeinsamen Glaubenssätzen. Was verändert sich, wenn wir von anderen Voraussetzungen und Glaubenssätzen ausgehen?

Der/die Leser*in geht mit auf eine Gratwanderung zwischen Philosophie, Soziologie, kollektivem Bewusstsein und Wahrnehmung. Zwischen gesellschaftlichen Normen und individuellen Ansprüchen. Wie weit kann eine Frau gehen, wenn sie mehr vom Leben will?

Ganz nebenbei werden hier patriarchale Strukturen thematisiert und abstrakte Räume, die uns als feste Konstrukte nahegebracht werden, sinnentleert.

Das gelingt sprachlich beeindruckend, verstörend logisch, philosophisch weitsichtig, von einer starken Protagonistin getragen.

Bewertung vom 28.07.2025
Hauff, Kristina

Schattengrünes Tal


gut

Lisa und Simon leben mitten im Schwarzwald, er ist Förster und sie arbeitet in der Touristeninformation. Nicht nur dort hilft sie den Menschen weiter, Lisa ist ein Mensch, dessen Berufung es scheint, anderen zu helfen. Bis zur Selbstaufopferung springt sie ein, wo Not am Mann ist und steht allen mit Rat und Tat zur Seite. Simon ist das längst zu viel, denn auch von ihrem Vater lässt Lisa sich nur zu gerne ausnutzen. Denn das familiengeführte Hotel läuft längst nicht mehr gut. Nur wenige Stammgäste kommen noch.

Und dann taucht Daniela auf. Sie ist eine Fremde, die schutzbedürftig wirkt und das Etikett «Opfer» wie einen Mantel trägt. Sie präsentiert sich als verletzlich, doch gleichzeitig umwittert die Frau ein Geheimnis. Lisa nimmt sich natürlich ihrer an.

Zeitgleich geschehen seltsame Dinge. Simon erhält mysteriöse Nachrichten von jemandem, der ihn gut zu kennen scheint.

Schnell blüht Daniela auf, breitet sich aus, nimmt für das Verständnis von Margret, die Lisas Vater schon lange innig zugetan ist und das Hotel am Laufen hält, schon bald zu viel Raum ein. Während Daniela Lisas Umfeld für sich einnimmt, wendet sich Lisas beste Freundin von ihr ab, sogar ihr Mann Simon geht auf Abstand. Genauso wie die Schatten länger werden und die Kälte in das Tal Einzug hält, scheinen Lisas Glaubenssätze komplett auf den Kopf gestellt zu werden.

Sind es wirklich die anderen, die sie brauchen? Oder ist es vielmehr sie, die ihre Bestätigung daraus zieht, dass sie meint, anderen helfen zu können? Ist alles kaputt oder war dies die entscheidende Zeit im Leben, die ein Weckruf sein kann, um alte Ängste abzulegen und die Geschichten, die wir uns erzählen, umzuschreiben?

Erneut greift Kristina Hauff zu klaren Sätzen und einer schnörkellosen Sprache, um das Unbehagen zu schüren. Die Sprache kommt ohne viele Adjektive aus und entwickelt schnell eine soghafte Spannung. Jeder Charakter ist vielschichtig angelegt und verfolgt entweder deutlich erkennbar oder ganz subtil seine eigenen Ziele. Es macht Spaß, der Interaktion zu folgen und immer tiefer in das toxische Geflecht einzutauchen.

Wer kennt sie nicht, diese Gäste, die sich von der Party verabschieden und dann noch eine halbe Stunde im Flur stehen und immer noch kein Ende finden. Genauso empfand ich leider den vierten Teil des Romans. Ich hätte mir mehr bleibende Verstörung beim Zuschlagen des Buches gewünscht und weniger Konkretisierung. Doch das ist vielleicht eine Frage der Erwartung an einen Thriller.